Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

Samstag, 9. November 2019 ZÜRICH UNDREGION 19


BUNDESGERICHT


Ein Lotse kann aufatmen


Überraschender Freispruch eines Flugverkehrsleiters, der zwei Jets auf sich kreuzenden Pisten gleichzeitig den Startbefehl gab


MICHAELVON LEDEBUR


Drei Fluglotsen haben sich in jünge-
rer Zeit vor Schweizer Gerichten ver-
antworten müssen. In zweiFällen ging
es um gefährliche Annäherungen von
Flugzeugen in der Luft. Der dritteFall
ist anders gelagert. Ein heute 37-Jähri-
ger hatte an einem Märznachmittag im
Jahr 2011 zweiSwiss-Jets auf sich kreu-
zenden Pisten am FlughafenZürich die
Startfreigabe erteilt. Zu einer Annähe-
rung kam es nicht; dennoch wurde der
Lotse angeklagt. DasBezirksgericht
Bülach sprach ihn frei, das Obergericht
hingegen verurteilte ihn wegen fahr-
lässiger Störung des öffentlichenVer-
kehrs zu einer bedingten Geldstrafe.
Nunkommt das Bundesgericht erneut
zu einemFreispruch. Überraschend ist,
wie das Gericht dasVerdikt begründet.
Es weicht damit von einer jahrzehnte-
langen Praxis ab.


KeineKollisionsgefahr


Der Umstand,dass zwei Flugzeuge wäh-
rend einiger Sekunden aufeinander zu-
rasten, spielt in der Argumentation
schon langekeine Rolle mehr. EineRe-
konstruktion durch die Schweizerische
Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust)
hat aufgezeigt, dass es auch dann zu
keiner Kollision gekommen wäre, wenn
beide Maschinen gestartet wären.In der
Realität war es so, dass die Crew des spä-
ter startenden Flugzeugs die vonrechts
herannahende Maschine erkannte und
den Start abbrach.Diekonkrete Gefahr
einerKollision bestand also nicht.
Für den Schuldspruch entscheidend
war dieFrage des Startabbruchs. Der
Pilot hatteden Start nämlich vonsich
aus abgebrochen. Zu diesem Zeitpunkt
suchte der Lotse imTower noch fieber-
haft nach der Ursache eines bimmeln-
den Alarmsignals. Erst zwei Sekunden
nach dem Startabbruch gab er dem Pi-
lot den entsprechenden Befehl – zu
spät. Hätte der Pilot nicht von sich aus
reagiert,wärendieseSekundenentschei-
dendgewesen.IndiesemZeitraumhätte
das Flugzeug weiter anFahrt zugelegt.
Es hätte eine Geschwindigkeit erreicht,
bei der ein Abbruch nicht mehr gefahr-
los möglich gewesen wäre. Das Zürcher
Obe rgericht befand deshalb,der Flug-


lotse habe die Besatzung und diePassa-
giere in Gefahr gebracht.
Der ZürcherAnwaltPeter Ettler, der
den Lotsen verteidigt, zweifelt in seiner
Beschwerde vor Bundesgericht diese
Lesartan: Es seikeineswegs sicher,dass
der Pilot den Start auf Geheiss des Lot-
sen abgebrochen hätte – im Gegenteil:
Anweisungen derSwiss verböten Pilo-
ten einen Startabbruch ab einer gewis-
sen Geschwindigkeit. Der Pilot hätte
also den Lotsenbefehls ignoriert und
wäre gestartet – gefahrlos.

Absage an Hypothesen


Die Verteidigung stellte das Szenario
eines Startabbruchs bei hohemTempo
somit als lediglich eine weitere, unplau-
sible Hypothese dar. Das dürfte beim
Bundesgerichtsentscheid insofern eine

