Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

Samstag, 9. November 2019 INTERNATIONAL


Ex-Präsident Lula auf freiem Fuss


Brasiliens oberstes Gericht kippt eigenes Urteil – schwerer Schlagfür die Korruptionsbekämpfung


THOMAS MILZ, RIO DEJANEIRO


Ex-Präsident Lula da Silva verliess am
Freitagabend(Ortszeit)dasGebäudeder
Bundespolizei in Curitiba, wo er seitAn-
fang April2018 wegenKorruption und
Geldwäsche einsass. Lula profitierte von
einer Entscheidung des Obersten Ge-
richts, das am Donnerstag die Inhaft ie-
rung von in zweiter InstanzVerurteilten
untersagt hatte. Erst wenn das Urteil von
denbeidenübergeordnetenInstanzenbe-
stätigt und damitrechtskräftig wird, darf
ein er Person nun dieFreiheit entzogen
werden.Neben Lula sind nach Schätzun-
gen rund 5000 Häftlinge betroffen.


RadikaleKehrtwende


Das am Donnerstag gefällte Urteilkehrt
eine2016 vondenselbenRichterngetrof-
fene Entscheidungkomplett um. Man
wollte damals mit einem chronischen
Übel der brasilianischenJustiz brechen.
DennwerüberclevereAnwälteverfügte,
konnte stets mit immer neuenAnträgen
ein rechtskräftiges Urteilhinauszögern.
In vielenFällen verjährten die auf dem
InstanzenirrwegverschlepptenProzesse.
Das sollte sich 2016 ändern. Brasi-
lien erlebtedamals nie für möglich ge-
halteneTriumphe der Antikorruptions-
EinheitLava Jato, die seit 2014 reihen-
weisekorrupte Unternehmer und mäch-
tige Politiker überführte und verurteilte.
Die Möglichkeit,dieVerurteilten bereits
nach dem zweitinstanzlichen Urteil zu
inhaftieren, sollte dabei als Druckmittel
eingesetzt werden und dieVerurteilten
zu Kronzeugenaussagen drängen.
Wichtigstes «Opfer» wurde ausge-
rechnet Ex-Präsident Lula, dessen linke
Arbeiterpartei PT während ihrerRegie-
rungszeit ab 2003 dieJustiz modernisiert
und damiterst dieVoraussetzungen für
die Erfolge derLava-Jato-Operation ge-
schaffen hatte. Nachdem Gefolgsleute
gegen ihnausgesagt hatten, wurde der
ehemalige Gewerkschaftsführer wegen
Korruption und Geldwäsche verurteilt.
Das Urteil wurde Anfang2018 in zwei-
ter Instanz bestätigt, und Lula musste im
April 2018 die Haft antreten.
Damit war der beliebteVolkstribun
aus dem Präsidentschaftsrennen genom-
menundderWegfreifürdenRechtspopu-
listenJair Bolsonaro, der vor einemJahr


zumPräsidentengewähltwurde.Wiezum
Dank beförderte Bolsonaro Lulas Rich-
ter Sergio Moro zumneuen Justizminis-
ter. Lulas Anhänger witterten eineVer-
schwörung derJustiz gegen denAltpräsi-
denten. MorosRuf als Held der Antikor-
ruptions-Bewegungmachteihnjedochzu
einem möglichen Präsidentschaftskandi-
daten für die2022 anstehendenWahlen.
Doch mit derVeröff entlichung von
Whatsapp- undTelegram-Gesprächen
zwischen Moro und den Ermittlern und
Staatsanwälten derLava Jato ab Mitte
des Jahres begann der Stern derJustiz-
helden zu sinken. Die Mitschnitte waren
dem US-amerikanischen Enthüllungs-
journalistenGlennGreenwaldzugespielt
worden, der in Brasilien lebt. Er hatte
2013 bereits den NSA-Skandal um den
Whistleblower Edward Snowden ange-
stossen.AufseinerEnthüllungsplattform
«The Intercept» wurden nun die brisan-

ten Gespräche veröffentlicht,die illegale
Absprachen zwischen Moro und den Er-
mittlern nahelegten.

