Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

Samstag, 9. November 2019 LITERATUR UNDKUNST47


Die Zeit der Kommunisten ist vorbei.


Zurücktreten!


Erinnerungen an jene Tage, als in Osteuropa die politischen Systeme zusammenbr achen.Von Richard Swartz


ImJahr1989 beginnt der Herbst im
Sommer. Oder schon im spätenFrüh-
jahr? Im Nieselregen, bei einem Be-
gräbnis auf demFriedhof vonRákos-
keresztúr, einemVorort von Budapest?
An diesemTag werden die fünf An-
führer der ungarischenRevolution des
Jahres1956 aus einem Massengrab ge-
borgen.János Kádár und der Kreml hat-
ten sie, auf denTag genau, vor 31Jahren
hinrichten lassen; Imre Nagy – «Onkel
Imre» – undPál Maléter, der militäri-
scheKopf derRevolution, sind die bei-
den bekanntesten unter denfünf Anfüh-
rern gewesen.Jetzt werden sie neu be-
stattet. Eigentlich aber ist es derKom-
munismus,der zu Grabe getragen wird,
obwohlkeiner von unsTr auergästen es
wohl ahnt. MalétersWitwe steht neben
mir, wie versteinert unter einem schwar-
zen Hut,gross wie ein Mühlrad. DerRa-
sen, der die noch offenen Gräber um-
gibt, ist aufgebrochen, derRegen fällt
stetig. FeierlicheReden, Beethoven aus
knarzendenLautsprechern. Dennoch
überrascht mich die Stille: Eine einsame
Amsel singt in einem der altenBäume.
JederTon ist zu hören.
Späterkomme ich mit einem der
Aufständischen von1956 ins Gespräch.
Er zieht sein linkes Bein nach sich.«Die
Kommunisten waren schuld. Und alle
Kommunisten warenJuden. Sie wollten
sich fürAuschwitzrächen und die unga-
rische Nation zerstören.» Am Abend
trinkeichTee beiRudolf Ungváry, im
Herbst1956 als junger Mann auf den
Barrikaden gestanden, ein Gewehr in
der Hand: «In diesemLand wird die
Politik gerade von ein paar lautstar-
ken Gruppen gemacht.Am Ende aber
entscheidet dasVolk. Und bis jetzt
schweigt dasVolk.»


*

Der EiserneVorhang wird immer sche-
menhafter. In Ostberlinrede ich mit
einem hohenParteifunktionär, den ich
seitJahrenkenne.Er flüstert beinahe:
Hier sitzt man auf Hunderttausenden
von Ausreiseanträgen. Lauter Men-
schen, die dasLand für immer verlas-
sen wollen. Und diePartei hatkeine
Ahnung, was sie tun soll. «Aber, um
Gottes willen, schreiben sie nicht von
dem, was ich sage, in der Zeitung!»
Schon im Frühling, in Mörbisch,
einem österreichischen Dorf dicht an
der Grenze, begegne ich einem fröh-
lichen Mann mitFeldstecher,der auf
eigeneFaust den Stacheldraht durch-
schneidet.Mehrmals amTag geht er hin-
aus und sammelt die Flüchtlinge ein, die
von der ungarischen Seite kamen.Viet-
namesen, Rumänen, Kubaner, amTa g
zuvor ein Mann aus Ghana. Ungarn?
Ostdeutsche? «Nochkeine. Doch das
ist nur eineFrage der Zeit.» Die unga-
rischen Grenzsoldaten nennt er anstän-
digeKerle. In derDämmerungkommen
sie herüber, scheu und ohneWaffen, um
sich auf ein paar Zigaretten und einen
Schluck aus dem Flachmann einladen zu
lassen. Siekommen durch die Löcher,
die er in den Stacheldraht geschnitten
hat. «Gross genug für einenLastwagen.»
Die Flüchtlinge?Darum kümmern sich
die Grenzsoldaten nicht mehr.


