Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

Samstag, 9. November 2019 MEINUNG & DEBATTE


«Hirntote» Nato?


Europa kommt ohne die USA nicht aus


Frankreichs Präsident Macron schlüpft gerne
in dieRolle des strategischenVordenkers, des
Ideenlieferanten für Europa.Das ist ihm nicht zu
verargen angesichts desFührungsvakuums inner-
halb der EU, wo alle übrigen «Grossen» politisch
geschwächt sind.Deut schland quält sich durchdie
läh mende Endphase der Ära Merkel und bleibt
vorerst an eine visionsloseKoalition gefesselt,
Grossbritannien vergeudet seine Energien in den
Brexit-Wirren, Italien und Spanien müssen froh
sein, überhaupt einmal eine stabileRegierung zu-
sammenzubringen. Macron ist da in einerkomfor-
tableren Situation. Umso grössere Aufmerksam-
keit erhält es, wenn der Herr des Elysée-Palasts
dem Kontinent seine Diagnose präsentiert.Ame-
rika wende sich von Europa ab, verkündete er so-
ebenin einem Interview mit der Zeitschrift «Eco-
nomi st». «Was wir derzeit erleben,ist der Hirntod
der Nato.» Nun sei Klarsichtigkeit gefragt.
Klarsicht ist allerdings auch gegenüber
MacronsAussagen angebracht. Über weite Stre-


cken hat der französische Präsident zweifel-
los recht – etwa, wenn er die EU-Feindlichkeit
DonaldTrumps beklagt, die mangelndeKoordi-
nationinnerhalb der Nato kritisiert und Skepsis
äussert, ob die Grundidee der nordatlantischen
Allianz, die gegenseitigeVerteidigung, im Ernst-
fall noch gelten würde. Doch die Schlüsse des
Franzosen sind überaus fragwürdig. Er behauptet,
aufAmerika seikeinVerlass mehr,Europa müsse
daher militärstrategische und rüstungsmässige
Autonomie erlangen. Zudem müsse Europa
Eigenständigkeit in seiner Nachbarschaftspoli-
tik – namentlich gegenüberRussland – zurück-
gewinnen, denn es gehe nicht an,diesePolitik von
einer Drittpartei mit abweichenden Interessen –
gemeint ist Amerika – steuern zu lassen.
SolcheAussagen wecken denVerdacht, dass
Macron in seinemLamento über den Zustand der
Nato lediglich Krokodilstränen vergiesst. Frank-
reichs Staatschef wittert eine Chance,Europa
sicherheitspolitisch vonden USA abzukoppeln
und damit den Einfluss seines eigenenLandes
zu erhöhen.Doch das ist ein gefährliches Spiel.
Denn die von Macron beschworene militärische
Autonomie ist ein Luftschloss. Die ausgehöhl-
ten Streitkräfte der EU-Staaten sind kaum in
der Lage,die Sicherheit desKontinents zu garan-
tieren, geschweige denn, europäische Interessen

ausserhalb machtvoll zu vertreten. Nur in einer
Allianz mit den Amerikanern kann dies gelin-
gen.Europa quasi als KnechtWashingtons hin-
zustellen, der sich endlich befreien müsse, ist ab-
surd.Nähme die EU ihre Sicherheitsinteressen in
der Nachbarschaftkonsequenter wahr, wäre dies
den Amerikanern nurrecht. Doch in allerRegel


  • vomKonflikt mitRussland bis zuSyrien und
    Nordafrika – zeigen sich die Europäer unfähig
    zu einer wirkungsvollen gemeinsamenPolitik.
    So gibt es zurDurchsetzungsfähigkeit der USA
    keine Alternative.
    Macron tut,als ob der EU-VerächterTrump
    Amerikarepräsentiere. In Wirklichkeit waren es
    dieUSA,dieindenletztenJahrenammeistenGeld
    in die Sicherheit der Nato-Ostflanke investierten.
    Frankreich hingegen übt sich dabei in Minimalis-
    mus. Es hat sich sogar geweigert, eines der neuen
    Nato-Kampfbataillone imBaltikum zu führen, so
    dassmanfürdieseAufgabedieKanadierbemühen
    musste.Wer grosseReden über Europas Selbstän-
    digkeitschwingt,solltezuerstsolcheWidersprüche
    aus räumen.UndstattdieatlantischeAllianztotzu-
    reden,gälte es, sie zu pflegen.Sonst drängt sich der
    Eindruck auf, dass es Macrons Frankreich weniger
    um einstark es Europa geht als darum, in einem
    geschwächten Europa dieRolle dermilitärischen
    Vormacht zu spielen.


