Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

Samsta g, 9. November 2019 SCHWEIZ 13


Die Armee will die Soldaten bei unvorhersehbaren


Ereignissen schneller aufbieten SEITE 14


Ein Wettlauf gege n di e Zeit – nun soll das Volk


doch über den Vaterschaftsurlaub abstimmen SEITE 15


«Beunruhigende Fakten» über das Gesundheitssystem


Ein im Auftrag des Bundes erarbeitet er Bericht ze igt, dass bei der Medikamentenabgabe einiges im Argen liegt – ein Viertel der über 65-Jährigen ist betroffen


CHRISTOF FORSTER, BERN


Man hat es nun schon so viele Male ge-
hört, vonPolitikern, Experten und Leis-
tungserbringern, dass es inzwischen fast
alle glauben: Die Schweiz hat ein quali-
tativ hochstehendes Gesundheitssystem.
DochDaten, die dies belegen, kann nie-
mand liefern, weil es sie nicht oder nur
rudimentär gibt. Nun wollte das Bundes-
amt für Gesundheit (BAG) den Stand des
Unwissens erkunden und liesseinen Be-
richterstellen. Oxford-Professor Charles
Vincent und Anthony Staines, Qualitäts-
beauftragter desWaadtländer Spitalver-
bands,habensich dabei auf bestehende
Studien undDaten gestützt. Sie kom-
men zum Schluss,dass die Qualität der
medizinischenVersorgung in der Schweiz
verbessert werden muss. Es gebe punkto
Qualität undPatientensicherheit «einige
beunruhigendeFakten», sagteStaines am
Freitag vor den Medien.
Als ein dringendes Problem ortet der
Bericht den Mangel bei der Medikations-
sicherheit. Unerwünschte Arzneimittel-
Ereignisse und Medikationsfehler seien


häufig. So komme es bei rundeinem Drit-
tel der Patienten während ihres Spitalauf-
enthalts zu einer unerwünschtenReak-
tion auf Medikamente. Eine Studie mit
Daten von vierKrankenkassen gelangte
zum Schluss, dass rund einViertel der
über 65-Jährigen «potenziell inadäquate
Medikamente» erhält. Arzneimittel sind
dann «potenziell inadäquat», wenn das
Risiko von Nebenwirkungen höher ist als
der erwartete Nutzen. DieFolgenkönnen
harmlos bis gravierendsein.

GravierendeFolgen


Eine andereStudie in einemSchweizer
Spital ergab, dass 12 Prozent derPatien-
ten während ihres Klinikaufenthalts in
irgendeinerForm zu Schadenkommen.
Ursprünglich habe man mit der Spital-
studie zeigen wollen, dassPatienten in
der Schweiz im Spital seltener zu Scha-
denkommen als anderswo, sagte Stu-
dien-Co-Autor Anthony Staines. Erfasst
sind Fehler, die den Spitalaufenthalt um
mindestens einenTag verlängern. Einige
der Schäden hätten gravierendeFolgen

oder seien gar tödlich.Fast die Hälfte
dieser durch Behandlungen verursach-
ten Schädigungen hätten mit einem
gutenVersorgungsstandard verhindert
werdenkönnen. In der Schweiz sind
jedesJahr rund 100000 Spitalpatien-
ten von solchenVorfällen betroffen.
Dies lasse sich aus den Schweizer Zah-
len und internationalen Studien schlies-
sen, heisst es im Bericht.Dabei handle
es sich um Schätzungen,räumte Staines
am Freitag vor den Medien ein.
Beunruhigend ist auch die Erkenntnis,
dass die Empfehlungen zur Handhygiene
nur in 53 Prozent derFälle befolgt wur-
den. Dies ergab dieAuswertung der letz-
ten nationalen Handhygiene-Kampagne.
Dass die Schweiz die Medikations-
sicherheit verbessern kann, ist offenbar
bekannt.So haben Spitalpharmazeuten
für die ganze Schweiz die Einführung
eines systematischen Medikationsab-
gleichs bei Spitaleintritt empfohlen. Dies
wurde bis jetzt allerdings nur in einem
Spital umgesetzt.
Punkto Qualität liegt allgemein in
der Schweiz vieles im Argen, obwohl

diese und dieTransparenz darüber seit
der Einführung des Gesetzes über die
Krankenversicherung (KVG)1994 zu
den Vorgaben gehört. Es seien zwarzu
diversen Punktenehrgeizige nationale
Programme und Stellen vorgeschla-
gen worden, heisst es im Bericht. Diese
seien dann aber blockiert worden, man-
gelsKonsens über dieAusgestaltung
einer nationalen Koordinationsstelle
oder wegenVorbehalten gegenüber
einer übermässigen zentralenKontrolle.
Die Tragweite der bestehenden Initia-
tiven sei oft beschränkt, sagte Studien-
autor Staines: «Es erscheint uns, dass
die Patientensicherheit und die Quali-
tät in Gesundheitseinrichtungen nicht
die nötige Priorität geniessen.»