Bolsonaro blockt


Die grössteWirkungerzielte Greenwald
mitderVeröff entlichungvonGesprächen
über Aktionen derJustiz mit dem Ziel,
Lulas Kandidatur Ende 2018 zu verhin-
dern.Das ging selbst einigen der Obers-
ten Richter zu weit. So deuten Experten
dieEntscheidungvonDonnerstag,dieIn-
haftierung nach der zweiten Instanz wie-
derzuverbieten,alsReaktionaufdieAn-
massungen von Moro und derLava Jato.
In einerRede vor dem Gefängnis be-
zeichnete Lula Moro und die Ermittler
der Lava Jato als «Kanaillen», Präsident
Bolsonaronannte er einen Lügner. Lula
setzt nun auf eine Annullierung seiner
Verurteilung. In den nächstenWochen

dürfte das Oberste Gericht darüber ent-
scheiden, ob Richter Moro voreinge-
nommen war und die Prozesse manipu-
liert hat. Die Chancen auf Lulas Abso-
lution stehen gut,glauben Experten,wo-
mitdieProzessegegenihnneuaufgerollt
werden müssten.Damit könnte Lula gar
genug Zeit gewinnen, um sich 2022 um
das Präsidentenamt zu bewerben.
Den Antikorruptions-Ermittlern ste-
hen jedoch schwierige Zeiten bevor.
Auch weil Präsident Bolsonaro sie ent-
gegen seinenWahlversprechennichttat-
kräftig unterstützt. Im Gegenteil. Seit
gegen Bolsonaros Sohn Flavio wegen
Korruption ermittelt wird, blockiert der
Präsident,wo er kann.Geholfen hat ihm
dabei das Oberste Gericht, das den Er-
mittlerndieEinsichtinverdächtigeKon-
ten unter Hinweis auf dasBankgeheim-
nisuntersagte.Damitruhenderzeitprak-
tisch alle Ermittlungen derLava Jato.

Michael Bloomberg sieht sich zum Retter berufen


Der frühere New Yorker Bürgermeisterplant offenbar einePräsidentschaftskandidatur


SAMUEL MISTELI


Wall-Street-Banker, Bürgermeister von
New York, Philanthrop, Republika-
ner, Demokrat: Michael Bloomberg hat
schon vieleRollen eingenommen in sei-
nem Leben.Nun,mit 77, sieht er sich be-
rufen,eine weitere zu suchen:Präsident-
schaftskandidat der Demokratischen
Partei. Amerikanische Medien berich-
teten am Donnerstag, Bloomberg wolle
in den nächstenTagen seine Kandida-
tur ankündigen. Mitarbeiter des frühe-
renBürgermeisters von NewYork hiel-
ten sich imTeilstaat Alabama auf, um
die nötigen Unterschriften zu sammeln,
damit Bloomberg sich dort für dieVor-
wahl anmelden kann. Die Frist in Ala-
bama läuft amFreitag ab. Bloomberg
ist ein Zentrist, der erst im vergangenen
Jahr der DemokratischenPartei bei-
getreten ist.MiteinemVermögen von 52
Milliarden Dollar ist er einer derreichs-
ten Männer derWelt. Seine Kampagne
will Bloomberg laut der«Washington
Post» nur mit eigenem Geld bestreiten.


Joe Biden schwächelt


Bloomberg glau bt offenbar, dass die
führenden Kandidaten der Demokra-
ten entweder zu verwundbar sind (Joe
Biden) oder zu weit links stehen (Eliza-
bethWarren und Bernie Sanders), um
DonaldTrump im November 2020 be-
siegen zukönnen. Bloomberg würde


sich in ein dicht besetztes demokrati-
schesFeld einreihen.
Bloomberg, der beste Beziehungen
zu einflussreichen Demokraten unter-
hält, ist laut Vertrauten besorgt über
den Verlauf derVorwahl der Demokra-
ten.JoeBiden,einModeraterwieBloom-
bergundmit76einJahrjünger,wirdzwar
noch immer alsFavorit gehandelt, doch
seine Kampagnestottert. BidensTeam

sammeltwenigerGeldalsandereAnwär-
ter, der Kandidat selber wirkt oft fahrig.
Zudem schadet Biden dieAufmerksam-
keit,dieseinSohnHuntermitseinenGe-
schäfteninder Ukraine auf sich gezogen
hat. Diese warenAuslöser der Ukraine-
Affäre, die zur Impeachment-Unter-
suchung gegen PräsidentTrump führte.
Die beiden anderen aussichtsreichen
Kandidaten, ElizabethWarren und Ber-
nie Sanders, vertreten linkspopulisti-
sche Positionen, die sich unter anderem
gegen Milliardäre wie Bloomberg rich-
ten. Viele Demokraten fürchten, dass

