Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

Samsta g, 9. November 2019 FEUILLETON 41


Digital Natives habenein grundlegend anderes Krisenverständnis alsVertreter von älteren Generationen. FABRIZIO BENSCH / REUTERS


Die Krise liebt starke Charaktere


Trump und John son sind nur die bekanntesten Beispiele: Herrscht Unsicherheit, finden Charismatiker Gehör


JAN SÖFFNER


Krisen werden vonCharakteren geprägt.
Mit demWort Krise meine ich nicht jene
kleineren Unfälle, die sich in einer an
sich stabilen Ordnung ereignen: Natur-
katastrophen,Terrorattacken oderWirt-
schaftsflauten sindkeine Krisen, sondern
Probleme, die nach einer Lösung schreien.
Krisen sind stattdessen – frei nach Rein-
hartKoselleck– Zeiten einer fälligen,
aber noch nicht gefallenen Entscheidung.
Ob sich die gegenwärtige Unsicherheit
zu einer manifesten Krise auswachsen
wird, ist zw ar noch nichtauszumachen.
Dem Empfinden des Zeitgeistes nach
steuern wir aberauf eine Krise zu. Und
selbst wenn unsere ökonomischen, poli-
tischen und ökologischenSysteme sich
letztlich als stabiler erweisen sollten, als
es fürviele zurzeit den Anschein hat, ist
ein Indiz für die Krise doch nicht zu über-
sehen:In diePolitik kehrt das persönliche
Charisma zurück. Und sind solche Cha-
raktereeinmal massgeblich geworden,ist
meistens auch die Krise nicht fern.
DerGrundfürdasErstarkenderCha-
raktere in Krisen istrecht einfach und
wurde schon oft beschrieben:In ruhigen
Zeiten wird das Charakterliche der Ent-
scheidungsträger von Sachzwängen und
Sachbearbeitern unter einerrationalen
Kontrolle gehalten. Es weicht derVer-
waltung einzelner Probleme. In Krisen-
zeiten indes erweitert sich das Spektrum
der Möglichkeiten in derart unkontrol-
lierbarem Mass, dass immer mehr Ent-
scheidungen an einzelnenPersonen hän-
genbleiben.Entscheidungen werden da-
mit unkontrollierbar,und der Charak-
ter des Entscheiders bestimmt über die
Rationalität einer Sache, so dass – wie
in ShakespearesKönigsdramen – poli-
tischeCharaktere und Landesgeschicke
tendenziell zu einer Einheit verwachsen.


Kein Interessean St abilität


Max Weber beschrieb diese Ordnung als
diejenige eines persönlichen Charismas,
welches das in ruhigen Zeiten auf die
Ämter undVerwaltungen übertragene
Charisma ablöse. Carl Schmitt sprach von
einemAusnahmezustand, in dem Souve-
ränität insofern zur Erscheinungkomme,
als sie über selbigen entscheide. Niccolò


