Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

LITERATUR UND KUNSTLSamstag, 9. November 2019 Samstag, 9. November 2019 ITERATUR UND KUNST


Probleme zu nennen. Und wenn wir das
nicht tun in der Mitte, tun es die ande-
ren. Und deshalb war mein Signal:Also
der Bundespräsident spricht da drüber,
du darfstauch darüber sprechen. Das
war meine Intention.

Sie schreiben in Ihrem jüngsten Buch, in
der Flüchtlingskrise habe die Meinungs-
plur alität inDeutschland abgenommen.
Ja, das war jedenfalls zunächst so, als der
üb erwiegendeTeil der Medien sich ein-
seitig auf dieWillkommenskultur fokus-
si ert hat. Und auf der Strasse wurde die
«Lügenpresse» attackiert. Inzwischen
bin ich erschrocken über die neue Härte
und Kälte der Debatte, über Formen von
Hass besonders im Netz.Auch deswegen
hielt ich es für notwendig,mich einmal
auseinanderzusetzen mit der mangeln-
den Toleranz, und schliesslich habe ich
mein Buch«Toleranz – einfach schwer»
genannt. Sie ist manchmal einfach und
manchmal unendlich schwer.

Und manchmal auch unmöglich?
Ja, es gibt Situationen, in denen ist
Schluss mit derToleranz.Du darfst
als freier, anständiger, demokratischer
Mensch nicht tolerieren, was dieTole-
ranz abschaffen soll. Denn wer tolerant
ist gegenüber den Intoleranten, gefähr-
det die Demokratie. Gleichzeitig aber
bin ich fürAusweitung des Debatten-
raums, dafür, auch Meinungen zu dulden
oder zu ertragen, die weit jenseits mei-
ner eigenenVorstellungen liegen.

Und wie tolerant soll man mit der AfD
sein?Viele fordern ja, dass man mit die-
ser Partei überhaupt nicht sprechen soll,
das ist eigentlich der Grundtenor.
Du kann st nicht einerseits eine offene
Gesellschaft wünschen und anderer-
seits den Diskurs soreglementieren,
dass jeweils störende Meinungsäusse-
rungen diskreditiert und insReich der
Bosheit oder des Hasses verwiesen
werden.Wähler der AfD sind oft Men-
schen, die unbehaust sind in der Demo-
kratie, die überfordert sind, die nicht
selberVerantwortung suchen,sondern
lieber geführt werden möchten. Des-
halb mögen sie autoritäreFührungs-
typen, wie wir sie mehrheitlich nicht
mögen. Aber all dies ist nicht zwangs-
läufig eine Bedrohung der Demokra-
tie, es kann sich durchaus imRahmen
der Verfassung bewegen. Deshalb plä-
diere ich für eine erweiterteToleranz:
Ich muss mich auch mit Dingen ausein-
andersetzen, die mir wirklich zuwider
sind. Ein altesWissen aller Demo-
kraten sagt aber auch: Die Toleranten
dürfen nicht alles tolerieren,sondern
geg enüber denen, die dieToleranz ab-
schaffen wollen,die die Freiheit ab-
schaffen wollen, die den Hass predi-
gen und dieRechtsordnung verletzen


  • ihnen gegenüber ist Intoleranz ange-
    sagt.Unabhängig davon, ob es sich um
    rechte oderlinke Extr emisten oder um
    Islamisten handelt. Dann sind unter
    Umständen auch diePolizei oder die
    Staatsanwaltschaft gefragt.