*

Plötzlich erlaubt Budapest den Ostdeut-
schen, am 11.September um Mitternacht
über einen «wahlfreien Grenzübergang»
dasLand zu verlassen. Ostberlin tobt.In
dieser Nacht stehe ich an der Grenze
zwischen Hegyeshalom und Nickelsdorf,
woKolonnen von mausgrauenTr abis auf
den Glockenschlag warten. GanzeFami-
lien sitzen darin.Fünf vor zwölf. Ein
kräftiger, tätowierterMann hat denKopf
gegen das Lenkrad gelehnt und weint so,
dass es ihn schüttelt. SeineFrau versucht
sanft, ihn zu trösten.Viele haben ein D
und das R aus demLänderkennzeichen
geschnitten, so dass nur noch ein ein-
sames D stehen geblieben ist.


Dann ist es so weit, obwohlkeiner
einen Glockenschlag gehört hat: ein ein-
ziger, grosserJubelschrei, Flaschen mit
rosafarbenem oder gelbem Sekt werden
aus dem offenenAutofenster gestreckt.
Knatternd und stinkend bewegen sich
dieAutos langsam und diszipliniert in
Richtung Österreich.
Ein jungesPaar aus Bitterfeld hat
keinAuto. Ich nehme es nachWien mit.
Schweigend, beinahe andächtig sitzen
die beiden auf derRückbank und essen
je ihren Apfel. Zum ersten Mal im Le-
ben sind sie auf dieser Seite des Eiser-
nenVorhangs.Keiner hatVerwandte im
Westen. Als wir inWien aus demAuto
steigen, begegnen wir einer altenDame,
die jetzt, um drei Uhr morgens, ihren
Hund ausführt, einen fleckigen jungen
Boxer, der an seiner Leine zerrt.
«Kommen Sie von der Grenze?»
Die alteDame ist nicht im mindesten
erstaunt. «Ich bin Ungarin.Vor dreis-
sig bin ich auf demselbenWeg gekom-
men. Aber zuFuss. Zu jener Zeit gab es
keineAutos in Ungarn.» Ihr Hundheisst
Django.«KeineAngst. Er ist ganz lieb.
Und viel Glück in derFreiheit.»

*

«Die niederträchtigen Ungarn haben
derPartei hier imLand den Stachel-
draht zerschnitten.Das wird man ihnen
nie verzeihen.» Stefan Heym trägt ein
grosskariertes amerikanisches Sport-
hemd.In Grünau sitzter in seinem klei-
nen Biedermeierwohnzimmer, das in
diesem Herbst wie eineOase der Ge-
borgenheit ausserhalb derZeit erscheint.
OttoReinhold, nebenKurt Hager
der wichtigste Ideologe der SED,
sieht hinter seinem riesigen Schreib-
tisch nicht so aus, als wollte er demen-
tieren, was der bekannteste Dissident
der DDR gesagt hat. HinterReinhold
steht ein niedriger Couchtisch, auf dem
mehr als ein halbesDutzendTelefone
steht, alle in derselbenFarbe – nur
eines ist knallrot.Fortwährend schnar-
ren dieTelefone, ohne dass er sich auch
nur für einenAugenblick davon irritie-
ren liesse. Glasnost?Perestroika? In-

nere Angelegenheiten der Sowjet-
union. DieAusreisenden? Bedauerns-
werte Menschen. DieLage hier? Sta-
bil. InPolen? AlsAntwort zuckter
nur mit den Schultern. Plötzlich fährt
der übergewichtigeReinhold aus sei-
nem Sessel – dasroteTelefon klingelt,
ohne dass ich imkollektiven Schnar-
ren einen Unterschied gehört hätte.
Diskret verdeckt er die Sprechmuschel
mit der Hand. Der Chefideologe hört
eineWeile schweigend zu. «Nein», sagt
er mit fast weicher Stimme. «Dannsind
Sie falschverbunden.»

