Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

Samstag, 9. November 2019 WIRTSCHAFT 27


Polen ist nicht mehr nur eine «verlängerte Werkbank»


des Westens – das zeigt sich am Beispiel der UBS SEITE 29


Im süditalienischen Tarent streiken die Stahlarbeiter –


10 000 Stellen stehen auf dem Spiel SEITE 30


Ein gesundheitspolitisches Luftschloss


Die USA leisten sichein teures Gesundheitswesen, zu dem nicht alle Zuganghaben – die Demokratin Elizabeth Warrenwill das ändern


MARTIN LANZ,WASHINGTON


Demnächstkreuzendieweiterhinzahlrei-
chen demokratischen Präsidentschafts-
kandidaten in einerFernsehdebatte die
Klingen.Topthema werden das Kranken-
versicherungswesen und die hohen Ge-
sundheitskosten sein.Das Gesundheits-
wesen in den USA ist teuer,komplex und
lückenhaft. Zwar ist über die Hälfte der
Bevölkerung via den Arbeitgeber privat
krankenversichert,undgegen40%haben
eine staatliche Deckung.Aber fast jeder
Zehnte hatkeine Versicherung.
DerReformbedarf ist unbestritten.
Die beiden Senatoren Bernie Sanders
und ElizabethWarren fordern deshalb
einenradikalen Umbau.Das gegenwär-
tige Mischsystem,das mitVersicherungs-
prämien und Steuern finanziert wird,
würde ersetzt durch ein staatliches, fast
ausschliesslich steuerfinanziertes Ein-
heitssystem, dem «Medicare for All».


Viel Zahlenakrobatik


Die Idee ist populär,weil vielemit dem
System unzufrieden sind, die ursprüng-
liche, 1965 eingeführte staatliche «Al-
tenkrankenversicherung» Medicare
aberrecht gut funktioniert. Derzeit sind
50 Mio.Amerikaner altersbedingt (An-
spruchsberechtigungab65Jahren)und10
Mio. Amerikaner behinderungsbedingt
via Medicare versichert,das sind18% der
Bevölkerung. Die Medicare-Ausgaben
betrugen 2018 rund700 Mrd. $ oder 20%
der Gesundheitsausgaben.
WarrenundSandersschlagennunvor,
Medicare zur staatlichen Universalge-
sundheitsversicherung zu machen. Diese
würde auch dieLangfristpflege, Hör-,
Seh- und Zahnversicherungen abdecken.
Was aber würde ein solchesSystemkos-
ten, und wiekönnte man es finanzieren?
Lange vermiedenWarren und Sanders
eine Antwort. Die Senatorin aus Massa-
chusetts hat nun aber denBann gebro-
chen. Zentral sind Schätzungen zum er-
wartetenMehraufwandfürdenBund,die
in den USA üblicherweise fürPerioden
von 10Jahren vorgenommen und dann
mit dem Status quo verglichen werden.
Weil die US-Gesundheitsbehörden noch
keine Prognosen für diePeriode2020–
2029 vorgenommen haben, werden die
Zahlen desThink-Tank Urban Institute
(UI) alsReferenz betrachtet.
Die UI-Experten schätzen, dass die
nationalen Gesundheitsausgaben inden
kommenden zehnJahren total 52 Bio.$
betragen, wenn sich amRecht undSys-


tem nichts ändert. EinSystem mit einer
staatlichen Einheitskrankenkasse würde
laut UI dagegen 59 Bio.$kosten. Unter
«MedicareforAll»würdederBundeiner-
seits sämtlicheAusgaben von geschätzt
27 Bio.$über nehmen,dievondenGlied-
staaten und denPrivaten getragen wer-
den.Anderseitswürde«M4A»gegenüber
dem Status quo wegen des grosszügigen
Leistungsangebots zu staatlichen Mehr-
ausgaben von7Bio.$führen.
Diese 34 Bio.$ müsste der Bund
nun gemäss Urban Institute zusätzlich
mobilisieren. Es gibt Schätzungen,die
von einem geringerenFinanzierungs-
bedarf ausgehen,aberauch solche, wel-
cheMehrkostensehen.DieSpannereicht
von13,5 Bio.bis36 Bio.$.Auspolitischen
Gründenversucht sich ElizabethWarren
eher am unteren Rand zu bewegen. Sie
hat deshalb, ausgehend vom 34-Bio.-$-
VoranschlagdesUrbanInstitute,ihreBe-
rater Massnahmen identifizieren lassen,
welchedieMehrausgabendesBundesfür
die Periode 2020–2029 auf 20,5 Bio.$be-
schränken würden.

