Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

Samstag, 9. November 2019 ZÜRICH UND REGION 17


Das Bundesgericht spricht einen fehlbaren Fluglotsen


überraschendfrei SEITE 19


Von der Millionenbeute fehlt jedeSpur,


aber einer derRäuber kommt jetzt ins Gefängnis SEITE 21


Die Goldküste ist spendierfreudig


Die Stadt Zürich will ihre Beiträg e für die Entwicklungshilfe stark erhöhen – sie nimm t sich dabei ein Beispiel an Herrliberg


Die Mehrheit derKommunen


im Kanton Zürich spendet gar


nichts. So auch Kilchberg, die


Gemeinde mit dem tiefsten


Steuerfuss.


DANIEL FRITZSCHE


Politischsind die Goldküstengemeinde
Herrliberg und die Stadt Zürich sel-
ten einer Meinung. Zu unterschied-
lich ticken derWohnort vonSVP-Vor-
denker Christoph Blocher und dierot-
grüne Grossstadt. Doch in einem Punkt
könnten sich die ungleichenKommu-
nen bald annähern. Am 17.Novem-
ber stimmt die Stadtbevölkerung dar-
über ab, ob jährlich ein fixer Betrag bis
zu einem Steuerprozent für die Ent-
wicklungshilfe ausgegeben werden soll.
Herrliberg ke nnt seit bald zwanzigJah-
ren eine ähnliche Lösung.


Es war der 10.Juni 20 01, als die Herr-
liberger an der Urne mit 65 Prozent der
sogenannten «Steuerprozent-Vorlage»
zustimmten– ob wohl dieRechnungs-
prüfungskommission davon abriet.Seit-
her spendet die finanzstarke Gemeinde
jedesJahr einen Betrag von bis zu maxi-
mal 500000 Franken für «soziale und
kulturelle Projekte», inbegriffen ist die
In- undAuslandhilfe.


44 Franken pro Kopf


Die Regelung führt dazu, dass die See-
gemeinde proKopf überdurchschnitt-
lich viel spendet (siehe Grafik). Im letz-
ten Jahr waren es gemässAuflistung des
kantonalen StatistischenAmtes44 Fran-
ken für jede und jeden der rund 60 00
Einwohnerinnen und Einwohner. Auch
andere Goldküstengemeinden wieKüs-
nacht, Zollikon, Erlenbach, Zumikon
und Meilenreihen sich unter die zehn
spendierfreudigsten Kommunen des
Kantons ein.
Die Stadt Zürich liegt mit 8Franken
pro Einwohner derzeit auf dem zwölf-
ten Platz,könntesich abernach An-
nahme der Ein-Prozent-Vorlage nach
vorne arbeiten. In absoluten Zahlen
ist die Stadt mit 3,25 MillionenFran-


ken schon heute die alleinige Spitzen-
reiterin im Kanton. Und bei einemJa
am 17.Novemberkönnte sich der Be-
trag auf gegenwärtig bis zu18 Millionen
Franken erhöhen.
Doch selbst18 Millionen verblassen
im Vergleich zu den Summen, die der
Bund allein für dieAuslandhilfe bereit-
stellt.Rund 3 MilliardenFranken waren
es im vergangenenJahr.Angesichts die-
ser frappanten Unterschiedekommt
immer wieder dieFrage auf,obesüber-
hauptsinnvoll ist, dass Gemeinden von
sich aus Gelder für Hilfsaktionen spre-
chen.Ist das nicht blossein Tropfen auf
den heissen Stein, der wenig bewirkt
und in erster Linie das eigene Gewissen
beruhigen soll?
Für Herrliberg bewähre si ch die
Regelung aus demJahr 2001, sagt der
Gemeindeschreiber Pius Rüdisüli.
Man wolle auch in Zukunft daran fest-
halten. Unterstützt würden primär Pro-
jekte in der Schweiz,vor allem im Kan-
ton Zürich, aber auch einige kleinere im
Ausland. «Es sind Hilfswerke, die der


Bund weniger auf dem Schirm hat», sagt
er. Und wenn sie einen gewissen Bezug
zu Herrliberg hätten, umso besser.
Als finanzstarke, privilegierte Ge-
meinde sieht sich das Dorf ein Stück
weit zur Grosszügigkeit verpflichtet. In
der Abstimmungszeitung zur «Steuer-
prozent-Vorlage» hiess es 2001: «In
Anbetracht der sehr gutenFinanzlage
möchte der Gemeinderat ein Solida-
ritätszeichen setzen.» Damals hatte
Herrliberg mit 70 Prozent den tiefsten
Steuerfuss imganzen Kanton.DieRege-
lung solltegelten,solange die Gemeinde

zu den zehn steuergünstigsten im Kan-
ton zählt.Dasist bis heute derFall.

DieWirkungverpufft


Steuergünstig und finanzstark ist auch
Kilchberg am linken Zürichseeufer.
Die Gemeinde hat gegenwärtig mit 72
Prozent gar den tiefsten Steuerfuss des
Kantons, verzichtet aber gänzlich auf
jährliche Hilfsbeiträge. Man spende ab
und zu bei aussergewöhnlichenVorfäl-
len, zuletzt etwa beim Bergsturz von
Bondo, sagt der langjährigeFinanzvor-

steher Dieter H. Lehner. Dabei gehe es
aber um kurzfristige Direkthilfe, nicht
um ein «Giesskannenprinzip», wie es an-
dere Gemeinden praktizierten.
Lehner vertritt die Ansicht, dass
die Entwicklungshilfe Sache des Bun-
des sein sollte. «Dort gibt es die nöti-
gen Strukturen, um mit den vorhande-
nen Mitteln auch effektiv etwas zu er-
reichen.»Wenn jedes Dorf und jede
Stadt auch noch Kleinstbeträge spen-
deten, verpuffe dieWirkung. «Entwick-
lungshilfe muss gutkoordiniert sein»,
sagt Lehner.

