Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

10 MEINUNG & DEBATTE Samstag, 9. November 2019


KARIKATUR DER WOCHE


Risse im Dogma von einem möglichst freien Welthandel


Das billigste


ist das dreckigste Soja


Gastkommentar
von WOLFGANG KESSLER

Sieht man einmal vom «America-first-Protektio-
nisten» DonaldTr ump ab, propagieren internatio-
nalePolitik,Wirtschaft undWissenschaft in derRe-
gel einen möglichst freienWelthandel. Die Begrün-
dung:Wenn jedesLand die Stärken der eigenen
ÖkonomieaufdemWeltmarkt ausspielen kann,
dann bringt das mehrWohlstand für alle.Verkannt
werden dabei die wachsenden ökologischenKos-
ten: DerWelthandel heizt das Klima auf und trägt
weltweit zur Zerstörung der Umweltbei.Dasgilt
umso mehr, als Klima- und Umweltschutz beiFrei-
handelsabkommen oder bei derWelthandelsorga-
nisation (WTO) bisher kaum eineRolle spielten.
Dabei stellte die Uno-Konferenz für Handel und
Entwicklung (Unctad) schon 20 14 in einer Studie
über die «neue Klimaökonomie» fest, dass knapp
einViertel allerTr eibhausgasemissionen auf die
internationalenWarenströme zurückzuführen ist.
Eine wichtige Quelle für denAusstoss vonTr eib-
hausgasen ist derTr ansport per Schiff oder Flug-
zeug. Nach Angaben der Europäischen Union steu-
ern Flugzeuge und Schiffe derzeit etwa 9 Prozent
allerKohlendioxidemissionen weltweit bei.Wächst
derWelthandel unter den gleichenRahmenbedin-
gungen weiter, dann sollenes 2030 rund 17 Prozent
sein, schreibt die EU. Hinzukommt die Luftver-
schmutzung durch Schiffe. Die allermeisten Con-
tainerschiffe, Öltanker oderFrachter fahren mit
schwerem Dieselöl, einem giftigenTr eibstoff mit
hohem Schwefeldioxidausstoss. Nach einer Unter-
suchung des deutschen Naturschutzbundes (Nabu)
stossenallein die 15 grösstenFrachtschiffe so viel
Schwefeldioxid aus wie 750 MillionenAutos.
Besonders herausfordernd ist jedoch, dass der
grosseVorteil des freienWelthandels die schwer-
wiegendsten ökologischen Probleme verursacht:
Von einem freienWelthandel profitieren näm-
lich die günstigsten Anbieter. Doch jene produ-
zieren oft gerade deshalb günstig, weil sie kaum
Umweltauflagen beachten müssen. Nicht umsonst
verlagern viele Industrieunternehmen aus Europa
ihre ökologisch belastenden Bereiche gerne in
Länder mit geringen Umweltauflagen. Unctad-
Experten kritisierten erst vor kurzem, dass 42
Prozent der CO 2 -Emissionen deutscher Unter-
nehmen in anderenLändern anfallen.
WelchgeringeRolle Klima- und Umweltschutz
inFreihandelsabkommen spielen, zeigen zum Bei-
spielVereinbarungen wie die zwischen der Euro-
päischen Union oder der Efta mit dem Gemeinsa-
men MarktLateinamerikas (Mercosur). ImRah-
men dieses Abkommens sollen Brasilien, Argenti-