Dabei argumentierenWarren und
ihre Berater, dass unter dem gegenwär-
tigenSystem sehr viel mehrVerschwen-
dung und Abzockerei stattfindet, als die
Experten des Urban Institute eruiert
haben.SobehauptetWarren,dass«M4A»
die PreisevonrezeptpflichtigenArzneien
inVerhandlungenmitderPharma-Indus-
trie viel stärker drückenkönnte,als es UI
annimmt, und dass damit über 10Jahre
1,7 Bio.$einzusparen wären.Sparpoten-
zial siehtWarren auch beimAdminis-
trativaufwand:Während lautihrer Kam-
pagne dieVerwaltungsausgaben privater
Versicherer 12% der Prämieneinnahmen
erreichen,sind nur 2,3% der derzeiti-
gen Medicare-Ausgaben administra-
tiver Natur. Würde der Medicare-Mass-
stab künftig systemweit angewandt, lies-
sen sich lautWarren 1,8 Bio.$einsparen.
Falls der Bedarf an staatlichen Mehr-
ausgaben «nur» auf 20,5 Bio.$zu liegen
käme, wie würde dies finanziert? Die
Senatorin aus Massachusetts hatte bisher
versprochen,derMittelklassemit«M4A»
keine zusätzlichenLasten aufzubürden.

WarrensFinanzierungsvorschläge fal-
len in vier Kategorien: direkte Beiträge
an «Medicare for All», Unternehmens-
steuern, Individualsteuern undRefor-
men. Herzstück ist dabei die Idee, dass
Firmen mit 50 oder mehr Angestellten
künftig Beiträge direkt an den Staat leis-
ten würden, statt wie bisher Prämien an
private Krankenversicherer auszurich-
ten. Diese Arbeitgeberbeiträge würden
auf Basis der bisherigen durchschnitt-
lichen Gesundheitsausgaben pro Ange-
stelltererrechnetundsollenüber10Jahre
8,8 Bio.$ einbringen. Weil den Arbeit-
nehmern unter «M4A» künftigkeine
privaten Krankenversicherungsprämien
mehr vom Lohn abgezogen würden,stie-
gen deren steuerbare Einkommen.Das
soll zusätzliche 1,4 Bio.$einbringen.

EinWust neuerSteuern


Im Bereich der Unternehmenssteuern
würdeWarrengewisseÄnderungenrück-
gängig machen, die aus der«Tax Cuts and
JobsAct»-Reform derRepublikaner von

2017 resultierten. So würde die Möglich-
keit zur beschleunigten Abschreibung
und Amortisation vonInvestitionenwie-
der aufgehoben, wie auch der Gewinn-
steuersatz von 21% wieder auf 35% zu-
rückkehren und als länderweiser Min-
destsatz für imAusland erzielte Ge-
winnegälte. Darüber hinaus willWarren
eine Risikosteuer fürFinanzinstitute mit
Aktiven von mehr als 50 Mrd. $ einfüh-
ren,die 0,15% auf derenVerpflichtungen
betragen würde. Zusammen sollen diese
Massnahmen3Bio.$einbringen.
Bei der Individualbesteuerung sieht
Warren eine Mehrbelastung derVer-
mögendsten vor. Unter ihremVorschlag
für eineVermögenssteuer würden Netto-
vermögen über 50 Mio.$zu 2% und sol-
che über1Bio.$zu 3% besteuert. Neuer-
dings solldie Steuerauf Vermögen über
1Bio.$ auf 6% steigen, was 1Bio.$ an
Mehreinnahmen bringen soll.Darüber
hinaus soll das vermögendste Prozent
aller Haushalte künftig jährlich Kapital-
gewinnsteuern nicht nur aufrealisierten,
sondern auch auf Buchgewinnen zahlen.
Diese Haushalte hätten zudemkeinen
Anspruch mehr auf dieVorzugsbedin-
gungen bei der Besteuerung von Kapital-
gewinnen.Ausdiesen Massnahmen sol-
len Mehreinnahmen von2Bio.$für den
Staatresultieren. SchliesslichsetztWar-
ren auf eineReihe weitererReformen,
mit denen während zehnJahren über
4Bio.$generiert werden sollen.
«Reflexe», Seite 38

Die Demokratin ElizabethWarren möchte eine staatliche Krankenversicherung für alle. ANDREW HARRER / BLOOMBERG

Nun gilt es ernst im Wettbewerb mit Nachahmerprodukten


Der Basler Pharmamulti Roche muss sichin den USA neu bei allen drei umsatzstärkstenMedikamentenmit Biosimilars herumschlagen