Warren oder Sanders dieWahl gegen
Trump verlieren würden, weil ihrePosi-
tionen Moderate verprellen. Eine Er-
hebung der «NewYork Times» schien
die Vermutung vor wenigenTagen zu
bestätigen: Sie ergab, dass Sanders und
Warren inwichtigenSwing-StatesTrump
unterliegenkönnten.
Hier sieht Michael Bloomberg offen-
bar eine Einfallspforte für seine Kandi-
datur. Doch allzu grosse Chancen dürfte
der Kandidat Bloomberg nicht haben.
Er muss innertWochen eine Kampa-
gnenmaschine aufbauen, die andere
Kandidaten über Jahre zusammen-
geschraubt haben. Bloomberg zielt zu-
dem auf eine ähnlicheWählerschaft
wie Biden, doch es ist nicht ersichtlich,
weshalb BidensBasis in Scharen zum
spätberufenen Bloomberg überlaufen
sollte. Den beiden Linksp opulisten wird
Bloo mberg kaum Stimmen abnehmen.
Seine Kandidatur dürfte die linkeBasis
gar zusätzlich mobilisieren.Sowohl San-
ders als auchWarren beklagen, Milliar-
däre hätten zu viel Einfluss in der ameri-
kanischenPolitik. Bloombergs Kandida-
tur ist deshalb eine Steilvorlage für sie.
Sie nutzten die Gelegenheit umge-
hend.WarrensTeam verschickte am
Donnerstag eine Fundraising-Nach-
richt, in der es hiess, Bloombergs mög-
liche Kandidatur sei «ein weiteres Bei-
spiel dafür, dass dieVermögenden fin-
den, unsere Regierung und unsereWirt-
schaft hätten in ihrem Dienst zu stehen».

Bernie Sanders schrieb aufTwitter : «Die
Klasse der Milliardäre fürchtetsich,und
si e sollte sich auch fürchten.»

Umstrittenbei Linken


Michael Bloomberg, zuvor schon ein-
mal Mitglied der DemokratischenPar-
tei, war 2001 zu denRepublikanern
übergetreten, um sich um das Bürger-
meisteramt in NewYork zu bewerben.
Er regierte von 2002 bis 2012, die Stadt
florierte wirtschaftlich während seiner
dreiAmtszeiten.BeiderpolitischenLin-
ken war Bloomberg jedoch umstritten,
weil sie ihn dafür verantwortlich machte,
dass sich die soziale Schere weiter öff-
nete.Während in Manhattan glänzende
Hochhäuser hochgezogen wurden, stie-
gen die Mieten fürDurchschnittsverdie-
ner in immer neue Höhen.Die Linke hat
Bloomberg auch nicht verziehen,dasser
bis h eute diePolizeipraxis des «stopand
frisk» verteidigt –Kontrollen, die vor
allem Schwarze undLatinos treffen.
In jüngererVergangenheit hat sich
Bloomberg für verschärfte Waffen-
gesetze und die Bekämpfung des Klima-
wandelsengagiert. Er trat auch als
finanzkräftiger Geldgeber in Aktion,
allein für die Zwischenwahlen 2018 gab
er über 100 Millionen Dollar aus. Nun
will Bloomberg seinVermögen offen-
bar für eine eigene Kampagne einsetzen.
Genügend Geld einzutreiben, dürfte
sein geringstes Problem sein.

Michael Bloomberg
Früherer Bürgermeister
PD von NewYork

Zerreissprobe


in der Moldau


Hältdas Bündnis aus Prorussen
und Proeuropäern?

