Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

40 FEUILLETON Samstag, 9. November 2019


Der beste Plattenladen der Stadt war seine Universität


Britischer Alltag, in aller Bitterkeit u nd Süsse: Dem Songwriter Richard Dawson gelingt mit dem neuen Album ein Wurf


HANSPETER KÜNZLER


Eigentlich ist Richard Dawson kein
Schlagzeuger. Das hat ihn nicht da-
von abgehalten, auf dem neuen Album
«2020» alle Instrumente selber zu spie-
len.Also auch Schlagzeug. «Mir gefielen
di e Reinheit undSymmetrie eines sol-
chen Unterfangens», erklärter.
Und er verfolgte dabei eine dramatur-
gische Idee.Während er das neueReper-
toire eigentlich einsam und alleine produ-
zierte, hatte Dawson für den Schluss mit
dem Stück «Dead Dog In An Alleyway»
einen finalen Effekt aufLager: «Es ist ein
Schlüsselmoment des Albums, wenn zu-
letzt erstmals neue Stimmen anschwel-
len – die Stimmen meinerFreunde. Darin
steckt die Hoffnung, dass das Gemein-
schaftliche eine Plattform sein wird für
das, was als Nächsteskommt, ein nächs-
tes Album, ein neuer Lebensabschnitt.»


In Britannien ist man sich einig


Selten sind sich die britischen Medien so
einig wie zurzeit imFall von RichardDaw-
son. «Grossbritanniens bester, humanster
Songschreiber», titelte der «Guardian»
und verpasste dem Album die Bestnote
fünf. «2020» sei auch ein musikalisches
Pendant zumneuenFilm vonKen Loach,
«SorryWeMissedYou». Dieser spielt
ausgerechnet in Newcastle, der Stadt im
Nordosten Englands, wo RichardDawson
auf wuchs und heute noch lebt.
«Ein herzzerreissendes Meisterwerk»,
so urteilte auch der Londoner «Evening
Standard» und rühmteDawsons Musik
als «Kunst ohne Künstlichkeit,Pop
gegenPopulismus». Dieavantgardistisch
angehauchte Musikzeitung «Loud And
Quiet» schliesslich liessDawson fürs Co-
ver kurioserweise mitten in einerKuh-
herde im Gras liegend posieren und wid-
mete ihm nicht weniger als neun Seiten.
«2020» ist ein herausragendes Album,
ein Werk aber voller Gegensätze und
Widersprüche. EigentlichkommtDaw-
son vomFolk her.Allerhand süffige
Melodien zeugen weiterhin von die-
sen Wurzeln. Dann aber bringt er plötz-
lich sperrige Metal-Riffs ins Spiel oder
Rhythmen, die versetzt sind wie im Pro-
gressive-Rock der1970erJahre. Wie bei
Van der Graaf Generator, zum Beispiel?
«Auf diesenVergleich wäre ich nie ge-
kommen», lachtDawson. «Damit bin ich
auf jedenFall sehr zufrieden.»
Dawson arbeitet heute auch mit
einemSynthesizer. Dessen Sound sei


allerdings nicht unbedingt das, was man
derzeit als cool bezeichnen würde: «Er ist
weder chromgleissend noch sauber, aber
auch nicht wirklich ‹cheesy›. Man kann
ihn nicht einordnen. Er passt manchmal
gut in die klangliche Umgebung.Aber
dann doch wieder nicht.Das ist genau
der Effekt, auf den ich abzielte.»
Die Musik, die fremde Stilelemente
zu einem ungewöhnlichen, stimmigen

Ganzen verschweisst, ist das passende
Vehikel für die Geschichten, dieDaw-
son mal mit natürlicherStimme, mal mit
engelhaftemFalsetto vorträgt. Es treten
lebendige Charaktere aus dem britischen
Alltag auf.Ein Beamter der Sozialhilfe
zum Beispiel, der fast alle Anträge ab-
schlägig beantworten muss und seinem
Vorgesetzten ausWut gerne den Schädel
einschlagen würde. Oder ein jungerFuss-

baller, der nicht Lionel Messi ist. Oder
ein Jogger, der vonWohnungen träumt,
die er sich nicht leisten kann.
DenTitel «2020» willDawson selber
nicht erklären: «Es steckt alles drin, was
es dazu zu sagen gibt.» Nun, vielleicht
doch nicht ganzalles: Dass es ein Album
der Beach Boys mit dem gleichenTitel
gibt, wussteDawson trotz seinem enzy-
klopädischen Musikwissen nicht.«Ver-