Rolle gespielt haben, als das Gericht
relativ lapidar sämtlichen Hypothesen
eine Absage erteilte. Zwar treffe es zu,
dass der Schaden nicht eintreten müsse,
damit es zu einerVerurteilungkomme.
Aber einekonkrete Gefahr müsse schon
bestanden haben. Eine hypothetische
Gefahrrechtfertigekeine Verurteilung.
Gemäss bisherigerRechtsprechung
konnte sich ein Beschuldigter nicht dar-
auf berufen, dass die Gefahr durch das
Verhalten eines Dritten abgewandt wor-
den sei. Das Bundesgericht zitiert den
einschlägigenRechtskommentar in der
Urteilsschrift selbst, wonach derTat-
bestand auch dann erfüllt sei, wenn der
Schaden «durch Zufall oder dasVerhal-
ten eines Beteiligten verhindert worden
ist». Dennochkommt es zum Schluss, es
entlaste den Lotsen «sehr wohl», dass
du rch da s Handeln des Pilotenkeine

konkrete Gefahr für Leib und Leben
eingetreten sei. Man kann darin einen
ge wissenWiderspruch sehen.
Ettlerist verblüfft über diese Argu-
mentationslinie.Erselbst hätte es nicht
gewagt,so zu argumentieren, sagt er.
Seit Jahrzehnten sei die Rechtspre-
chung diesbezüglich einheitlich. Diesen
Kurs hatte das Bundesgericht in einem
Fall festgelegt, bei dem es um ein gefähr-
liches Überholmanöver im Strassenver-
kehr ging. Der überholende Lenker fuhr
auf die Gegenfahrbahn. Glimpflich ging
der Vorfall aus,weil der Lenker des ent-
gegenkommenden Fahrzeugs beson-
nen reagierte.Der überholendeFahrer
wurde dennoch verurteilt. Seither galt,
dass es dem Beschuldigten nichts nützt,
wenn andere eine Gefahr abwenden.
Diese Gewissheit sei nun umgestos-
sen worden, sagt Ettler, auch wenn ab-

zuwarten bleibe, ob das Bundesgericht
die Praxis mi t diesem Urteil weiter-
entwickle. Jedenfalls habe das Gericht
«die Luft» aus dem «barocken Hypo-
thesengebilde» herausgelassen, dass die
Staatsanwaltschaft errichtet habe. Ent-
scheidend sei einzig, was tatsächlich pas-
siert sei. Der Flugsicherung gebe dieses
Urteil eine gewisse Sicherheit zurück.
Nach Einschätzung Ettlerskönnte
das Urteil für die Flugsicherung weg-
weisende Bedeutung haben. Skyguide-
SprecherRaimundFridrich sagt, man sei
sehr froh über das Urteil.DessenFolgen
müsse man aber erst analysieren. Sky-
guide kämpft seitJahren für eine«just
cul ture» , also denRechtsschut z bei der
Meldungvon Zwischenfällen. Nachhol-
bedarfhätten die Gerichte bei der An-
erkennung von Sicherungssystemen,die
Annäherungen von Flugzeugen selb-
ständig auflösten und so verhinderten,
dass eine ernstliche Gefahr entstehe,
sagt Ettler. Der Flugsicherung Sky-
guide werde er jedenfalls empfehlen,die
Funktionsweise dieserSysteme in künf-
tigenFällen zu thematisieren.

Skyguidepasst Arbeitsweise an


Gelegenheit dazu hätte Skyguide in
naher Zukunft. In einem, noch vor
Obergericht hängigen Lotsenfall geht
es umein eAnnäherung.Allerdings hat
das Bundesgericht erst imJuni einen
anderen Lotsen für eine solche verur-
teilt. Dieser hatte im Luftraum über
dem Entlebuch zwei Piloten die Anwei-
sung zumAufstieg gegeben. Die Maschi-
nen kamensich nahe; die international
vorgeschriebene Pufferzone wurde da-
bei massiv unterschritten. Dies sei der
Unterschied zum aktuellen Fall, wo
keineAnnäherung vorliege,schreibt das
Bundesgericht im Urteilexplizit.
Der Vorfall im März 2011 hatteFol-
gen. Der Flughafen wurde einer umfas-
senden Sicherheitsüberprüfung unter-
zogen. Die Flugsicherung Skyguide
passte das Arbeitsumfeld an; gewisse
Schichten sind anders als früher dop-
pelt besetzt.Der Lotse arbeitet seit dem
über achtJahrezurückliegendenVorfall
im Hintergrund. EineRückkehr in den
Tower ist laut Skyguide eine Option.