Listenverbindungen


Irreführende Birchermüesli-Allianzen


Die Macht der Mathematik beiParlaments-
wahlen wird notorisch unterschätzt.Das interes-
sierte Publikum gehtwählenund nimmt später
gespannt zurKenntnis,welchePartei wie viele
Sitze erhält. Kaum einThema ist der Schritt da-
zwischen: die Umrechnung derWählerstimmen
in Sitze.Wer meint, es handle sich dabei um eine
reine Formalität, irrt.DieWahl der Spielregeln ist
fast so politisch wie dieWahlen selber. Doch diese
Finessen werden kaum je breit diskutiert.
Man muss deshalb denrechtskonservativen
Strategen der EDU fast schon dankbar sein. Sie
haben dafür gesorgt, dass wenigstens ein Element
des Wahlsystemskontrovers diskutiert wird: die
überparteiliche Listenverbindung. Deren Mög-
lichkeiten hat die EDU im Kanton Bern erfolg-
reich ad absurdum geführt. Mit einer atemberau-
benden Siebner-Verbindung hat sie neu einen
Sitz im Nationalrat erobert, obwohl ihrWähler-
anteil weiter gesunken ist(auf 2,5 Prozent). Ihre


Allianz umfasste unter anderem Mobilfunkgeg-
ner sowie Gruppen mit Namen wie «Die Mus-
ketiere» und «Partei der unbegrenzten Möglich-
keiten». 2015 hatte die EDU ihrenPartnern so-
gar Geld geboten für denFall, dass sie einen Sitz
macht.Heuer floss laut derPartei kein Geld,aber
die Geschichte zeigt, woher derWind weht.
Das mag ein krasser Einzelfall sein, aber frag-
würdige Beispiele gibt es zuhauf. Besonders fle-
xibel in derPartnerwahl sind die Grünliberalen.
Die Palette reicht von den Grünen über die CVP
bis zur FDP. Bei Berner Kantonalwahlen haben
sie sich auch schon mit der EDU verbündet. Stö-
rend sind auch die Liaisons zwischen FDP und
CVP sowiedie vereinzeltenSVP-FDP-Connec-
tions. Das Problem ist stets dasselbe: Es sindrein
wahltaktische Motive, die denAusschlag geben.
Inhaltlich vertreten all dieseParteien in zentra-
len Fragen unterschiedliche Standpunkte. Doch
die Hemmschwellen sind gefallen. 2019 gab es so
viele überparteilicheVerbindungen wie noch nie.
Die Folge: Birchermüesli-Verbindungen quer
durch den politischen Gemüsegarten.Darunter
leidet dieTransparenz.Wer dasKleingedruckte
nicht studiert, riskiert, dass seine Stimme einer
Partei zu einem Sitz verhilft, die er gar nicht
wählen wollte.Allein diese Möglichkeit ist ver-

heerend genug, um festzustellen, dass dasWahl-
systemrevidiert werdensollt e.
Allerdings gibt es ein wichtiges Gegenargu-
ment: Listenverbindungen bilden einKorrek-
tiv zu denVorteilen der grossenParteien, die bei
Na tionalratswahlen doppelt begünstigt werden.
In vielen Kantonen sind erstens nur wenige Sitze
zu verteilen, zweitens bevorteilt die heutige Be-
rechnungsmethode bei der Sitzzuteilung tenden-
ziell grössereParteien. Mit Listenverbindungen
können die kleineren teilweise Gegensteuer ge-
ben. Doch auch dieses Argument ist nur so lange
überzeugend,wie sichParteien zusammentun, die
weitgehend dieselben Ziele verfolgen.
Anders gesagt:Wenn ein fragwürdigesKon-
strukt wie die überparteiliche Listenverbindung
nötig ist, um das heutigeWahlsystem zurechtfer-
tigen, dann ist an diesem vermutlich etwas faul.
AlsAlternative bietet sich der Doppelproporzan,
den bereits sieben Kantonekennen. Bei diesem
Verfahren sind Listenverbindungen unnötig, die
Vorteile der grossenParteien werden starkredu-
ziert.Zurz eit enervieren sich Exponenten von
SVP und FDP über die kunterbunten Listenver-
bindungen derKonkurrenz.Wenn es ihnen ernst
ist,lancieren sie nun eine Debatte über den Dop-
pelproporz auf Bundesebene.

