Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Samstag, 9. November 2019


Anhänger derradikalen Öko-Bewegung ExtinctionRebellion blockieren in London denVe rkehr:Aufnahme vom 16. Oktober2019. MATT DUNHAM / AP


Wo Politik war,


soll Moralismus werden


Schlimmes tun, um Schlimmeres zu verhindern: Das ist die Logik vo n radikalen


Umweltakti visten wie Extinction Rebellion. Sie hat wenig mit mutigem zivilem Ungehorsam,


dafür viel mit politischem Moralismus zu tun. Von René Scheu


Wenn das grosse Nichts auf uns zurast, dann müs-
sen wir ihm Einhalt gebieten.Um es zu stoppen,
ist alles erlaubt. Denn wenn wir zulassen, dass das
Nichts uns trifft, ist alles – nichts.
Das rasende Nichts ist die Klimakatastrophe, die
ihreWirkung bereits für alle spürbar zu entfalten
begonnen hat: dieVermüllung derWelt, dieVer-
sauerung der Meere, dieVerschmutzung von Natur
und Lebensraum, das Massensterben der Arten, zu-
letzt die Dezimierung der Menschheit.Wer dieWelt
durch eine solche Linse betrachtet, hat nicht nur
dasRecht, sondern geradezu die moralische Pflicht,
aufzubegehren, sich aufzulehnen, aufzustehen, zu
rebellieren. So denken einige, und wie es scheint,
werden es immer mehr. Willkommen im Univer-
sum der neuenSystemkritiker!
Zurzeit schiessen an allenEcken und Endenra-
dikale Bewegungen zurRettung von Umwelt und
Menschheit ins Kraut.Das prominenteste – da bis-
her öffentlichkeitswirksamste – Beispiel ist Extinc-
tionRebellion, zu Deutsch:Aufstand gegen das
Aussterben. ExtinctionRebellion ist eine Sammel-
bewegung, die aus verschiedenen aktivistischen
Umweltgruppierungen hervorging und im Oktober
2018 in Grossbritannien gegründet wurde. Im ers-
tenJahr ihres Bestehens haben die Neorebellen für
einigesAufsehen gesorgt, mit Brücken- und Stras-
senblockaden insbesonderein London,zuletzt mit
einerLahmlegung des Flughafens Heathrow durch
Drohnen. In Berlin haben sie mitunter denVerkehr
an verschiedenen neuralgischen Punkten zum Still-
stand gebracht.Auch in der Schweiz sind mehrere
Ortsgruppen aktiv – sie haben vor nicht allzu lan-
ger Zeit dasWasser der Limmat giftgrün eingefärbt.
Was in der helvetischenVariante wie humoristi-
scherPolitpop anmutet, ist inWirklichkeitPolitagi-
tation der härteren Sorte. Erklärtes Ziel von Extinc-
tionRebellion ist es, dieWirtschaft dort zu treffen,
wo es weh tut, und damit die Gesellschaft in chaoti-
scheVerhältnisse zu stürzen.WoNotstand herrscht,
so die Logik der Aktivisten, ist alles möglich, auch
eine neuePolitik – und die grosse gesellschaftliche
Wende.Und nur so kann das grosse Chaos abgewen-
det werden, das uns alle bedroht: der Klimakollaps,
der zum totalen gesellschaftlichenKollaps führt.


Roger Hallam, 53-jähriger Mitgründer und Mas-
termind hinter ExtinctionRebellion, lässt darankei-
nen Zweifel. Zur Untermauerung seiner Prognosen
verweist der frühereÖko-Bauer stets auf«die»Wis-
senschaft.Damit sind allerdings nichtdie IPCC-Be-
richte des Uno-Klimarats gemeint, die mitBand-
breiten, Modellen und prognostischen Szenarien
arbeiten, sondern angeblich superexakteVoraus-
sagen, als stünde die Zukunft heute schon fest. Hal-
lam wörtlich: «Ich spreche von Abschlachterei, dem
Sterben und dem Hungertod von sechs Milliarden
Menschen in diesemJahrhundert – das ist es, was
dieWissenschaft voraussagt.» Und:«Wir stehen in
den nächsten zehnJahren vor Massenverhungern,
gesellschaftlichem Zusammenbruch und dem mög-
lichenAussterben der menschlichenRasse.»
So klar liegen die Dinge für dieRebellen.Wor-
aus für sie folgt:Wer das Schlimmste verhindern
will, muss bereit sein, Schlimmes zu tun.Der höhere
Zweck heiligt alle niederen Mittel.Wer weiss, wie
schlimm es um dieWelt steht, ist zum Handeln auf-
gerufen – auch gegen denWillen einer Mehrheit,
die bloss deshalb untätig bleibt, weil sie den Ernst
derLage nicht checkt.

