Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

30 WIRTSCHAFT Samstag, 9. November 2019


Stahlarbeiter streiken für Hochöfen –


Umweltschützer fordern deren Stilllegung


Im süditalienischen Tarent will ArcelorMittal bis zu 10 000 Stellen streichen


ANDRESWYSLING,TARENT


Im Stahlwerk vonTarent wird amFreitag
gestreikt.DieGewerkschaftenwollendie
droh ende Schliessung des Grossbetriebs
mit 10000 Angestellten abwenden. Der
luxemburgisch-indischeKonzern Arce-
lorMittal hatte dieseWoche den gänz-
lichen oder zumindest einenTeilrückzug
vom Standort angekündigt.
Auf den Parkplätzen stehen weni-
ger Autos als sonst, der Betrieb scheint
reduziert,stehtabernichtstill.Wieimmer
steigenRauch- undDampfwolken in den
blauenHimmel.VordemFabriktorNum-
mer1stehen vier Gruppen von Leuten:
ArbeitermitFahnen,ausserdemUmwelt-
schützer, Polizisten,Journalisten, insge-
samt sind es knapp fünfzigPersonen.
Unter den Arbeitern ist eine laut-
starke Diskussion im Gang, sie strei-
ten über die einzuschlagende Strategie.
«DieGewerkschaftenkönnenjagarnicht
mehr die Massen mobilisieren», stellt
einer fest.Ein anderer meint,dieArbeits-
kultur im Süden sei unterentwickelt und
die Streikkultur ebenfalls. Ein Anarchist
mit schwarzer Kleidung und schwarzer
Fahnebefindet:«EsgibtzuvieleGewerk-
schaften.» Jemand ruft zu Einigkeit auf.
Bei den Umweltschützern stehen vor
allemFrauen.Sieforderndas,wasdieGe-
werkschafter verhindern wollen,nämlich
die Schliessung desWerks. Die Dreck-
schleuder müsse weg, meinensie,Tarent
brauche neue, saubere, moderne Indus-
trie.Auf einemTransparent stehen Zah-
len: Danach gibt es inTarent 54% mehr
Tumore bei Kindern unter14 Jahren als
sonst in derRegion, 45% mehr Erkran-
kungen vonSchwangeren, eine um21%
höhere Kindersterblichkeit.
Die beiden Gruppen stehen nebenei-
nander, lassen sich gegenseitig inRuhe,
habensich aber anscheinend auch nichts
zusagen.SiezeigenanschaulichdenZiel-
konflikt vonTarent: Das Stahlwerk hat
Arbeit und Einkommen gebracht,aber
auch Krankheit undTod. Über sechzig
Jahre lang hat man das schulterzuckend
hingenommen.


GeradediesesJahrwurde–vermutlich
zum ersten Mal überhaupt – im grossen
StilinUmweltmassnahmeninvestiert.So-
gleich nach dem Einstieg inTarent baute
ArcelorMittaleinriesigesDachüberdem
Rohstofflager, laut Unternehmensanga-
ben kostete das gegen 200 Mio. Euro.
Das Gewölbe soll verhindern, dass wei-

terhin schädliche Staubwolken in Rich-
tung Stadt wehen. Die Investition kann
als Tatbeweis dafür gelten, dass derKon-
zern nichtvon Beginn an die Stilllegung
des Werks plante.

Der Staat soll einspringen


Die Regierung inRom will, falls Arce-
lorMittal nun wirklich abzieht, nach in-
offiziellenAngaben das Stahlwerk unter
staatlicheVerwaltung s tellen und weiter
betreiben. Anschliessend will man einen
neuen Käufer suchen.DasWerk ist der
wichtigste Arbeitgeberin Süditalien und
gilt zudem als Schlüsselelement der ge-
samtenitalienischenIndustriepolitik,wie
sieindensechzigerJahrenentworfenund
sei ther – mit wechselndem Erfolg– ve r-
wirklicht wurde. Die Stilllegung würde
angeblich das Bruttoinlandprodukt Ita-
liens um über ein Prozent vermindern.
Sie soll, das scheint in weiten politischen
KreisenKonsens zu sein, auf jedenFall
verhindert werden.
Der italienischeRegierungschef Giu-
seppe Conte hat «roten Alarm» gegeben
und erbost erklärt,Italien lassesich nicht
anderNaseherumführen.DieRegierung