*

In Leipzig hat man begonnen,sich mon-
tags zu Schweigemärschen zu versam-
meln.VorallerAugen, auf der Strasse.
Ich will mit eigenenAugen sehen, was
dort geschieht, und nehme den Zug
von Ostberlin, um zu vermeiden, dass
ich mitAuto von derPolizei angehal-
ten werde.Zuviert sitzen wir im Abteil.
ZweiDamen tauschenBackrezepte aus,
ein hoher Offizier in der Uniform der
Volksarmee liestTolstois «Krieg und
Frieden». Die Demonstration auf dem
Karl-Marx-Platz gleicht einem Sonn-
tagsspaziergang. Eine schüttere Menge
flanierender junger Leute vermehrt sich
langsam; es sieht aus, als ob sie etwas
suchten, aber nicht allzu eifrig. Ich bin
enttäuscht. DiePolizei schaut mit finste-
rer Miene zu, obwohl auch sie aussieht,
als wäre sie nur zufällig hier.
Erst im Oktober werden die Spa-
ziergänge zu richtigen Demonstratio-
nen. Zuvor allerdings sind Ostdeutsche
in die westdeutscheBotschaft in Prag
eingedrungen: Das Palais Lobkowitz
gleicht einem Heerlager,einschliess-
lich desgrossen barocken Gartens.
Die deutsche – ostdeutsche? – Krise
hat sich auf die Gassen in der Nach-
barschaft übertragen. Zwischen Müll-
säcken aus blauemKunststoff sitzen
und liegen Menschen auf demKopf-
steinpflaster, gegen die herbstlichen
Temperaturen inWolldecken eingewi-
ckelt. Einige löffeln Suppe, anderetrin-
ken ausWein- oder Schnapsflaschen.

Die Tschechen sind empört. Sie er-
zählen mir, dass man überall über Ost-
deutsche stolpert unddass sie sich wei-
gern, Platz zu machen.«Ist es nötig,
hier einen solchen Dreck zu machen,
nur weil man nicht in der DDR leben
will?» Herr Novák, achtzigJahre alt, be-
schwert sich bei derPolizei, die in den
Gassen in ihren parkiertenAutos sitzt,
ohne einzugreifen. DiePolizistenstim-
men den Beschwerden schweigend zu.
Seit der Machtübernahme derKom-
munisten imFebruar1948 sind Bevöl-
kerungundPolizei vermutlich nie so
sehreiner Meinung gewesen. «Und wir
haben immer gedacht, die Deutschen
seien eineKulturnation.»
Gerüchte besagen, dass die Ostdeut-
schen bald weiterfahren dürfen. Doch
wann? Und von welchemBahnhof?
«Und was geschieht dann mit meinem
Tr abant?» DieserAutotyp, sonst in Prag
eine Seltenheit, scheint die ganze Pra-
ger Kleinseite zu beherrschen.

*

In Ostberlin befindet sich dasRegime
schon in derAuflösung.Am 4. Novem-
ber wirdoffen für Meinungs- undVer-
sammlungsfreiheit demonstriert. Die
Demonstration übertrifft alles, was bis
dahin in Leipzig geschehen ist:Fünf
Tage später wird die Mauer fallen.Früh
am Morgen frühstücke ich mit Stefan
Heym. Danach inspizieren wir zusam-
men dasRednerpult auf derLade-
fläche einesLastwagens, der neben
einerFiliale des staatlichenReisebüros
steht. Stefan murmelt: «Ausreisebüro
wäre ein besserer Name.»
Die langeRednerliste gleicht einem
Who is who der Opposition. Doch es
stehen auch Parteifunktionäre wie
Günter Schabowski und MarkusWolf
auf derLadefläche. Die beiden wer-
den ausgebuht:Wolf in einem schicken
Tr enchcoat, als er versucht, «meine
Polizei» zu verteidigen. Ebenso scho-
ckiert wie wütend gibt er auf.
Ichkenne ihn von früher, stehe
direkt unterhalb und will einenKom-
mentar haben, aber er schiebt mich