Urteil 6B_332_

Skyguide verlangt einenRechtsschutz von Lotsen, dieFehlleistungenmeld en und so zuVerbesserungen beitragen. KARIN HOFER/NZZ

PAROLENSPIEGEL


Ein-Prozent-Vorlage
Soll sich die Stadt Zürich stärker in der
internationalen Entwicklungszusam-
menarbeit engagieren? Der Stadtrat
und die Mitte-links-Parteien unterstüt-
zen den Gegenvorschlag zur mittler-
weile zurückgezogenen Ein-Prozent-In-
itiative. Demnach soll die Stadt bei guter
Finanzlage künftig jährlich mindestens
0,3 bis maximal 1 Steuerprozent für
Hilfsbeiträge bereitstellen. Gegenwär-
tig entspräche dies einem Betrag von 6
bis 18 Millionen Franken (letztesJahr
waren es 3 MillionenFranken). Die
Gegnererachten die Entwicklungshilfe
nicht alskommunaleAufgabe.Die NZZ
empfiehlt ein Nein.


Ja SP, GP, GLP, AL,EVP
Nein FDP, SVP


Sozialzentrum Wipkingen
Die Stadt will an derRöschibachstrasse
ein neues Sozialzentrum für dieKreise
6 und10 einrichten,weil das bestehende
zu kleingeworden ist.Abgestimmt wird
über einen Gesamtkredit von 60 Millio-
nen Franken.Die Gegner kritisieren die
hohen Umbaukosten, trotzdem tritt die
NZZ für einJa ein.

Ja SP, GP, GLP, EVP
Nein FDP, SVP
Stimmfreigabe AL

Schulhaus Manegg
Das Wachstum Zürichs hat zurFolge,
dass viele zusätzliche Schulhäuser ge-
baut werden müssen. Diesmal geht es
um eine Anlage im Entwicklungsgebiet

Manegg für 250 Schülerinnen und Schü-
ler. Der Gesamtkredit beträgt 57,3 Mil-
lionenFranken. Die NZZ ist für einJa.

Ja SP, GP, GLP, AL,FDP, SVP, EVP

ForensischesInstitut
Die kriminaltechnischen Abteilungen
von Stadt- und Kantonspolizei arbeiten
seit einigenJahren zusammen. Nun soll
auch dieRechtsform angepasst werden.
Vorgeschlagen ist die Schaffung einer
eigenständigen Organisation mit eige-
nem Budget undPersonal. Die Gegner
finden die vorgeschlageneRechtsform
ungeeignet. Die NZZ empfiehlt einJa.

Ja SP, GP, GLP, AL, FDP
Nein SVP, EVP

Doch kein Schulhaus


in der Grünau?


Nach Anwohnerprotes t legt Zürich das Projekt auf Eis


mvl.· Auf der grössten freien Fläche
im Grünauquartierin Zürich Altstet-
ten sollte einneuesSchulhaus entste-
hen. Das«Tüffenwies» hätte 24 Sekun-
darklassen und mehr als 500 Schülerin-
nen und Schülern Platz geboten.Da-
gegen setzten sich Anwohner zurWehr.
Sie sprachen von einem «Ufo», das im
Begriff sei, zu landen.
Die Stadt drohedie letzte grosseFrei-
fläche im Quartier zu verbauen.«Das ist
unsere Josefwiese», sagte derAnwohner
Daniel Zeller gegenüber der NZZ. Es
mangle bereits jetzt anFreiräumen.Tat-

sächlich sind dierund3700 Einwohner
der Grünau quasi eingeschlossen zwi-
schen Limmat,Europabrücke, Auto-
bahnauffahrt und Kläranlage.
Ziel der Anwohner war es, das Pro-
jekt «spätestens im Gemeinderat zu
stoppen». Nunkommt es aus Sicht der
Anwohner noch besser.Wie die Zei-
tung «ZürichWest» schreibt, stoppt die
Stadt das Projekt. Nicht nur die Grösse
sollüberprüftwerden,sondernsogarder
grundsätzlicheStandortdesSchulhauses.
Der Stadtrat werde im Mai darüber in-
formieren, wie es weitergehe.

66.Zürcher Wein-Ausstellung


  1. Oktober bis14.November 2019,12 Schiffe amBürkliplatz Zürich


Über 4000Weine, Degustationen und Spezialitäten-Restaurants http://www.expovina.ch

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