DOMINIK FELDGES


«Sag hallo zum schlimmsten Szenario für
Roche»hatderamerikanischeBranchen-
Newsletter«FiercePharma»dieseWoche
einenBerichtzumBaslerPharmakonzern
betitelt. Es ging um die Nachricht, wo-
nach nun alle drei grössten Umsatzträger
des Unternehmens in den USA derKon-
kurrenz von Nachahmerprodukten aus-
gesetzt sind. Die weltgrösste Generika-
firma,TevaPharmaceuticals,wirdnächste
Woche mit ihrem südkoreanischenPart-
ner Celltrion erstmals ihr ProduktTru-
xima aus der Kategorieder sogenannten
Biosimilars amerikanischen Krebsärzten
zur Verschreibung anbieten.DasPräpa-
rat ist dem Medikament Mabthera/Ritu-
xan nachempfunden, dasRoche allein in
den ersten neun Monaten diesesJahres
5Mrd. Fr. – 3,9 Mrd.davon in den USA–
an Einnahmen verschafft hat.


Im Juli 20 19 hatte ein anderesKon-
sortium, der US-Biotechnologiekonzern
Amgen und der ebenfalls amerikanische
Generikaanbieter Allergan, mit derVer-
marktung von Biosimilars für Hercep-
tin undAvastin begonnen. Diese beiden
Krebsmedikamente steuerten in den zu-
rückliegenden drei Quartalen zusammen
10,2 Mrd.Fr. (4,5 Mrd.Fr. davon im US-
Markt) zum Gesamterlösbei. Insgesamt
machten dieVerkäufe vonAvastin, Her-
ceptin und Mabthera 33% desKonzern-
erlöses von 46,1 Mrd.Fr. aus.

Es steht viel auf dem Spiel


Wenn nunFirmen mit einer grossenVer-
kaufsmannschaft Nachahmerprodukte
für gleich alle drei umsatzstärksten Prä-
parate vonRoche im grössten Gesund-
heitsmarkt derWelt zu lancieren begin-
nen, steht für den Pharmariesen einiges

auf dem Spiel. Dies gilt erstrecht mit
BlickaufdieProfitabilität,stehendiedrei
Medikamente wegen ihrer hohen Preise
und riesigenVerkaufsvolumen doch seit
langem imRuf, besonders margenstarke
Produkte zu sein.DieAufwendungen für
die Erforschung und Entwicklung dürfte
Roche längst eingespielt haben.
Allerdings fragt sich, obRoche alle
Felle davonzuschwimmen drohen,wie

die alarmistische Überschrift von «Fierce
Pharma» andeutet. Der täglich erschei-
nende Branchen-Newsletter ist bekannt
für seine Zuspitzungen.Wer sich selber
«böse»(fierce)nennt,kannwohlauchgar
nicht anders.Weitaus gelassener haben
Anleger dieseWoche reagiert. DerKurs
der Genussscheine war am Dienstag zum
Stand vonFr. 298.50 sogar auf ein neues
Allzeithochgestiegen.ImWochenverlauf
entwickelte er sich stabil.

Wie reagieren die Ärzte?


Investoren scheinen weiterhin darauf zu
vertrauen,dass es dem Unternehmen ge-
lingen wird, Mindereinnahmen im Ge-
schäft mit den langjährigen Spitzenpro-
dukten durch zusätzlicheVerkäufe in der
Vermarktung von jüngeren Medikamen-
tenwiedenbeidenKrebsmittelnKadcyla
undTecentriq mehr als zukompensieren.

SogehtderMarktlautden–inderDaten-
bank von Bloomberg erfassten – durch-
schnittlichen Schätzungen vonFinanz-
analytikern davon aus,dass Roche bis
2022 denKonzernerlösJahr fürJahr stei-
gern wird. Doch weichen die Prognosen
te ilweisedeutlichvoneinanderab.Esgibt
auch Finanzanalytiker,die schonnächstes
Jahr mit sinkendenVerkäufenrechnen.
Voraussagen zum Geschäft mitRoche
zu machen, ist insofern schwierig, als die
BranchemitBiosimilarsindenUSAweit-
gehend Neuland betritt. In Europa sind
entsprechendeProdukteschonlängerauf
dem Markt. Die Umsätze vonMabthera
und Herceptin sind in dieserVerkaufs-
region denn auch prompt eingebrochen,
wie sich im jüngsten Zwischenbericht
von Roche gezeigt hat. Bei amerikani-
schenÄrzten, die mit Biosimilars noch
kaum vertrautsind, dürfte noch einiges
an Überzeugungsarbeit zu leisten sein.

PrivatsektorschwingtindenUSA
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QUELLE: PETERSON-KAISER HEALTHSYSTEMTRACKER

15

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Roche-Genusschein, in Fr.

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