brüsk zur Seite.Vielleicht erkennt
er mich nicht einmal wieder. Ein
Demonstrant mit Plakat bekommt
den grössten Applaus: «Zusammen mit
unserem Egon in der nächstenWahl
für 105 Prozent».
Nur einigeWochen später steht
Egon Krenz im blauen Wildleder-
mantel vor Schinkels Museum am Lust-
garten und versucht, mindestens zehn-
tausendParteimitgliedern ein wenig
Mut zuzusprechen. Es ist schon dunkel.
Mit schwarzen Ringen unter denAugen
und einem stetenLächeln ähnelt Krenz
demKomikerFernandel. Nachher ant-
wortet er auf meine Fragen,immer
noch lächelnd, während mich die Leib-
wächter fortzuziehen versuchen.
«Gibt es die DDR noch?»Krenz lä-
chelt. Immer wieder stossen michdie
Leibwächter mit Schlagstöcken in den
Rücken. Krenz trägt nicht mehr die
Parteinadel amRevers:Für mich ist
das einewichtigereNachricht als alles,
was er sagt. Immer noch lächelnd ent-
schuldigt er sich. Nun muss er nach
Hause, um zu schlafen. «Am Samstag
hat meineFrau Geburtstag.Wenigs-
tens zwei Stunden möchte ich für sie
haben.»Bald darauf wirdKrenz un-
endlich viel Zeit für seineFrau haben.

*

Zurück in Prag, ist es, als wolle man
dortaufholen, was inPolen, Ungarn
und in der DDR schon geschehen ist.
Das schafft man in elfTagen. Im gan-
zenLand gehen Millionen in den Gene-
ralstreik, zu demVáclav Havel aufge-
fordert hat. Havel? Gestern fast un-
bekannt, spricht er vor einerViertel-
million Prager auf demWenzelsplatz.
Dort trifft man sich dann jeden Nach-
mittag um vier Uhr.Am22. November
sitze ich auf derTr eppe, die zur U-Bahn
hinunterführt, während dieBewohner
Prags um mich herum mit ihren Schlüs-
selbunden klingeln.
Die Zeit derKommunisten ist vorbei.
Zurücktreten!
OhrenbetäubenderJubel, als Alex-
anderDubček auf einemBalkon auf-
taucht, zusammen mit Havel. Angeführt
von der Chansonsängerin Hana Hege-
rovásingt daraufhin der gesamte Platz
die Nationalhymne.Vorher und nach-
her ist es völlig still.Alles, was an den
Kommunismus erinnernkönnte, ist nun
aus dem Strassenbild Prags verschwun-
den. Maschinengeschriebene Flugblät-
ter gehen von Hand zu Hand. «Lasst
euch nicht provozieren, bewahrtRuhe
undWürde.» Täglich werden Presse-
konferenzen in derLaterna Magica ab-
gehalten, dem Experimentaltheater, das
schon Kafka besucht hatte, das nun von
Havels oderDubčeks nachdenklichen
Worten geprägt wird, aber auch von
weniger versöhnlichenWorten anderer
Dissidenten, die auch dabei sein wol-
len. Etliche haben sich selbst eingela-
den. Einer von ihnen istVáclav Klaus,
der alle anderen langweilt, wenn er über
Wirtschaftredet.
Mitten in eine Pressekonferenz platzt
die Nachricht, dass das ganzePolitbüro
zurückgetreten ist.Dubček und Havel
umarmen einander, eine Flasche Sekt
wird entkorkt, auf der Bühne wird ange-
stossen. Der Plastikkorken fliegt in den
Saal, wirJournalisten stürzen uns dar-
auf. Ich bin der glücklicheFinder. Nach-
her fragt mich Havel, schüchtern und ein
wenig stotternd, ob er denKorken haben
dürfe. Ich behalte ihn, auch wenn ich mich
ein wenig dafürschäme. Heute liegt er in
einer von meinen Schreibtischschubladen


  • ich weiss nicht einmal, in welcher.


RichardSwartz,JournalistundSchriftsteller,
erle bte den historischen Umbruch als Ost-
europa-Korrespon dent für «Svenska Dagbla-
det». Seinli terarischerDurchbruchgela ngihm
1996 mit «Room-Service. Geschichten aus
EuropasNahemOsten»;jüngs tistvonihmer-
schienen : «Auster n in Prag. Leben nach dem
Frühlin g» (2019).

«Was geschieht mit meinemTrabant?»–Ostdeutsche am 30. September 1989 vor derwestdeutschenBotschaft in Prag. D. ENDLICHER / AP
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