Machiavell i,der seinerseits kaum andere
Zeiten als Krisenzeiten kannte, beschrieb
das Zusammenspiel von Charakterkraft
(«virtù«) und Zufall («fortuna»), das es
brauche, um die Grundlagen einer stabi-
len Ordnung zu schaffen.
Wenn er sich da nicht getäuscht hat.
DiejenigenPolitiker, deren Charaktere
sich derzeit über die Sachzwänge erheben
und die persönliche Unberechenbarkeit
zum weltpolitischen Faktor machen,
scheinen wenig Interesse an Stabilität
zu haben. Ikonischlässt sich bei Donald
Trump und BorisJohnson vielmehr beob-
achten,dass sie die Krise, die sie als Habi-
tat ihresPolitikstils brauchen, durchaus
auch erst zu schaffen angetan sind.
Bei Charakteren wie Emmanuel
Macron oder auch MatteoRenzi lässt sich
zwar die von Machiavelli vorausgesetzte
Gesinnung zur stabilen Herrschaft aus-
machen, sie verstehen aber nurreak-
tiv mit den gegenwärtigenHerausforde-
rungen umzugehen. Die in Zeiten gros-
ser Stabilität politisch sozialisierteAngela
Merkel scheint demgegenüber kaum zu
verstehen, warum sie auf einmal eine so
blasseFigur abgibt– oder sie versteht es,
ist charakterlich aber nicht dazu dispo-
niert, sich auf die neue Zeit einzustellen.
Politische Charaktere wie die ge-
rade genannten sind ebenso wenig
etwas grundsätzlich Neues, wie es etwas
Neues ist, dass es in Krisenzeiten auf sie
ankommt. Ein ziemlich neuer charisma-
tischer Charakter ist indes GretaThun-
berg. Gewiss ist die Geschichte nicht
arm an jugendlichenFiguren, die in Kri-
senzeiten die Unerbittlichkeit ihrer Un-
schuld als politisches Charisma zur Gel-
tung brachten; ich denke etwa anJeanne
d’Ar c, Ulrike Meinhof oder Che Guevara.
Doch insofern persönliches Charisma ein
Phänomen ist, das sehr viel über die Ge-
sellschaft sagt, die bestimmte Charakter-
formen als charismatisch erlebt, lohnt
es sich, einen genaueren Blick auf den
neuen Charakter diesesTypus zu werfen,
um die gegenwärtige Krise zu verstehen.
Es sei dem Folgenden voraus-
geschickt: Ich stimme mit den meis-
ten der Anliegen, dieThunberg ver-
tritt, durchaus überein und halte auch
die Fridays-for-Future-Bewegung, die
sie ins Leben gerufen hat, für einen
Segen. Es soll hier auchkein Aber fol-

gen, das diese Dinge irgendwierelativie-
ren könnte. Jedoch soll dieFrage gestellt
werden, warum gerade dieser Charakter
in d er gegenwärtigen Krise charismati-
sche Qualitäten entfaltet.
Hierfür ist zunächst eine Besonder-
heit festzuhalten.Das Charisma der Un-
schuld war in früheren Zeiten an Er-
lösungstheorien und Utopien gekoppelt.
Thunberg wirkt dagegen extrem kontrol-
liert und sachlich,selten spontan oder gar
inspiriert, und selbst wenn sie emotional
auftritt,beruft sie sich blossauf allgemein
verfügbares Common-Sense-Wissen. In-
sofern istThunberg eher eine Problem-
löserinals eineVisionärin.Das ist eine
merkwürdige Haltung für einen Krisen-
charakter,denn Krisen sind ja eben die-
jenigen Entscheidungszeiten, in denen
die Logik der Problemlösung eigentlich
ausser Kraft gesetzt ist: Krisen spülen
für gewöhnlich ideologische,soziale oder
auch persönlicheKonflikte an die politi-
sche Oberfläche –nicht Problembewusst-
sein undWissenschaftlichkeit.

Apps lösen Probleme


Was sagt das über unsere Gesellschaft
und unsere Krise? Zunächst einmal sagt
es etwas über Generationen. Denn die
oft als populistisch bezeichnetenPoliti-
ker, die vor Spontaneität und Charisma
strotzenund die Krise zur Selbstermäch-
tigung nutzen, werden massgeblich von
den älteren Generationen gewählt,wäh-
rend Thunberg genau das entfacht hat,
was es lange Zeit nicht mehr gab: eine
Jugendbewegung.
Sie schlägt damit in der Generation
der sogenannten Digital Natives ein, das
heisst derjenigen, die es nicht nur gelernt
haben,den eigenen Charakter in sozia-
len Netzwerken zu stilisieren,sondernihn
auch durch dieVerwendung von Apps
zu optimieren. Sie haben sich daran ge-
wöhnt, ihre Entscheidungen nicht mehr
einem subjektiven und aus eigener Er-
fahrung gesättigten Gespür zu überlassen,
sondern sie inSymbiosemit einem hinter
einer Benutzeroberfläche für sie arbei-
tenden, objektiviertenWissen zu treffen.
Apps aber lö sen Probleme. Sie tragen
keine Konflikte aus undkennenkeine
Krisen. Und entsprechend stellt sich die
Welt fürThunberg auch nicht als eine