Die Selbstermächtigung


Gegen einSystem, das «dieVernichtung vorantreibt
und Arten undKulturen zumAussterben bringt» (so
heisst es im deutschen Handbuch von Extinction
Rebellion), gegen einSystem, das also das Leben
der Bürger nicht mehr schützt,sindradikale Mass-
nahmen gerechtfertigt.Jede gewaltsame Aktion


  • nicht gegen Menschen direkt, wohl aber gegen
    deren selbstvergessene, hedonistische Lebensart –
    ist blossreaktive Gewaltund damit gut. Nicht wir
    haben begonnen, sondern das toxischeSystem, wir
    wehren uns bloss!WoherkömmlichePolitik versagt
    hat, muss moralische Selbstermächtigung werden.
    Der politische Philosoph Hermann Lübbe hat
    in den1980erJahren ein dünnes, aber gehaltvolles
    Büchlein publiziert, das diese Problematik unter
    demTitel «Politischer Moralismus: DerTr iumph
    der Gesinnung über dieUrteilskraft» mit gross-


artiger intellektueller Schärfe analysiert.Darinbe-
schreibt er die Bedingungen, unter denen eine sol-
che moralische Selbstermächtigung vonstattengeht


  • und die gesellschaftlichenFolgen, die sie zeitigt.
    LübbesPointe:Politischer Moralismus ist,recht
    bedacht, das Gegenteil vongelebter Moral. Der
    politische Moralist pfeift auf den moralischen Ge-
    meinsinn, wie er sich in Alltag und Gesetzspiegelt.
    Er setzt ihn unterAufwendung seiner intellektuel-
    lenFähigkeiten ausser Kraft.
    DerPolitmoralismus ist so gesehen strikt amora-
    lisch: Er beruft sich auf eine höhere transzendente
    Moral, genauer: auf die höhere Einsicht in welt-
    umspannende Zusammenhänge, gegenüber denen
    die praktische Urteilskraft nicht mehr greift.Kos-
    ten-Nutzen-Überlegungen, dasVerhältnis von Ich
    undWelt, die Abwägung von eigenen und frem-
    den Interessen, die Unterscheidung von Ideal- und
    Realfall, all dies spielt plötzlichkeineRolle mehr.
    Es zählt nurmehr: alles oder nichts.