nien, Paraguay und Uruguay ihre Zölle aufAutos
und Industrieprodukten aus Europa senken. Im
Gegenzug importieren die Europäer mehr Rind-
und Geflügelfleisch sowie Zuckerrohr und Soja
aus den vier lateinamerikanischen Staaten. Mit
schwerwiegendenFolgen für Klima und Umwelt.
Denn die Rinderhaltung und der Anbau von Soja
sind dieTr eiber bei der Abholzung derRegen-
wälder in der Amazonasregion. Gleichwohl hat
dasWirtschaftswachstum auf beiden Seiten offen-
barVorrang vor Klima- und Umweltschutz.
Immerhin erreicht die weltweite Klima- und
Umweltdebatte langsam auch die Handelspoli-
tik. So haben sich dieRegierungen auf ein globa-
lesVerbot von Schweröl alsTr eibstoff von Schif-
fen geeinigt. Es soll AnfangkommendenJa hres
in Kraft treten.Auf eineVerbesserung der Klima-
bilanz von Schiffen durch deren Einbezug in den
Emissionshandel oderdurch eine weltweite CO 2 -
Steuer wartet man bis jetzt allerdings vergebens.
Bemerkenswert ist dagegen eine Initiative des
EU-Parlaments. Es hat die EU-Kommission im
Juli 20 18 aufgefordert, «dasThema Klimawandel
in internationale Handels- und Investitions-
abkommen aufzunehmen und die Umsetzung des
Pariser Klimaabkommens zurVoraussetzung für
den Abschluss künftiger Abkommen zu machen».
Der französische Staatspräsident Emma-
nuel Macronwill diesenVorstossunterstützen –
ebenso wie die künftige EU-Kommissions-Präsi-
dentin Ursula von der Leyen. Sie plädiert sogar
für eine EU-Grenzsteuer, um die europäischen
Unternehmen vor Klima-Dumping zu schützen:
also vor Produkten, die billiger als die der europäi-
schenKonkurrenz sind, weil die Produzenten ge-
ringereKlimaauflagenzuerfüllen haben. Sie ver-
weist dabei auf dasRegelwerk derWelthandels-
organisation, das Massnahmen zur Abwehr um-
weltbedrohender Produkte und «zum Schutz von
erschöpften, natürlichenRessourcen» erlaube, so
dieehemalige deutscheVerteidigungsministerin.
Noch ist völlig unsicher, ob solche Ideen je-
malsRealität werden. Aber das allgegenwärtige
Dogma von einem möglichst freienWelthandel
bekommt Risse. Und da ist es einFortschritt,wenn
wenigstens darüber nachgedacht wird, was eine
zukunftsfähigeWeltwirtschaft braucht: nämlich
Rahmenbedingungen für einen nachhaltigen und
klimaverträglichen Handel.

Wolfga ng Kesslerist Wirtschaftswissenschafter und
Publizist. Er lehrt an der Albert-Ludwigs-Universität Frei-
burg. Aus seinerFeder ist vor kurzem der Band «Die
Kunst, den Kapitalismuszu veränd ern» im Verlag Publik-
Forum ersc hienen.

Kantonsz ugehörigkeit vo n Moutier


Kompromiss


statt Konf rontation


Gastkommentar
von GEORG KREIS


DieAusgangslage ist bekannt, die Zukunft aber
offen.Fest steht, dass dasResultat der Abstim-
mung vom18.Juni 20 17 über die Kantonszuge-
hörigkeit der Gemeinde Moutier – ob zumJura
oder zu Bern – definitiv annulliert ist und die Ab-
stimmung wiederholt werden muss. Die projuras-
sische Seite hat auf einenRekurs ans Bundes-
gericht und damit auf ein langwierigesVerfah-
ren mit ungewissemAusgang verzichtet und für
denJuni 2020 bereits eine neue Abstimmung in
Aussicht gestellt. Noch offenkönnte sein, unter
welcher Hoheit die Abstimmung wiederholt wird.
Die probernische Seite will sie nicht in den Hän-
den der mehrheitlich projurassisch eingestellten
Gemeindeexekutiven wissen und möchte sie vom
Bund durchgeführt sehen, was schwerlich ohne
Verletzung der sonst hochgehaltenen Gemeinde-
autonomie geschehenkönnte.
Der künftige Abstimmungsausgang wird einer-
seits völlig ungewiss und andererseits sehr voraus-
sehbar sein. Man kann damitrechnen, dass wie-
derum zwei etwa gleich grosseLager einander
gegenüberstehen. Nicht vorauszusehen ist jedoch,
wer bei den knappen Mehrheitsverhältnissen ob-
siegen wird.Dasletzte Mal gaben bei 3997 Ab-
stimmenden 137 denAusschlag.Man kann nicht
damitrechnen, dass sich die knapp unterlegene
Seite mit der Zeit an die «vollendeten»Tatsachen
gewöhnen wird, die durch die knapp obsiegende
Mehrheit geschaffen wordensind. Gegensätze, die
sich wie imFall von Moutier tief in die sozialen
Strukturen eingefressen haben, neigen dazu, sich
selber zu nähren und zu verewigen.
In einer solchenKonstellation ist es aber auch
etwas naiv, zu meinen, dass das famose Prinzip des
Selbstbestimmungsrechts der direkt betroffenen
Bevölkerung zu einer tragenden Lösung führe.
Es kann nicht sein, dass eine aus dem Moment
geborene Minidifferenz ausschlaggebend ist für
einen «endgültigen» Entscheid in derFrageder
Zugehörigkeit zum einen oder anderen Staats-
wesen.Zudem beruht das Selbstbestimmungs-
recht aufVoraussetzungen, die der heutigenRea-
lität dererhöhten Bevölkerungsfluktuationen
nur noch bedingt entsprechen. Nach einer kurzen
Quarantänefrist von drei Monatenkönnen alle
Zugewanderten an Schicksalswahlen teilnehmen
und – wenn sie wollen – wieder abwandern.
Vor einer weiteren Abstimmung sollte mit der
nötigen Kreativität nach anderen Alternativen ge-
sucht werden, entweder in der bereits bestehen-
den tripartitenJurakonferenz (Bund, Bern,Jura)