der fälligen,aber noch nicht gefallenen
Entscheidungen dar, sondern als eine
der falsch gefallenen Entscheidungen.
Die Faszinationskraft dieser einfachen
Hal tung liegt darin, dass fürThunberg
eine wissenschaftlicheRahmung der
Welt offenbar unumstösslich istund dass
politischeKonflikte und politische Sou-
veränität daherkeine Rolle spielen:Der
Klimawandel soll einer wissenschaftlich
fundierten Problemlösungsstrategie zu-
geführt werden – und damit basta.
Der Generationenkonflikt, der hier
zumAusdruckkommt, entspinnt sich
damit vor allem zwischen einer älteren
Position, die in Krisen noch auf persön-
liche,teilweise irrationale Entscheidun-
gen und Souveränitätskonflikte setzt –
und einer jüngeren,der dasKonzept der
Kriseals grundlegende Entscheidungs-
situation fremd ist: Krisen sind für sie
eben doch nichts weiter als Probleme –
bloss sind sie grösser und damit existen-
zieller als andere und brauchen daher
Vorfahrt im Lösungsreigen.
Ein bisschen erinnert dieser Gene-
rationenkonflikt an Sophokles’ «Anti-
gone»-Tragödie, in der ein Mädchen
desselben Alters wie GretaThunberg
sich auf seinWissen um alte und unum-
stössliche Gesetze beruft, die vorschrei-
ben, dass es seinenBruderPolynei kes
bestatte. Antigonesetz tdiesesWissen
absolut: Die Gesetze gelten, obwohl
Polyneikes die Stadt alsVerräter ange-
griffen und sich zugleich des Bruder-
mordes schuldig gemacht hat.
Indem sie sich auf dieseWeise unbe-
eindruckt von der politischen Krise zeigt,
übersiehtAntigone auch den neuerlichen
Souveränitätskonflikt, densie selbstan-
zettelt. Ihren Onkel Kreon, der seiner-
seits nur den krisenhaften Souveränitäts-
konflikt und die Ordnungder Polis,nicht
aber die allgemein gültigen Gesetze im
Auge hat, kanzelt Antigone ähnlich ab,
wie Thunberg es mitTrump tut: Er solle
auf die ewigenGesetze hören. Kreon
wiederum nimmt Antigone und ihr An-
liegen zunächst nicht ernst.Wie es Tra-
gödien so an sich haben, endet die Krise
ungut.Für beideParteien.

Jan Söffnerist Profess or für Kulturtheorie
und Kulturanalyse an der Zeppelin-Universität
Friedrichshaf en.