Fehlende Kontrollen


Ein weiterer Mangel im Schweizer Ge-
sundheitssystem liegt darin, dass die
Rückmeldungen vonPatienten viel zu
wenig berücksichtigt werden. Es gebe
viel Spielraum, umPatienten und be-
treuende Angehörige in Projekte zur

Verbesserung der Qualität einzubezie-
hen.Grundsätzlich gibt es zu wenige
breit erhobeneDaten, anhand deren die
Qualität des Schweizer Gesundheits-
wesens gemessen werden kann.Exper-
ten führen dies auch auf das fragmen-
tierte Schweizer Gesundheitssystem zu-
rück. Es gebe zwar diverse Erhebungen
und Daten, diese würden aber nicht sys-
tematisch genutzt. Die Studienautoren
empfehlen deshalb die Erstellung eines
umfassenden Satzes an Qualitäts- und
Sicherheitsindikatoren. Sie kritisieren
auch,dass nichtkontrolliert werde, wie
nachhaltig eingeführteVerbesserungen
zur Stärkung der Qualität seien.
«Wir haben eine Gleichung, die ver-
bessert werden muss – zwischen dem Mit-
teleinsatz und der Qualität», sagteBAG-
DirektorPascal Strupler. Entweder mehr
Qualität für das gleiche Geld – oder die
heutige Qualität für weniger Geld. Strup-
ler setzt seine Hoffnung in den neuen
Qualitätsartikel, dem dasParlament im
Juni zugestimmt hat.Damit erhält der
Bund die finanziellen Mittel, um Qua-
lität undPatientensicherheit zu stärken.

Weniger Stimmen – mehr Sitze


Listenverbindungen führen bei Nationalratswahlen mitunter zu kuriosen Resultaten, nun willsie die AargauerFDP verbieten


FABIAN SCHÄFER


Kanton Bern, 2019. Die strammrechte
EDU hat die vermutlich originellste Lis-
tenverbindung aller Zeiten zusammen-
getrommelt. Sie umfasst siebenListen.
Mit dabei sind die Schweizer Demokra-
ten, Mobilfunk-Skeptiker («5Gade»),
ein Einzelkämpfer, die «Landliste», die
«Partei der unbegrenzten Möglichkei-
ten» und «Die Musketiere». Die anfäng-
lich belächelte Operation gelingt tat-
sächlich. Nach achtJahren Absenz ist
die EDU mit Andreas Gafner neu wie-
der im Nationalrat vertreten. IhrWähler-
anteil ist mit 2,5 Prozent kleiner denn je.
Kanton Solothurn, 2015. Die SP
macht weniger Stimmen als die FDP, er-
hält aber trotzdem zwei Sitze im Natio-
nalrat, die FDP nur einen. DesRät-
sels Lösung: Die SP hat ihre Listen wie
üblich mit jenen der Grünen verbunden
undkonnte deshalb bei der Sitzvertei-
lung dieFreisinnigen überflügeln.
KantonBasel-Stadt, 2011: Die CVP
erhält nicht einmal halb so viele Stim-
men wie das Grüne Bündnis, schnappt
diesem aber das einzige Nationalrats-
mandat weg. Hier gibt eine breite Listen-
verbindung in der Mitte mit GLP, BDP
und EVP denAusschlag. DieFreude
währt nicht lange, vier Jahre später ver-
liert die CVP den Sitz wieder.


Chance für kleinere Parteien


Es gibt noch viele andere Beispiele, in
denen Listenverbindungen bei derVer-
teilung der Nationalratssitze in man-
chen Kantonen zu erstaunlichenResul-
taten geführt haben.Verbundene Listen
werden im ersten Schritt der Sitzzutei-
lung behandelt, als wären sie eine ein-
zige Liste. Die Kumulation der Stimmen
eröffnet kleinerenParteien Chancen auf
Sitzgewinne.Allerdings ist dasBild nicht
eindeutig. Denn bei der abschliessen-
den Sitzverteilung innerhalb einer Lis-
tenverbindung sind wieder eher grössere
Parteien imVorteil.
Heftig umstritten sind vor allem Zu-
sammenschlüsse überParteigrenzen hin-
weg, währendsie innerhalb einerPartei –
etwa zwischen Mutter- undJungpartei –
kaum kritisiert werden. Nach den dies-
jährigenWahlen nimmt die Aargauer
FDP einen Anlauf, um überparteiliche


Arrangements zu verbieten. Sie hat im
Kantonsparlament einen Vorschlag für
eine Standesinitiative eingereicht.
Der Sinneswandel fällt auf. Eben
noch hat die Aargauer FDP selberver-
sucht,aus einer Listenverbindung Profit
zu schlagen: Sie hat sich für die Natio-
nalratswahlen mit derSVP liiert, was
sich nicht ausbezahlt hat. Nun wollen
die Freisinnigen solche Allianzenunter-
sagen, weil sie darin eineVerfälschung
des Wählerwillens sehen.Aus ihrer Sicht
riskierenWähler, «dass ihre Stimmen
nicht derPartei, die sie gewählt haben,
zukommen, sondern einer anderenPar-
tei mit andern politischenPositionen zu
einem zusätzlichen Erfolg verhelfen».
Offenkundig ist, dass das Geschäft
der mathematisch begabtenParteistra-
tegen floriert. 2019 gab es so viele Lis-
tenverbindungen wie nie. 56 der 81Fälle
betrafen überparteiliche Allianzen. Sie
haben ihreWirkung nicht verfehlt. Eine
Auswertung der Tamedia-Zeitungen