PAUL FLÜCKIGER,WARSCHAU

DerAusgang der Lokalwahlen An-
fang November ist zum Härtetest für
das buntscheckige moldauischeRegie-
rungsbündnis geworden.Es vereinigt die
prowestliche Anti-Korruptions-Platt-
formAcum und die prorussische Sozia-
listischePartei derRepublik Moldau
(PSRM). Eigentlich hat dieRegierungs-
koalition dieseWahlen komfortabel für
sich entschieden: In 26 von 34 Gebiets-
parlamenten des zwischen der Ukraine
und Rumänien gelegenenLandes setz-
ten sich dieRegierungsparteien durch.
Doch derWahlkampf auf lokaler Ebene
war hart geführt worden und hat einen
Keil zwischen die beiden ideologisch so
unterschiedlichen Regierungsparteien
getrieben. Die Sozialisten waren erfolg-
reicher: Sie siegten in15 Gebietsparla-
menten, die Acum nur in 11.

SozialistenfordernmehrMacht


Die von Staatspräsident Igor Dodon an-
geführten Sozialisten nutzen diesen Sieg
und verlangen mehr Macht in der Zen-
tral regierung. Eine Regierungsumbil-
dung sei auch wegen mangelnder Leis-
tung in gewissen Ministerien unum-
gänglich, sagte Dodon nach derWahl.
Die Justizreform komme nicht vom
Fleck, kritisieren die Sozialisten heuch-
lerisch, als hätte sich die von 2016 bis
2019 regierende Partei je um eineRe-
form derkorruptenJustiz gekümmert.
Stein desAnstosses ist dieAnnullierung
einerAusschreibung für denPosten des
Oberstaatsanwalts. Jetzt will dieRegie-
rungschefin die Stelle besetzen. Die EU
hatte erst imJuni Hilfsgelder an die
Moldau wieder freigegeben, die einge-
froren worden waren. Bis 2020 sollen
nun wieder umgerechnet rund 60 Mil-
lionenFranken in die Moldau fliessen.
Die Nominierung des Oberstaats-
anwalts durch dieRegierungschefin ist
in derTat einRückfall in alte, schlechte
Gewohnheiten.Sandubegründetesieda-
mit, dass es moralisch nicht akzeptable
Kandidaten in die Endrunde geschafft
hätten. Die Opposition behauptet, der
Eingrifferfolgebloss,weil Sandus Kan-
didat unterlegen sei. Nach demWahl-
sieg imJuni hatten sich die Sozialisten
überraschend mitAcum auf eineKoali-
tion geeinigt. DieKombination aus pro-
russischenund proeuropäischen Kräf-
ten ist eine Premiere im postsowjeti-
schenRaum.EmissäreMoskaus,Brüssels
und Washingtons hatten begonnen,am
gleichen Strick zu ziehen. Sie waren des
skrupellosenOligarchenVladPlahotniuc
überdrüssig, der bis dahin dieRegierung
aus dem Hintergrund gelenkt hatte.

MoskausEinfluss


Nun droht der Burgfriede zu zerfallen.
Dabei dürfte Moskau die Hände im
Spiel haben, berichten Beobachter in
Chisinau. DieRegierung Sandu hatte
Russland nämlich im September klar-
gemacht, die Moldau werde weder zur
EU noch zur Nato auf Distanz gehen.
Aussenminister NicolaePopescu hatte
zudem nach einemTreffen mit dem rus-
sischen Amtskollegen SergeiLawrow
dem Kreml vorgeworfen, eine Eini-
gung im Streit um das prorussische
SeparatistengebietTransnistrien zu ver-
hindern. Russland hatte wieder ein-
mal eineFöderalisierung der Moldau
als Friedenslösung ins Gespräch ge-
bracht. Der schmaleLandstrichTrans-
nistr ien hatte sich Anfang der neunzi-
ger Jahreineinem blutigen Bürgerkrieg
von Chisinau abgespalten. Die dort sta-
tionierte14.Sowjetarmee hatte sich an
die Seite der prorussischenAufständi-
schen gestellt. Heute stehen dort noch
1400 Mann der russischen Streitkräfte,
durch die Moldau getrennt vom EU-
und Nato-MitgliedRumänien.
Ein Hoffnungsschimmer für die
Regierungskoalition kommt aus der
Hauptstadt Chisinau. Der neue sozia-
listische Bürgermeister Coban bietet
zwei StellvertreterpostenPolitikern der
Acum an. Man müsse zumWohl de sVol-
kes zusammenarbeiten, appellierte der
junge Sozialist.

InácioLula da Silva lässtsichnachder Freilassung aus dem Gefängnis von Curitiba von Anhängern feiern. RODOLFO BUHRER / REUTERS
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