oder in der bereits aufgelösten, zuletzt vomTessi-
ner Dick Marty geleiteten InterjurassischenVer-
sammlung – oder von wem auch immer, der dazu
eine Idee hat. Die ganze Schweiz hat ein Interesse
an einer einigermassenkonsensualen Beilegung
diesesKonflikts.Vorweg müsste analysiert wer-
den, worin die materiellen Differenzen zwischen
den beidenLagern bestehen. Geht es um Steuer-
sätze, um Arbeitsplätze, um Sozialleistungen, um
Gesundheitsversorgung, um Schulfragen usw.?
Oder geht es «bloss» um die immaterielle, aber
hochemotionale Identitätsfrage, was man ist und
was man sein will? Spielen Kantonszugehörigkei-
ten (abgesehen von denAutoschildern) überhaupt
noch eineRolle?
Eine Lösungkönnte in der Neugestaltung der
unterstenStaatsebenen bestehen. Diekommunale
Ebenekönnte strikt paritätisch zusammengesetzt
sein, sogar mit einem doppelten Gemeindepräsi-
dium (wie beidenrömischenKonsuln). Das
würde zuKompromisshaltungen zwingen wie in
der volkstümlichen Geschichte, in der ein strei-
tendes Ehepaar mit nur einemTeller und einem
Löffel in ein Zimmer eingesperrt wird. ImWeite-
ren könnte eine doppelte Kantonszugehörigkeit
eingeführt werden:Wer in Moutier lebt, gehört zu
beiden Kantonen.Das erforderte allerdings eine
Änderung der Bundesverfassung.Wenn Moutier
dies aber einigermassen geschlossen wünschte,
könnte sich dafür eine Mehrheit gewinnen lassen.
ImJanuar 20 19 unterbreitete die Bürgergruppe
«Réconciliation» einen an sich interessanten, aber
ebenfalls schwer umzusetzendenVorschlag, der in
diegleiche Richtung geht: dieAufteilung Moutiers
in zwei Gemeinden mit unterschiedlicher Kan-
tonszugehörigkeit. Seine Bürger (und die nicht-
schweizerischen Einwohner!) sollen entscheiden
können, ob sie zur Gemeinde Moutier-Jura oder
zur Gemeinde Moutier-Bern gehören wollen.
Auch die Grundstückemüssten in diesem Flicken-
teppichmodell einem Kanton zugeordnet werden.
Wie zu erwarten, haben beideLagerrasch ableh-
nendreagiert.
Für welche Seite «spielt» die Zeit? Dieunge-
wisse Zukunft ist für Moutier nicht gut.Von den
gegensätzlichen Kräften wird die Zeit wohl ge-
nutzt werden,um ihrLager zu stärken. Die Zeit
sollte aber auch genutzt werden, um «dritte Lösun-
gen» zu finden.Damitkönnte die Schweiz, die sich
gerne auf ihre demokratischeKultur etwas einbil-
det, Pionierarbeit leisten.

Georg Kreisist emeritierter Professor für Geschichte an
der Universität Basel und ehemaliger Leiter des Europa-
inst itut s Basel.
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