Der freisinnige Finanzvorsteher
spricht einen weiteren Punktan. Kilch-
berg zeige sich durchaus solidarisch;
jährlich zahle die Gemeinde einen gros-
sen Betrag in den kantonalenFinanzaus-
gleich ein.NächstesJahr werden es rund
40 MillionenFranken sein. Eine der
Nutzniesserinnen ist die Stadt Zürich,
die insgesamt rund 400 MillionenFran-
ken an Zentrumslastenausgleich erhält.
«Wenn die Stadt nun fix jedesJahr Geld
in dieAuslandhilfe steckt, ist dies nicht
im Sinne des Erfinders», findet Lehner.
Man könne fast schon von einer Zweck-
entfremdung derFinanzausgleichsgel-
der sprechen. Als Gemeindevertreter
habe man sich zuallererst um die Be-
dürfnisse der eigenen Einwohnerinnen
und Einwohner zu kümmern;Ausland-
hilfe gehöre in derRegel nicht dazu.
Kilchberg steht mit dieser Meinung
nicht allein. Die Mehrheit der Zürcher
Gemeinden – rund 60 Prozent – spen-
dete 2018 keinen einzigenFranken.Dar-
unter finden sich auch grössereKom-
munen wie Kloten, Embrach,Bassers-
dorf,Affoltern undRüti.Winterthur als
zweitgrösste Stadt im Kanton wendete
nur rund 100000 Franken für Hilfs-
aktionen auf, also rund einenFranken
pro Einwohner.
Entwicklungsgelder sind für dieKom-
munenkeine zwingendenAusgaben.
Oft werden sie in angespanntenFinanz-
lagen heruntergefahren und inrosigen
Jahren wieder erhöht.Für Schlagzeilen
sorgte 2012 die Zolliker Gemeindever-
sammlung, welche die Entwicklungshilfe
strich, um den Steuerfuss möglichst tief
zu halten.Von «fehlendem Gemeinsinn
der Millionäre» war daraufhin dieRede
und voneiner «Entsolidarisierung der
Gesellschaft in privilegiertenVorstad t-
gemeinden». Heute zahlt Zollikon wie-
der – und mit19 Franken pro Einwoh-
ner auch nicht zu knapp. Die Nachbar-
gemeinde Zumikon leistet zwar immer
noch Hilfsbeiträge, hat sie aber auf
letztesJahr hin drastisch gekürzt, von
175000 auf 75000 Franken.Auch dort
gab esVorwürfe wegen «mangelnder
Solidarität».

BeschränkteRessourcen


DinaPomeranz blickt mit etwas Ab-
stand auf die Diskussion. Sie ist Assis-
tenzprofessorin an der Universität
Zürich und forscht zuFragen der Ent-
wicklungsökonomie undFinanzwissen-
schaften, aktuell mit Projekten in Chile,
Ecuador undKenya. «Es ist eine Stärke
unseresföderalenSystems,dassjedeGe-
meinde für sich entscheiden kann,ob sie
sich in der Entwicklungshilfe betätigen
will oder nicht», sagt sie. Eine interna-
tional vernetzte Stadt wie Zürichkönne
andereAkzentesetzenals ein Dorf auf
dem Land. Die Ein-Prozent-Vorlage in
Zür ich, diePomeranz inhaltlich unter-
stützt , könne andere Gemeinden dazu
motivieren, auch aktiver zu werden.
Falls sich Gemeinden in dasFeld der
Entwicklungshilfe vorwagten,empfiehlt
Pomeranz, mit etabliertenPartnern zu-
sammenzuarbeiten. NeueForschungs-
methodenkönnten dazu sehr aussage-
kräftig sein. Gute Evidenz gebe es zum
Beispiel über Projekte im Gesundheits-
und Bildungsbereich. Dort könnten
auch kleine Beträge Grosses bewirken,
sag t die Ökonomin. «100000 Franken
sind in anderenLändern unter Umstän-
den ein Vielfaches wert wie bei uns.»
Der Bund unterstützt lokale Initiati-
venimBereichEntwicklungshilfegrund-
sätzlich ebenfalls, wie dasAussendepar-
tementaufAnfrageerklärt.DasEngage-
ment aller Staatsebenen – Bund,Kanton
undGemeinden–seivongrosserBedeu-
tung. Eine Herausforderung stelle aber
bisweilen die Qualitätssicherung dar, da
besonders kleine Gemeinden über be-
schränkte Ressourcen verfügten.

Ein-Prozent-Vorlage


Stadtzürcher Abstimmung
vom 17. No vember 20 19


Stadt Zürich spielt
wieder Weltretterin
Kommentar auf Seite 11

Herrliberg (imVordergrund) und Horgen (auf der anderen Seeseite) habenzweiverschiedene Blickwinkel. CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ
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