Aberwenn Bürger solchenParteien
unbedingt angehörenwollen oder sie
wählen?
Es ist eine Illusion, anzunehmen, dass
sich alle Menschen erreichen lassen.
Doch wir wissen aus der Arbeit mit
Islamisten undRechtsradikalen, dass
es gelingen kann, Einzelne zumAus-
stieg zu bewegen.Wird eine ganzePar-
tei verfassungsfeindlich,kann sie auch
verboten werden.Das Bundesverfas-
sungsgericht hat dies imFall der NPD
durchaus erwogen, und nur weil es die
Auffassung vertrat, diePartei spiele
keine wirklich bedrohlicheRolle für
die Demokratie, hat es von einemVer-
bot abgesehen.Ansonsten kann ich nur
bekräftigen:Wir dürfen in der inner-
gesellschaftlichenAuseinandersetzung
nicht unsereWagenburg immer mehr
befestigen mit Argumenten undVer-
haltensweisen des inneren Zusam-
menschlusses und der äusseren Ab-
wehr.Wir müssen sogar offen sein für
Argumente der gegnerischen Seite. Es
kommt vor, dass auch dieFalschen ein
richtiges Argument oder einen Sach-
verhalt benennen, die es anzuerken-
nen gilt.Dann kann eine Sachdebatte
beginnen.Und dieses Vertrauen darauf,
dass zwar manche MenschenAufklä-
rung nicht mögen, aber dass wir nach
wie vor einePolitik derAufklärung
betreiben müssen, dass wiralso dem
Argument auch vertrauen müssen, das

muss wieder stärker gelten.Wir brau-
chen die argumentativeAuseinander-
setzung bis hin zum Streit, egal, ob ei-
nige den Streit mögen oder nicht.

An den Universitäten breitet sich der-
zeit aber eine Nulltoleranz-Mentalität
aus statt Dialogbereitschaft.
Wir können an diesen Aktionen an den
Unis Hamburg, Giessen,Frankfurt und
zum Teil auch in Berlinsehen, was pas-
siert,wenn die Gutenmeinen,es sei jetzt
an der Zeit, die Meinungsfreiheit einzu-
schränken, weil diejenigen, die sie dort
am Auftreten hindern, für unsere Ge-
sellschaft zugefährlich seien. Dabei han-
delt es sich bei jenen weder um Nazis
noch um Nationalisten, sondern einfach
um Menschen,die eine unpopuläre Sicht
meistrechts von der Mitte auf die Ge-
schehnisse in Deutschland und Europa
vertreten.Dann erhält jemand schnell
das Etikett «Nazi» oder «Faschist». So
eine linke Orthodoxie ist ja etwas zu-
tiefst Antidemokratisches: dieVorstel-
lung einer gereinigten Gesellschaft.
Dabei entsteht ein grosser politischer
Schaden für die Demokratie, wenn ab-
weichende Meinungen gleich als un-
moralisch verurteilt und diskriminiert
werden. Und Intoleranz gerechtfertigt
wird zurDurchsetzung des Guten.

Sie sprechen von den «Guten»? Es ist
aber doch eine moralische Selbster-
hebung?
Menschen, die für eine politischeKor-
rektheit eintreten, entwickeln teilweise
eine Dynamik von Kreuzzüglern:«Wir
kämpfen jetzt für das, was für uns das
einzigWahre ist.» Und ihre angeblich
einzig wahre Sicht der Dinge soll dann
das geistige Klima etwa an dieser Uni
bestimmen.Das emanzipatorische An-
liegen dieser «politischenKorrektheit»
mag löblich sein, zielt es dochursprüng-
lich auf denAusgleich von Benachteili-
gungen beiFrauen, Migranten, Homo-
sexuellen oder Menschen anderer sexu-
eller Orientierungen. Problematisch ist
es allerdings, dieses Anliegen ausgren-
zend und aggressiv durchzusetzen.

Am Anfang Ihres Buches steht, Sie hät-
ten sich nie gedacht, dass Sie in Ihrem
Land nochmals überToleranz schrei-
ben müssten.
Wissen Sie,wenn man so lange in der
Diktatur gelebt hat, dann ist auch immer
eine gewisse Idealisierungder Demo-
kratie und der offenen Gesellschaft
in einem präsent.Dazu gehörte wohl
meineVorstellung:Wenn ich erst in der
Demokratie sein werde, dann wirdTole-
ranz dort ja ein unhinterfragtes Lebens-
prinzip sein.Das stimmt im Prinzip ja
auch. Mir war aber nicht bewusst, wie
schnellToleranz auch in Gefahr geraten
kann. Etwa wenn die liberale Moderne
nicht mehr dasWunschkonzept gros-
ser Bevölkerungsgruppen ist. Und wie
schnell Zorn,Wut und Hass in Gang ge-
setzt werden, um Unbehagen zu artiku-
lieren und zu adressieren.