pochte zunächst darauf,dassArcelorMit-
tal den vereinbarten Geschäftsplan um-
setze. Laut Wirtschaftsminister Stefano
Patuanelli sollten inTarent 6 bis8Mil-
lionenTonnen Stahlpro Jahr produziert
werden, aber, so meint er:«Sie sind un-
fähig, den Industrieplan umzusetzen.»
Die Produktion dürfte diesesJahr nur 4,5
MillionenTonnen Stahl erreichen.
Die Mittals – dieseWoche haben sie
selbstVerhandlungen mit derRegierung
in Rom geführt – schliessen offenbar die
Weiterführung desWerks inTarent in der
bisherigen Grösse entschieden aus. Sie
drohenmitdemkomplettenRückzug,mit
Rückgabe der Schlüsselan den Staat am


  1. Dezember.Allenfallserwägen sie noch
    die Weiterführung des halben Betriebs
    mit 5000 statt mit 10000 Angestellten.
    Nach diesem Szenario würden die drei
    in Betrieb stehenden Hochöfen inTarent
    stillgelegt,derKerndesStahlwerkswürde
    damitgeopfer t. Es bliebe dasWalzwerk
    für die Herstellung von Blechen.
    Die Mittals fühlen sich nicht mehr an
    den Vertrag gebunden. Sie werfen dem
    italienischen StaatVertragsbruch und
    Täuschung vor, sie fühlen sich offenbar
    selbst an der Nase herumgeführt. Letzte
    Woche erklärte dasParlament plötzlich
    Umweltvorschriften für bindend, die zu-
    vor explizit ausgesetzt waren. Zudem
    habe ,so machtder Stahlkonzern gel-


tend, schon beiVertragsabschluss jeder
Hinweis auf fällige Sicherungsmassnah-
men inTarent gefehlt.
Ein Gericht hatte nach einem töd-
lichen Arbeitsunfall imJahr 2015 bau-
licheVerbesserungen an einem der
Hochöfen verfügt.Vorgenommen wur-
den sie nicht,jedenfalls nicht vollstän-
dig.MitteDezemberläuftdieverlängerte
Frist aus, es droht dann die Schliessung
des Hochofens – und möglicherweise
sogar aller drei Hochöfen, denn sie sind
baugleich. Nun wurde eilends eine wei-
tere Fristerstreckung beim zuständigen
Gericht beantragt.
Manches deutet darauf hin, dass die
Mittals den StandortTarent aufgeben
oderreduzieren wollen, weil sich die-
ses Engagement alsFehlinvestition er-
weist.Das Werk verzeichnet monatlich
Verluste von 40bis 50Millionen Euro.
DieseVerluste müsste in nächster Zeit
der italienische Staat tragen, falls er das
Stahlwerk übernehmen will. Doch einen
zweiten Zombie wie Alitalia kann sich
Italien überhaupt nicht leisten – weder
tot noch lebendig.

«Niemand traut uns noch»


Es ist der italienische Staat selbst, der
dem Stahlkonzern ArcelorMittal die
bequeme Begründung für denAusstieg
geliefert hat.Kommentatoren weisen
darauf hin, dass wegen der herrschenden
WillkürundRechtsunsicherheitinItalien
immer wieder internationaleKonzerne
das Land verlassen. Der frühereRegie-
rungschefRomano Prodi rügt das nor-
mative «Chaos», er schreibt:«Niemand
traut uns noch.»
ArcelorMittal hatte im November
2018 das unter staatlicher Sonderver-
waltung stehende Stahlwerk inPacht ge-
nommen, im Mai 2021 sollte es gemäss
Vertrag ganz in den Besitz desKonzerns
übergehen. Bei der Übernahme wurde
die Belegschaft von 13 300 auf 10 700
Angestelltereduziert. 8200 sind es in
Tarent, derRest verteilt sich auf elf wei-
tere Standorte.

Demriesigen StahlwerkinTarent droht die Schliessung: Luftaufnahme des Areals. FABRIZIO VILLA/GETTY


250 Kilometer

ITALIEN

Rom

Tarent

NZZ Visuals/lea.