Besser,


Wien ist weit weg


Aus Hermann Lenz’ Nachlass liegt
eineaufschlussreiche Novellevor

RAINER MORITZ

Peter HandkesVerdiensteum d as Werk
seinesknapp dreissigJahre älterenKol-
legen Hermann Lenz sind oft beschrie-
ben worden. Ende1972 veröffentlichte
Handke den Zeitungsessay«Tage wie
ausgeblasene Eier»,der mitVerve für
die zuvor nur von wenigen beachteten
Bücher des damals noch in seiner Hei-
matstadt Stuttgart lebenden Lenz ein-
trat und diesem denWeg zum Suhr-
kamp-Verlag ebnete. Der damals ge-
rade erst erschienene Roman «Der
Kutscher und derWappenmaler» galt
Handke dabei als Beleg dafür, dass Lenz
ein wahrhaftiger Schriftsteller und «kein
blosserBehaupter» sei.
Der so belobigteRoman, der von
fast allen anderen Zeitgenossen überse-
hen wurde, erzählt vom in sich gekehr-
ten StuttgarterKutscherAugust Kandel,
der die angespannteZeit kurz vor dem
ErstenWeltkrieg als Bedrohung wahr-
nimmt,sich um seine Nichte sorgt,allem,
was demFortschritt blind huldigt,skep-
tisch gegenübersteht und sich von der
Ankunft eines eigentümlichen, für das
württembergischeKönigshaus arbeiten-
denWappenmalers viel verspricht.Inne-
rer Zufluchtsort für den von einem all-
gegenwärtigen «Fremdheitsgefühl» be-
fallenen Schwaben Kandel istWien, das
er einmal besucht hat.

Im Fiaker um dieHofburg


Dass die österreichische Hauptstadt zum
Traumversteck für Kandelavanciert, hat
mit derVita Hermann Lenz’ zu tun.Die-
ser wandte sich als junger Student in den
1930er Jahren angeekelt von den Natio-
nalsozialisten ab und suchteTrost im
verblichenenWien von Hofmannsthal,
Altenberg und Schnitzler. So finden
sich Wien-Beschwörungen undWien-
Beschreibungen in vielen Lenz-Texten,
und es ist zu erwarten, dass im üppigen
Nachlass, dessen Schätze bisher kaum
gehoben sind, weitere Variationen die-
ses zentralen Motivs schlummern.
Eine ersteTrouvaille,eine Vorstudie
des «Kutscher»-Romans, liegt nun – edel
ausgestattet und mit einem klugen Nach-
wort Norbert Hummelts versehen – im
Nimbus-Vorlag vor. «Die Geschichte
vom Kutscher Kandl» schrieb Lenz Mitte
der 1960erJahre und bot sievergeblich
demWestdeutschenRundfunkan.Weite
Textpassagen davonkehren später zum
Teil wortgetreu im erstenTeil von «Der
Kutscher und derWappenmaler» wieder.
Die ersteFassung freilichweistzwei
markante Abweichungen auf, eine
kleine – derFamilienname hat nochkein
«e» – und eine grosse –, derKutscher
lebt noch nicht im wienfernen Stuttgart,
sondern fährt mit seinemFiaker unmit-
telbar durch dieWiener Bezirke, erlebt
Schloss Schönbrunn und die Hofburg
nicht nuraus distanzierter Ferne.

Im Refugium


Auf Lenz’Werk bezogen liegt darineine
aufschlussreicheVerschiebung, denn es
scheint so, als liesse sich von Kand(e)ls
Wesen besser erzählen,wenn dessen
SehnsuchtsortWien nicht zugleich Schau-
platz ist. DieVorstufe zeigt so einen um
ein DutzendJahre älteren Mann, der das
Wien seiner Zeit und den anfangs glorifi-
ziertenWappenmaler nicht verklärt. Die
spätere, deutlich umfangreichereVersion
hingegen braucht, da sie von der Hand-
lung her bis in die NS-Zeitreicht,ein von
derWirklichkeit nicht zu beschädigendes
Refugium, dasWien desFin de Siècle.
Lenz’ feingewobene «Geschichte
vomKutscher Kandl» ist von literar-
historischem Interesse und zugleich
Beispiel für seinesensible, nicht effekt-
heischende Prosa, die jedem schein-
bar marginalen Detail Aufmerksam-
keit schenkt. Im Rückblick verwundert
es nicht, dass sich ausgerechnetPeter
Handke von diesem ruhigen Erzählen
voller Strahlkraft inBann ziehen liess.

Hermann Lenz: Die Geschichte vom Kutsc her
Kandl. Erzählung. Mit einem Nachwort von
Norbert Hummelt. Nimbus,Wädenswil 2019.
104S., Fr. 25.90.
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