Sie haben zuBeginn vom Glücksgefühl
gesprochen.Was ist für Sie das positive
Erbe von 1989?
Glücksgefühle kann man schwerkonser-
vieren.Aber die seltenen Glücksgefühle
im Raum desPolitischen wandeln sich
dann, wenn es gutgeht, in eine tiefe Be-
friedigung darüber, dass ich gefragt und
ich wichtig bin, dass ich dieseRolle an-
nehmen kann.Ich habe dieFähigkeit,
verantwortungsbewusst zu sein. Ich sage
manchmal, wenn ich imreligiös-philo-
soph ischenKontext spreche,dass dies
schon so etwas wie Gott-Ebenbildlich-
keit sei nkönne.Esist eine unser biolo-
gischesDasein weit überbietende Men-
schenmöglichkeit, dass wir in eigener
Verantwortung für uns und für die, die
mit uns sind, leben dürfen.Dass diese
Möglichkeit nicht künstlich unterdrückt
wird von Diktatoren, dass wir in unse-
rer Demokratie so eine ermächtigende
Lebensform entwickelt haben. Dieses
Zu-sich-selbst-Kommen des autonomen
Menschen, das ist diegrosse Glücksver-
heissung, die mit der Demokratie ver-
bunden ist. Es wird sie immer geben,
auch wenn Menschen sich phasenweise
lieber führen lassen wollen oder vor der
Komplexität des Lebens weglaufen und
damit vor derFreiheit.Ich k ann die Kri-
sen sehen und die verlockenden Sire-
nentöne der autoritären Bewegungen
hören und kann sagen:Ihr werdet nicht
diejenigensein , die dasRad der Ge-
schichte gänzlich zurückdrehenkönnen.

bringen. Ein Leben inFreiheit ist ein
Prozess, der nicht von jedem gewollt
wird.Den die Menschen in der offenen
westdeutschen Gesellschaft allerdings
haben trainierenkönnen: Ich binTeil
des Ganzen,und ich fühle mich verant-
wortlich. Das grösste Problem besteht
immerdarin, wenn Menschen plötz-
lich Lebensformen übernehmen oder
leben sollen, die sie nicht haben erler-
nen können.Dann ist es dieFreiheit,
die Angst macht.

Ist das denn jetzt nicht besonders bitter,
dass sich diese Gemengelage, die Sie da
beschreiben,die AfD zunutze macht?
Es wird wieder von derwestdeutschen
Ellenbogenmentalität gesprochen, vom
Ossi als dem Armen, aber Guten.
Ja,aber das war irgendwie zuerwarten.
Die ostdeutsche Gesellschaft ist eine
Transformationsgesellschaft wie auch
die anderen Länder Mittelosteuropas,
übrigens auch wie andere Übergangs-
staaten in Südamerika oder Afrika, die
länger unter Diktaturen gelebt haben.
Wir wissen nicht so genau, wie lange
dieseTransformationszeit dauert. Also
bei uns in Deutschland ging es natürlich
organisatorisch alles superschnell, das
Geld kam,derRechtsstaat wurde einge-
führt,die Eigentumsfrage geregelt.Aber
die Mentalität hat ein anderesTempo
als die Umorganisation von Institutio-
nen und Organisationen. Und plötzlich
hat nun einTeil der westdeutschen Ge-
sellschaft den Ossi entdeckt als ein ganz
benachteiligtesWesen, dessen Lebens-
leistung gewürdigt werden müsse. Ich
möchte tatsächlich diejenigen würdi-
gen, die unverschuldet ihreArbeit ver-
loren, die aus ihren sozialen Bezügen
herausfielen oder umgekehrt mit gros-
ser Risikobereitschaft etwas Neues be-
gonnen haben. Selbstverständlich auch
alle, die der Diktatur widerstanden
haben.Aber ich will doch nicht die wür-

digen, die die Diktatur zu verantworten
hatten! Dieser umstandslose milde Blick
plötzlich auf die Gesellschaft der Dikta-
tur,der kommt mir ein bisschen merk-
würdig vor.