dammt», lacht er vergnügt. «Dabei habe
ich extra nochrecherchiert. Ich dachte,
ich sei der Erste.Was für ein Desaster!»
Ein Hauptthema inDawsons Songs
ist zwar die Isolation. Aber auf sich sel-
ber will er das nicht unbedingt beziehen:
«Newcastle ist noch nicht so schlimm
wie anderswo. Newcastle ist immer noch
eine herzliche Stadt.» Und die Stadt
habe ihn geprägt. Hier wurde er1981 als
jüngstes von drei Geschwistern geboren.
Zum dreizehnten Geburtstag wünschte
er sich ein Schlagzeug, bekam aber
eine Gitarre («das war auch okay»). Er
wurde Heavy-Metal-Fan und hörte am
liebsten das Live-Album von Iron Mai-
den:«BeimWhite Noise des Applauses
lief es mir kalt denRücken hinunter. So
viele Menschen vereint im Glück!»
In derAdoleszenz stürzte er in eine
psychische Krise,die seinen Schulab-
schluss ruinierte. Monatelang verliess
er kaum das Haus.Er schauteFilme
und arbeitete sichkonsequent durch die
Auswahl im lokalenVideoshop. Schliess-
lich angelte er sich einenJob im besten
Plattenladen der Stadt. «Und der wurde
meine Universität.» Hier entdeckte er
nicht nur die Klangkunst von SunRa
und anderen exzentrischenJazz-Musi-
kern, sondern auch die finnische Expe-
rimental-Rock-Band Circle, die seither
«eine grosse Inspiration» geblieben ist.

Ein Spätzünder


Mit 26 Jahren veröffentlichte Daw-
son in eigenerRegie sein erstes Album,
«RichardDawson Sings Songsand Plays
Guitar». «Rubbish», findet er heute dazu –
und möchte sich gar nicht mehr daran er-
innern. Zufriedener ist er mit dem vier
Jahre später erschienenen, spartanisch
klingendenFolk-Album «Magic Bridge».
Danach erst ging dem Spätzünder rich-
tig der Knopf auf.Er wurde vom Inde-
pendent-Label Domino unterVertrag ge-
nommen, erreichte mit dem Longplayer
«Peasant» (2017) erstmals ein grösse-
res Publikum und formierte für andere
Stimmungen auch nochdie so eigen-
willige wie faszinierende Experimen-
tal-Pop-Band Hen Ogledd.Die Gefahr,
dass ihm der Erfolg und das viele Lob in
den Kopf steigen,ist gering. «Es gab wohl
ein,zwei kurze Phasen in meinem Leben,
wo ich einen Anflug von Eitelkeit ver-
spürte», grinst er. «Ich merkte aber bald,
dass diese Mühe vergebens sein würde.»

Richard Dawson: 2020(Weird World/Domino).

Kann eine Politik der Lüge in der fr eien Welt verfangen?


Hannah Arendt war überzeugt: Die Vereinigten Staaten sind gege n po litische Korruption gut gewappnet. Heute scheint das weniger klar


CHRISTIANVOLK


Im Jahr 1972 publizierte Hannah Arendt
einenBand mit gesammelten Analy-
sen zu den Krisen der amerikanischen
Republik. AlsReaktion auf dieVer-
öffentlichung der Pentagon-Papiere
vereint derBand Überlegungen zu den
tektonischenVerschiebungen im poli-
tis chen Institutionengefüge der USA,
reflektiert im Anschluss an die Studen-
tenproteste gegen denVietnam-Krieg
über die Bedeutung von zivilem Unge-
horsam in modernen Demokratien und
lotet die politische Bedeutung der afro-
amerikanischen Bürgerrechtsbewegung
aus. In diesem Zusammenhang aktuali-
sierteArendt ihr bereits im Buch«The
Human Condition» entwickeltesVer-
ständnis von«Weltlosigkeit» – ein Be-
griff, der auch für die Analyse moderner
Gegenwartsgesellschaften erhellend ist.
UnterWeltlosigkeit versteht Arendt
denVerlust einer gemeinsamenWelt –
im Sinne eines gemeinsamen Bezugs-
systems –, über deren Interpretation
und Herausforderungen man (politisch)
streiten kann, derenFaktizität aber nicht
infrage gestellt wird.Für Arendt mani-
fest iert sich dieWeltlosigkeit der USA
der späten sechziger und frühen siebzi-
ger Jahre darin, dass eine «Alice-in-Won-


derland-Atmosphäre» vernünftige poli-
tische Entscheidungsprozesse untergräbt
und Lüge und ganze Täuschungskampa-
gnen den politischen Alltag bestimmen.
Dass es dazu hatkommenkönnen,
ist nach Arendt eine unmittelbare Folge
der Erosion des institutionellen Gerüsts
des politischenSystems der USA. Die
«Bürokratisierung und dieTendenzder
beidenParteien, niemanden ausser den
Parteimaschinen zu vertreten» führe in
letzterKonsequenz dazu, dass sich auch
die Rolle und dieFunktion desKongres-
ses veränderten: Statt seine politische
Verantwortung in einemSystem von
«checks and balances» wahrzunehmen,
werde er zunehmend von derParteien-
logik bestimmt, und statt faktenorien-
tierter politischerAuseinandersetzung
werde das Image einesPolitikers in
einer mediatisierten Öffentlichkeit zur
einzig zentralen Zielkoordinate.