Die Metaphysik


DerPolitmoralist glaubt denVerlauf des Natur-
und Gesellschaftsprozesses mit letzter Gewissheit
zukennen. Er ist im Herzen ein Metaphysiker, der
sich einer der vielenFormen des historisch-wissen-
schaftlichen Determinismus verschrieben hat.Was
gestern der historische Materialismus à la Marx
war, ist heute ein vulgärer Öko-Szientismus.
Mit Lübbe gesprochen: DerPolitmoralist ent-
spricht – aus seiner eingeengten Sicht – im«Tun des
Schlimmen höherer Notwendigkeit». Er verfügt über
ein Sonderbewusstsein,das ihm diese Erkenntnis
erlaubt – sei es, weil er ein unverdorbenerJugend-
licher, ein Bücherwurm oder eben ein Öko-Bauer ist.
Lübbe nennt dies das«Vorzugsklassenbewusstsein».
Theorie und Praxis fallen in einemsolchen Be-
wusstsein zusammen:Wer den Gang der Dinge er-
kennt, der muss handeln –koste es, was es wolle.
Wie es im deutschen Handbuch von Extinction
Rebellion heisst:«WIR handeln!Wir können nicht
anders!»Wer widerspricht, diskreditiert sich selbst.
Denn alle, die es anders sehen, begreifen es einfach
nicht. Die moralische Selbstermächtigungist immer
auch Selbstimmunisierung.
Im Handeln geht es nie bloss um die eigenePerson,
sondern stets um die ganze Menschheit. DerPolit-
moralist ist einFunktionär der Zukunftsmenschheit
mit eigener Zeitlichkeit: der Zeit der Überstürzung.
Es ist immer schon fünf nach zwölf.Was zählt, ist
insofern nicht bloss daskompromisslose, sondern
auch das schnelle Handeln. Den Grundwiderspruch,
der sich wie schon zu Marxens Zeiten auftut, igno-
riert derPolitmoralist ebenso geflissentlich, er wird
zum Gefangenen seiner eigenenIdeologie:Wenn
derLauf derWelt einer historischen Notwendigkeit
folgt, was will denn der Mensch überhaupt dagegen
ausrichten? Und wenn es ohnehin für alles schon zu
spät ist, was gibt es dann noch zu tun?
In derRebellion bildet sich der «neue Mensch»,
derzugleich eine neueGesellschaft herbeiführt.Für
Marx war es das Abstraktum der klassenlosen Ge-
sellschaft, für die Anhänger von ExtinctionRebel-
lion ist es eine Gemeinschaft des «inklusivenWir»
(wiederum im Handbuch). Ist sie erst einmal ver-
wirklicht,kommen die üblen Ismen an ihr Ende:
Kapitalismus, Kolonialismus, Rassismus. Stattdes-
sen sollen dann auf einmal und auf wundersame
Weise Mitgefühl, Inklusion, Nachhaltigkeit, Gleich-
heit und Zusammenhalt herrschen.

Das Missverständnis


Um ihreTaten zurechtfertigen, berufen sich die An-
hängervon ExtinctionRebellion auf dasKonzept
des zivilen Ungehorsams. Doch handelt es sich da-
bei um ein grossesMissverständnis.Wer bei Henry
DavidThoreau nachliest, dem Begründer desKon-
zepts, stösst auf einen gänzlich anderen Grundgedan-
ken. Der amerikanischeEinsiedler und Schriftsteller
weigerte sich, dieKopfsteuer zu entrichten, weil er
keineRegierung unterstützen wollte, die Sklaverei
duldet und einen Krieg in Mexiko führt. Ungehor-
sam gegenüber dem Staat bedeutet nachThoreau
also gerade, für sich selbst – und niemanden sonst


  • einzustehen, auf das eigene Gewissen zu hören –
    also etwasnichtzu tun.Das ist das Gegenteil eines
    kollektivistischenWeltrettungsprogramms.
    Wer passivenWiderstand leistet, indem er für
    sich selbst einsteht, stellt sich zwar gegen das Ge-
    setz,bewegt sich aber weiterhin imRahmen der
    Alltagsmoral. Er istkein Metaphysiker undebenso
    wenig einWeltbeglücker. Der Gehorsamsverweige-
    rer bleibt mithin berechenbar.
    Ganz anders die aktivistischenPolitmoralisten.
    Sie arbeiten daran, die Bindung an die Moral zu über-
    winden und sich in zu allem bereite Agenten des un-
    abwendbaren Schicksals zu verwandeln. Sie sind die
    Avantgarde im Kampf um alles oder nichts. Sie wer-
    den dadurch unberechenbar.Auch wenn sie auf Ge-
    waltanwendung im Dienst der höheren Sache zu ver-
    zichten geloben, bleiben sie dazu nach ihrer inneren
    Verwandlung dennoch fähig – und nach ihrem eige-
    nenVerständnis im Grunde sogar verpflichtet.
    Ob das Nichts wirklich auf uns zurast und uns
    in zehnJahren trifft, wissen wir nicht. Aber was uns
    die jüngere Geschichte mit Bestimmtheit lehrt: Die
    aktivistischen Metaphysiker liegen total daneben.


Erklärtes Ziel von Extinction


Rebellion ist es, die


Wirtschaft dort zu treffen,


wo es weh tut, und damit


die Gesellschaft in


chaotischeVerhältnisse


zu stürzen.

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