Nun sammelt die AfD auch die Protest-
wähler ein. Hat die AfD dieRolle der
Linken übernommen?
Das ist ganz offenkundig. Das Protest-
potenzial geht dorthin, wo dieWähle-
rinnen undWähler spüren, da ist der
stärkste Effekt. Es gab im Osten zum
Beispiel zuvor schon relativ starke,
wennauch nicht überwältigendeWahl-
ergebnisse für wirklichrechtsradikale
Parteien, NPD oderDVU. Aber es hat
sich dann gezeigt: Die sind zurechts,
das bringt in Deutschlandkeine grosse
Unterstützung. Man darf nicht national-
sozialistisch sein, wenn man mehr Er-
folg haben will. Der nackteFaschismus
zieht zu wenig Leute an.Autoritäre und
nationalistische Programme hingegen
schon. Noch deutlicherals bei uns im
Osten siehtman das inFrankreich. Den-
ken Sie mal an das Buch von Didier Eri-
bon «Rückkehr nachReims». Eribons
proletarische Eltern waren überJahr-
zehnte beheimatet im kommunisti-
schen Milieu, immerWähler der Lin-
ken, und plötzlich wurden sieTeil des
rechtspopulistischen Front national.
Und seine Eltern waren nicht Einzel-
fälle, sondern die ganze Linke ist ero-
diert.Weil diese strukturkonservativen
Wähler dorthin gingen, wo ihr Protest
ein en grösseren Effekt auslöste – und
weil sie mit dem Bekenntnis,Franzose
zu sein, ein Gefühl der nationalen Zuge-
hörigkeit erhielten.Deshalb gibt es eine
gewisseRationalität in dieser anschei-
nend irrationalen Bewegung von links
aussen nachrechts aussen.Was auch
heisst, dass zumindest einemTeil die
Ideologie nicht so wichtig ist, sie viel-
mehr zeigen, dass sie mit der Demokra-

tie fremdeln.Sie fühlen nicht genugFür-
sorge, das macht ihnen Angst. Der Os-
ten ist irgendwie altdeutscher.

Das heisst?
Das heisst, dass man einer mehr homo-
genen Nationalstruktur zuneigt, dass
manAutorität wichtiger nimmt, dass
man die Streitkultur einer offenen Ge-
sellschaft nicht wirklich versteht, son-
dern mehr Eindeutigkeit wünscht.
Und dass man demFremden und dem
Andersartigen misstrauisch bis aggressiv
gegenübersteht. Der ostdeutschen Ge-
sellschaft fehlt diese jahrzehntelange
Erfahrung, sich vertraut zu machen mit
Fremden, mit anderenKulturen und
anderen Menschen.

Sie habenwährend der Flüchtlingskrise
den berühmtenSatz gesagt: «Unser Herz
ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind
endlich.»Würden Sie das heute noch so
sagen? Haben Sie damals zurPolarisie-
rung beigetragen?
Nein, ich habe versucht, diePolarisie-
rung zu zivilisieren.Das ist ein Satz,
der sehr lange überlegt worden ist. Ich
wollte nicht, dass die Gesellschaft sich
weiter aufspaltet inWillkommenskultur
und Fremdenfeindlichkeit. Wenn wir in
der fortschrittlichen Mitte der Gesell-
schaft Zuwanderung nur beschreiben
als Glück derVielfalt und als Bereiche-
rung, dann verkennen wir dieRealität.
Und ich möchte nicht, dass das, was pro-
blematisch ist, am Stammtisch und am
rechtenRand debattiert wird, während
die Linken, Liberalen undKonservati-
ven denken:Wenn wir über Probleme
sprechen, dann sindwir schon in der Ge-
fahr, fremdenfeindlich zu sein. Esgibt
dochreale Probleme, wenn es etwa um
Antisemitismus, um Unterdrückung von
Frauen und Mädchen oder um die Miss-
achtung desRechtsstaates bei Migran-
ten geht.Dann gehört es dazu, Probleme

Wasden Kommunisten Sorgen bereitet:DerdamaligePastor Joachim Gauckspricht im Herbst1989inder Marienkirche inRostock. SIEGFRIED WITTENBURG / EPA

«Es kommt vor,
dass auch
die Falschen
ein richtiges
Argument
benennen.»

44 45

Free download pdf