«Von derRealität besiegt»


Weltlosigkeit und die Erosion der Insti-
tutionenresultieren nach Arendt dem-
nach aus der inneren Dynamik des poli-
tischenSystems. Heute gewinnt man den
Eindruck, dass es eher gezielte Strategien
politischer Cliquen sind, die diese Pro-
zessevorantreiben. Und noch eine Sache

fällt auf: In Arendts Analyse gibt eskeine
Gewinner–denn jeder scheint vomVer-
lust der demokratischen Qualität glei-
chermassen betroff en zu sein.Trotzdem
bleibt Arendts Begriffder Weltlosigkeit
aufschlussreich für die Deutung jener
Herausforderungen, denen sich moderne
Demokratien gegenübersehen.
DerVerlust eines gemeinsamen Be-
zugssystems manifestiert sich heute in
derRede von den alternativenFakten,
von politisch eingesetztenFalschnach-
richten, von Echokammern,Filterblasen
und dergleichen sowie in demWört-
chen «Lügenpresse», mit dem zumAus-
druck gebracht wird, dass man nur dem
gedenkt Glauben zu schenken, der die
eigeneWeltanschauung auch bestätigt.
Arendt war besorgt über die Irratio-
nalität politischer Entscheidungen, die
in einer solchen Atmosphäre getroffen
werden. Gleichzeitig aber war sie über-
zeugt, dass diese Art vonPolitik in einem
Land mit langerrepublikanisch-demo-
kratischerTradition zwangsläufig schei-
tern wird; fest war ihr Glaube, dass «die
Öffentlichkeit», «die Bürgerinnen und
Bürger» und «die Presse»die Lügen
aufdecken und denVerlust derRealität
anprangern werden.«Von derRealität
besiegt»:Das ist dieWendung, mit der
Arendt ihrer ÜberzeugungAusdruck

verleiht, dasseinePolitik der Lüge und
Desinformation in einer gereiften Demo-
kratie wie den USA nicht gelingen wird.

SehnsuchtnachWahrheit?


Heute sind wir uns nicht so sicher,ob
der Lügner am Ende von derRealität
besiegt werden wird. Und dafürgibtes
viele Gründe.Einer scheint zu sein, dass
wir in einer «Kultur der Digitalität» le-
ben. Die digitale Codierung von Infor-
mationen, die alle Lebensbereiche um-
fasst, ermöglicht es, alle Zeichen,die Be-
deutung vermitteln, zu verbinden und zu
verändern, neu zu ordnen – und damit
separateWelten zu generieren.
Ein weiterer Grund, warum wir
zögern, uns Arendts (seltenem) Opti-
mi smus anzuschliessen,mag unserem
Zweifel an derWahrheitssehnsucht des
modernen Menschen geschuldet sein.
Oder anders formuliert:Wie relevant ist
es für den einzelnen Menschen heute, «in
der Wahrheit zu leben» (Vacla v Havel)?
Der Erfolgrechtspopulistischer Mobi-
lisierungsstrategien mit politisch moti-
viertenFalschmeldungen und der Pro-
liferationalternativerFaktensollte uns
skeptisch stimmen. Denn das Geheimnis
dieser Strategie scheint gerade darin zu
liegen, eine solche«Welt» zu entwerfen,

in der die Ängste, die rassistischenVor-
urteile und dieWut der potenziellen Ge-
folgschaftals rationalund gerechtfertigt
erscheinen und sich auf scheinbar legi-
timeWeise in ein – diskriminatorisches –
politisches Programm übersetzen lassen.
Auch Arendt war von der«Wahrheits-
sehnsucht» des modernen Menschen
alles andere als überzeugt. Denn der mo-
derne Mensch wird ihrer Ansicht nach
gerade aus demRückzug in die Subjek-
tivit ät, ins Intime, geboren und glaubt
Wirklichkeit einzig aus sich selbst heraus
zu erfahren.Weltlosigkeit markiert da-
mit quasieinenWesenszug der Moderne.
Umso wichtiger sind in ihrenAugen die
demokratisch-politischen Institutionen
im weitesten Sinne, die dem drohenden
Weltverlusteinen stetigen Ort desAus-
tausches undder Bezugnahme auf an-
dere Sichtweisen entgegenstellen.
Wenn man aus ihren Analysen daher
einenRat für die Gegenwart ableiten
möchte, dann wohl den, dass wir weniger
auf charismatischeFührungspersönlich-
keiten oderdieneue emanzipatorische
Protestbewegung hoffen sollten, son-
dern auf Leute, welche die Eigenrationa-
lität demokratisch-politischer Institutio-
nenerkennen,diese Institutionen mit Le-
ben füllen und sie gegenTrends und die
Zwänge der Zeit zu verteidigen wissen.

RichardDawson ist kein Streber. Aber für sein Album«2020» erntet erBestnoten. PD
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