legt nahe, dass Listenverbindungen für
die Vergabe von zehn Sitzen entschei-
dend waren. GrosseVerliererin war die
SVP mit minus sieben Sitzen, während
die Grünliberalen ihrer geschicktenVer-
bandelungspolitik fünf Sitze verdanken.
Allerdings ist diese Berechnung um-
stritten. Sie zeigt, was die gesamten
Effekte wären,wenn es garkeine Listen-
verbindungen gegeben hätte. Laut dem
PolitologenDaniel Bochsler wird mit die-
sem Ansatz deren Bedeutung aber unter-
schätzt. Er hat nach denWahlen 2015 für
die NZZ eineAnalysemit einer ande-
ren Methode angestellt. Diese zeigte, wie
viele Sitze die einzelnenParteien dank er-
folgreichen Listenverbindungen zusätz-
lich geholt haben, ohne diese Gewinne
unter denParteien zu verrechnen. Er-
gebnis: 24 Nationalrätinnen und -räte ver-
dankten damals dieWahl einer Listenver-
bindung.Für 2019 liegt bis jetztkeine Be-
rechnung nach dieser Methode vor.
Die überparteiliche Stimmenopti-
mierung wird nicht nur von der Aar-
gauer FDP angegriffen, auchSVP-Prä-

sidentAlbertRösti äusserte gegenüber
Telebärn dieselbe Kritik.Aus denRei-
hen derSVP kam 2011 auch einVorstoss
für ein Verbot, der im Nationalrat aber
klar abgelehnt wurde. Eingereicht wor-
den war er von SebastianFrehner, der


  • Ironie der Geschichte – bei denWah-
    len 2019 selber einer Listenverbindung
    der Konkurrenz zum Opfer gefallen ist.


Bei denParteien spielen in dieser
Frage eigennützige Motive eine wich-
tige Rolle. Die SVP hat als grösstePar-
tei naturgemäss Mühe, Partner für Lis-
tenverbindungen zu finden, da deren
Erfolgschancen gering wären.Kommt
hinzu, dass dieVolkspartei potenzielle
Partner mit ihrenPositionen und ihrem
Stil (Stichwort:Wurmplakat) gelegent-

lich selberkopfscheu macht. Deutlich
besser ist die Situation am linkenRand.
Die SP und die Grünen stehen sich in-
haltlich derart nahe undharmonieren so
gut, dass sie ihre Listen praktisch immer
und überall verbinden. Mit einemVer-
bot würden sie einen wichtigenWettbe-
werbsvorteil verlieren.
Zu den eifrigsten Nutzern undVer-
teidigern der Listenverbindungen zäh-
len die Grünliberalen (GLP).Aus ihrer
Sicht sind diese notwendig, um dieVor-
teile teilweise auszugleichen, die das
Wahlsystemden grossenParteienbie-
tet. Diese profitieren in derTat davon,
dass in vielen Kantonen nur wenige
Si tze vergeben werden. Hier ist das
notwendige Quorum für kleinere Par-
teien allein kaum zu erreichen. Zudem
bevorteilt die heutige Methode der
Sitzzuteilung, der sogenannte Natio-
nalratsproporz,rechnerisch die grösse-
ren Parteien.

Doppelproporz als Alternative

Vertreter der GLP haben schon früher
einen möglichenKompromiss skizziert:
Wenn der Nationalratsproporz durch
den sogenanntenDoppelproporz er-
setzt würde,wären die Listenverbin-
dungen obsolet. DiesesVerfahren wird
nach seinem Erfinder auch als «doppel-
ter Pukelsheim» bezeichnet. Eskommt
heute in Zürich, im Aargau und fünf
weiteren Kantonen zum Einsatz. Nach
diesem Modell hätten kleinereParteien
wesentlich grössere Chancen, weil die
Sitze zuerst landesweit – über alle Kan-
tone hinweg – proportional zu den Stim-
menanteilen aufgeteilt würden.
Damit würde es sich zum Beispiel
sogar in Schwyz lohnen, SP zu wählen.
Diese Stimmen verhelfen der SP zwar
kaum in Schwyz zu einem Sitz, mög-
licherweise aber in einem anderen Kan-
ton .Allerdings hat dasVerfahren auch
Nachteile. Damit das Ergebnis insge-
samt stimmt, müssten in Einzelfällen in
ein em Kanton kleinere Unebenheiten
zwischen Sitzzahl und Stimmenanteil
hingenommen werden. Ob dasParla-
ment eine solcheReform wagen wird?
Wahrscheinlicher ist, dass dieParteistra-
tegen auch 2023 unterAufbietung aller
Excel-Kenntnisse nach der perfekten
Listenverbindung forschen werden.

Irreführende Allianzen
Kommentar auf Seite 11

Die Deals derParteien bewirkenwahrscheinlich mehr als bisher vermutet. C. RUCKSTUHL/NZZ
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