Ein-Prozent-Vorlage


Stadt Zürich spielt wieder Weltretterin


Der ZürcherPolitik ist ihre Stadt zu klein. Zu
diesem Schluss musskommen, wer in den letzten
Wochen dieTraktandenlisten desrot-grün domi-
nierten Stadtparlaments studiert hat. Statt klein-
kariert überParkplätze und Schulhäuser zu strei-
ten,debattierendie FrauenundHerrenGemeinde-
räte lieber über die ganz grossenWeltprobleme.
Wenn der Bund in der Klimapolitik das ehrgei-
zigeZiel«nettonullbis2050»formuliert,dannwill
es das Stadtparlament bereits per 2030 schaffen.
Wenn dieTürkei in die kurdischen Gebiete Nord-
syriens einmarschiert,dann verurteiltdies Zürich
in einerResolution. Bootsflüchtlinge sollen in
der Stadt leichterAufnahme erhalten (weil «die
dramatisch zugespitzte Situation im Mittelmeer
unsereSolidaritäterfordert»).Undauchzu mdrän-
gendenThema «NukleareAbrüstung» hat sich die
städtische Legislative kritisch geäussert.
Dass die Stadt als unterste der drei Staats-
ebenen in der Schweiz wenig bis gar nichts zu die-


sen Themen zu melden hat,kümmert die linken
Parteien nicht. Es gehe darum, «ein Zeichen zu
setzen», heisst es immer wieder als Begründung.
Um ein Zeichen Zürichsauf der globalen
Bühne geht es auch bei der sogenannten Ein-Pro-
zent-Vorlage,die am17.Novemberzur Abstim-
mungkommt.MitihrwürdedieStadtverpflichtet,
beiguterFinanzlagejedesJahr0,3bis1Steuerpro-
zentfixandieEntwicklungshilfezuzahlen.Statt
MillionenFranken wie im letztenJahr könnten es
neu gegen18 Millionen Franken sein. Der Stadt-
rat unterstützt das Anliegen im Einklang mit den
Mitte-links-Parteien von SP bis GLP. Die Grünen
sprechen von einem «kleinen, aber starken Bei-
trag an eineRückumverteilung von denreichen
zu den armenRegionen derWelt».
DasVorhaben passt zur zürcherischen Selbst-
überhöhung. Nach dem Klimawandel, derTürkei
und der Atombombe soll die Stadt nun auch der
globalen Armut den Kampf ansagen. Doch auch
hier verkennen die Lokalpolitiker ihreRolle.Die
in ternationale Entwicklungszusammenarbeit ist
sinnvollerweise Sache des Bundes und nicht der
Gemeinden. Der Bund gab letztesJahr 3 Milliar-
den Franken für dieAuslandhilfe aus. Im Gegen-
satz dazu verblassen die Beträge aus Zürich,seien
es nun 3 oder18 Millionen Franken. Beim Bund

liegen dieKompetenz und die nötigen Struktu-
ren, um mit den vorhandenenRessourcen auch
tatsächlich und effektiv etwas zu bewirken.
Der Vorteil derVorlage ist, dass neu per Ge-
setz vorgeschrieben wäre, dass bei derVergabe
von Hilfsgeldern aufFaktoren wieWirksam-
keit,Wirtschaftlichkeit undTransparenz geachtet
werden soll. Dies geschieht in der internationa-
len Entwicklungszusammenarbeit heute noch zu
selten. Dem hohen Anspruch wird Zürich alleine
aber kaum gerecht werden.Dafür fehlt ihr das
Expertenwissen. LetztesJahr haben Hilfswerke
bei der Stadt Gesuche für 108 Projekte einge-
reicht; 86 von ihnen wurden schliesslich unter-
stützt – also fast alle. Eine fokussierte, klare Linie
bei derVergabe ist kaum zu erkennen.Auch das
spricht gegen einen weiterenAusbau.
Zudem besteht der immanenteKonflikt, dass
die Evaluation von Projekten Geld verschlingt,
das man lieber für die Hilfe vor Ort einsetzen
würde.Auch hierist der Bund mit seinenFach-
leuten und einemVielfachen an Mitteln klar im
Vorteil. Im Sprichwort heisst es: Schuster,bleib
bei deinem Leisten.Zürich sollte sich das zu Her-
zen nehmen. DieWeltretterin muss und kann die
Stadt nichtspielen. Zürich, bitte bleib bei deinen
Parkplätzen, Schulhäusern und Solaranlagen.