Sonnenenergie


aus dem


Häusermeer


Erdgas bleibt Rückgrat
der Singapurer Ener gieversorgung

MANFRED RIST, SINGAPUR

Aus derVogelperspektivebetrachtet,
wird sich Singapur in nicht allzu ferner
Zukunft vermutlich anders präsentieren.
Heute dominieren die grauenTöne der
Infrastruktur, die rötlichen Ziegeldächer
und das satte Grün der Natur. Bis 2030
soll eine neueFarbe dazukommen: das
Blau der Solaranlagen.Wenn es nach
demWillen der Stadtplaner geht, wird
sich der Anteil der Sonnenenergie in der
740 km^2 grossenRepublik innerhalb von
zehnJahren verzehnfachen und Ende
des nächstenJahrzehnts etwa 10% des
Energieverbrauchs decken.Damit wird
der Stadtstaat auf einem weiteren Ge-
bi et in Asien eineVorreiterrolle über-
nehmen: Ende der neunzigerJahre hatte
man konsequent auf das vergleichsweise
umweltfreundlichere Erdgas umgestellt;
bald dürfte Solarenergie zur zweitwich-
tigsten Quelle werden.
Auch in anderensüdostasiatischen
LändernbeginntSolarenergieFusszufas-
sen. Aberkein anderes Asean-Land hat
sich so ambitiöse Ziele gesetzt wie Sin-
gapur. In derRegion wird der Energie-
bedarf,derlautderInternationalenEner-
gie-Agentur seit 2000um 80% zugenom-
men hat, traditionell mitKohle gedeckt;
für die nächsten 20Jahre erwartet die Be-
hörde nochmals eine Zunahme um 60%


  • wobei die Hälfte der Steigerung durch
    Kohlekraftwerke gedeckt werden dürfte.


Eng begrenzte Alternativen


Der dieseWoche vorgestellte Plan um-
reisst Singapurs Marsch in Richtung er-
neuerbarer Energien. Doch bei näherer
BetrachtungsinddieOptionenfür«rene-
wables» auf der Insel begrenzt: Als ent-
sprechende Alternativenkommen hier
bekanntlich weder geothermische Anla-
gen nochWindturbinen oder Gezeiten-
kraftwerke infrage.AuchWasserkraftfällt
ausser Betracht. So bleibt fast nur Son-
nenenergie.
Für dieVision derRegierung gibt es
eine historischeParallele, nämlichWas-
ser.Auch hier übersteigt der Bedarf das
Angebot bei weitem. Um die Abhängig-
keit von der Zufuhr aus dem benachbar-
ten Malaysia zu verringern, setzte man
deshalbfrühaufReservoirs,Entsalzungs-
anlagen,Wiederaufbereitung sowie bes-
seresWassermanagement.Nun sind ähn-
licheInitiativen anges agt:Sonnenenergie
sollvermehrtgenutzt,gespeichertundins
St romnetz eingespeis t werden.

Erdgas und Batteriespeicher


Mit etwa 10000 Kilowattstunden pro
Haushalt verzeichnet Singapur in Süd-
ostasien zwar einen etwas geringeren
Verbrauch als die europäischenLänder,
liegt in Südostasien aber deutlich an der
Spitze; zudem steigt derKonsum weiter
massiv. Dieserwird zu95%mitErdgasge-
deckt. Das knapp6Mio.Einwohner zäh-
lendeLand verfügt derweil erst über So-
larkapazitäten von 260 Megawatt (MW).
Damit kann der Strombedarf von besten-
falls 40000 Haushalten gedeckt werden.
Bis 2030 strebt die Energy Market
AuthorityeineErweiterungauf2000MW
an.Teil dieses Programms ist derAusbau
von Speicherkapazitäten auf 200 MW.
Die Nutzung von Sonnenenergie ist in
diesen Breitengraden grundsätzlich viel-
versprechend, wenn sie auch saisonal
durchWolkenbildung beeinträchtigt ist.
Viel engere Grenzen setzt die geringe
Landesfläche. Grossflächige Solarpärke,
wie sie etwa inThailand anzutreffen sind,
sind hier kaumrealisierbar. Laut Indus-
trieminister Chan Chun Sing prüft man
deshalb den Einsatz schwimmender An-
lagen vor derKüste. Ferner könne Land,
das für Industrieparksreserviert sei, ge-
nutzt werden. Der grössteTeil des Solar-
stroms soll in Zukunft indessen von den
DächernunddenFassadenkommen:Alle
grösserenBauten, hauptsächlich öffent-
licheGebäude undWohnblöcke, die im
RahmendesHousing-and-Development-
Board-Programms(HDB)erstelltunder-
neuert werden, dürften deshalb künftig
mit Solaranlagen ausgestattet werden.

Einen zweiten Zombie
wie Alitalia kann sich
Italien überhaupt nicht
leisten – weder tot
noch lebendig.
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