FABIAN SCHÄFER

SCHWARZ UND WIRZ


Gleichlange Spiesse


als Bumerang


Von GERHARDSCHWARZ

Es ist eines der meistgebrauchten und daher
sehr abgenützten Bilder in den wirtschaftspoli-
tischen Debatten der letzten Zeit: gleich lange
Spiesse. Im Englischen heisst es «level playing
field».Vor allem im internationalen Handel
erfreut sich derAusdruck grosser Beliebtheit.
Nichtregierungsorganisationen verwenden ihn,
wenn sie über den Handel zwischenreichen
und ärmeren Staaten sprechen. In den
Gedankenspielen über die Zeit nach einem
Brexit sind gleich lange Spiesse eine zentrale
Forderung Brüssels. Und dasRahmenabkom-
men zwischen der EU und der Schweiz soll
gemäss jenen, die es kritiklos unterstützen,
für gleich lange Spiesse sorgen.
Doch wie immer, wenn einKonzept
besonders leicht über die Lippen geht, lohnt
es sich, tiefer zu bohren. Liberale sollten auf
der Hutsein, wenn vongleich langen Spiessen
die Rede ist, denn eskommt nicht von
ungefähr, dass damit auf zwei Seiten gefochten
wird.Auf der linken Seite istWettbewerb per
se verpönt.Daher ist derenRuf nach gleich
langen Spiessen kaum wettbewerbsfreundlich
gemeint. Die Vertreter derWirtschaft dagegen
sind in Sonntagsreden zwar meist für den
Wettbewerb, unter derWoche jedoch eher für
den Schutz ihres Unternehmens vorKonkur-
renz. Diesen Schutz suchen sie, wenn sie gleich
lange Spiesse fordern.
Die Attraktion des Arguments lässt sich
vermutlich damit erklären, dassPolitik und
Wirtschaft verwechselt werden.Vor dem
Gesetz sind alle gleich, und das Stimm- und
Wahlrecht gilt, zumindest von der Idee her,
ebenfalls für alle gleich, auch wenn die
Umsetzung nicht einfach ist und inWahlen
und Abstimmungen nicht immer jede Stimme
gleich viel Gewicht hat. In derWirtschaft
dagegen beruht aller Handel undWettbewerb,
national ebenso wie international, auf Unter-
schieden, Unterschieden des Angebots, der
Kostenstrukturen, des Zugangs zuRessourcen,
der Netzwerke. Und im internationalen
Handelkommen dazu noch die Unterschiede
der Rahmenbedingungen. Nur innerhalb eines
Landes oder eines Integrationsraumes wie der
EU gelten gleiche Spielregeln für alle.
Der internationale Handelkommt dagegen
nicht zuletzt zustande, weil in jedemLand
andereRahmenbedingungen, andere Gesetze
herrschen. Die Schweiz verdankt ihren
Aufstieg zu einem derreichstenLänder des
Globus wesentlich derTatsache, dass ihre
Unternehmen sehr früh fast in die ganzeWelt
exportierten, ohne gleich lange Spiesse. So
mussten sie hohe Zollschranken überwinden,
später – und bis heute – nichttarifäre Handels-
hemmnisse. Doch dafür profitierten Schweizer
Unternehmen von einer klugenPolitik zu
Hause, von niedrigeren Steuern, von einem
liberalen Arbeitsmarkt, von einem offenen
Kapitalmarkt,vom Schutzgeistigen Eigen-
tums, von einer stabilenWährung, um nur
einige wenigeFaktoren zu nennen.
Schweizer Unternehmer und Manager
wären gut beraten, setzten sie weiterhin statt
auf gleich lange Spiesse auf denWettbewerb
der Standorte. Früher oder später wird das
Argument nämlich zum Bumerang werden,
wird man der Schweiz vorrechnen, dass ihre
(relativ) niedrigen Steuern und ihr(relat iv)
liberaler Arbeitsmarkt unfaireWettbewerbs-
vorteile sind, die es zu beseitigen gilt. Statt für
gleich lange Spiesse und Harmonisierung
sollten sich die Schweizer Unternehmen daher
für Freihandel und gegen Protektionismus
einsetzen, vor allem aber für einen anhalten-
den Wettbewerb der Nationen, beiRegulie-
rungen wie bei Steuern, mit anderenWorten
für dasRecht auf Anderssein, ohne deswegen
diskriminiert oder benachteiligt zu werden.
Und die SchweizerPolitik sollte jeden
Freiraum nutzen, um sich von den anderen
Staaten positiv abzuheben. So würde man dem
Standort am besten Sorge tragen.

Gerhard Schwarzist unter anderem Präsident der
Progress Foundation.
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