Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

Samstag, 9. November 2019 SPORT51


«Damit spasst man nicht»


Fussball ist für Aiyegun Tosin die Chance seines Lebens – wer ist der Nigerianer, der den FCZ so fasziniert?


FLURIN CLALÜNA


Es gibt diese schicksalhaften Momente
im Leben einesFussballers. Man be-
tritt denRasen als unbekannter junger
Mann, und wenn man ihn wieder ver-
lässt, ist man jemand anderer geworden.
Zumindest in denAugen der Menschen,
die auf denTr ibünen zugeschaut haben.
Als AiyegunTosin Ende Oktober mit
dem FC Zürich gegenBasel spielt, ist
das ein Erweckungserlebnis. Es sind nur
ein paar Minuten, aber in dieser kurzen
Zeit sehen die ZuschauerTosins Kraft,
seine Schnelligkeit, seine Intuition. Es
ist, als ob da einer seine Zukunft vor-
wegnimmt und alles, was einmalausihm
werdenkönnte. Es ist schon länger her,
dass man beim FCZ so sehr über jeman-
den gestaunt hat, über den man so wenig
wusste. BlossYassine Chikhaouis erstes
Stadtderby in Zürich vor zwölfJahren
war vielleicht noch eindrücklicher.


Erinnerungenan Odey


Der FC Zürich verpflichtete im Som-
mer mehrereneueFussballer, die er als
«Topspieler» ankündigte.TosinsVer-
pflichtung geschah eher beiläufig. Es
war Anfang September, kurz vorTr ans-
ferschluss, als er mit seinerFreundin
und der wenige Monate altenTochter in
Zürich eintraf. Er ist halb Stürmer, halb
Flügelspieler, gekauft für rund 30 0000
Franken vom FKVentspils aus der klei-
nen lettischen Liga.Tosin war ein Spie-
ler aus dem Sommerschlussverkauf. Der
FCZ-SportchefThomas Bickel war zwar
schon imFrühling auf ihn aufmerksam
geworden. Aber damals dachte noch
kaum jemand, dassTosin einer werden
könnte wie die AfrikanerRaphael Dwa-
mena oder Stephen Odey. Diesekonnte
der FCZ vor einiger Zeit für viel Geld
verkaufen. Doch dann sahen die FCZ-
ChefsTosin spielen – und waren «hoch-
erfreut», wie Bickel sagt.
EigentlichistTosins Geschichte eine
der typischen afrikanischenAuswande-
rerstorys. Oft gehensie schief, weilFuss-
ballklubs und Agenten in diesem moder-
nen Menschenhandel auch mit den
Hoffnungen junger Menschen spielen.
Tosin sagt:«Wenn man die Chance be-
kommt, in Europa zu spielen, mussman
sie nutzen.Damit spasst man nicht. Ich
habe mir immer gesagt:Tosin, du darfst


keineFehler undkeine Probleme ma-
chen. Sonst schicken sie dich vielleicht
nach Afrika zurück.» Er habekeine an-
dereWahl, als es zu schaffen. Erkennt
viele, denen es nicht gelungen ist.

Aus 200 ausgewählt


Tosin ist 21-jährig, geboren inLagos in
Nigeria, aufgewachsen mehrheitlich im
Nachbarland Benin, woher seine Mutter
stammt. Sie arbeitete als Coiffeuse, sein
VaterreparierteAutos, vor dreiJahren
ist er verstorben. Bis er 17 Ja hrealt war,
spielteTosin auf der Strasse,«ich hatte
keine Möglichkeit, zu einem Profiklub
zugehen», sagt er. Er schloss sich der

Jugendfussball-AcademyReal Sapphire
inLagos an, und wenn er über diese Zeit
spricht, tönt es, als sei es eine Art Über-
lebenscamp gewesen.
Aus 200Jugendlichen sei er als Ein-
ziger ausgewählt worden, Spieler seien
gekommen und gegangen.«Wenn einer
nicht gut genug war, war er wieder weg.
Das war hart», sagt er. 20Jugendliche
leben dort zurzeit, sie trainieren zwar
unter schlechten Bedingungen, aber
dieAcademy unterhält gute Beziehun-
gen nach Europa, nach Spanien,Lett-
land, Norwegen und Belgien. Der Sport-
direktor vonReal Sapphire, Godwhinn
Austine, sagt amTelefon:«Wirbringen
immer wieder Spieler nach Europa,

zurzeit sind es acht.Aber jemandenmit
dieser Leichtigkeit wieTosin hatten wir
noch nie.Wie schnell er sich entwickelt
hat, ist unglaublich.» EinJahr nur blieb
er in derAcademy.
Tosin war 18 Jahrealt, als er 20 17 ge-
meinsam mit einem weiteren Spieler von
Real Sapphire nachVentspils ging. Zu-
vor war er kurz in Deutschland gewesen,
dann in Malta und der Slowakei, eine
ständige Odyssee,um irgendwo einen
Vertrag zu bekommen, immer in Beglei-
tungeines Managers der nigerianischen
Academy. In Lettland klapptees. Sergei
Usachev, der Geschäftsführer vonVent-
spils, erinnert sich:«Tosin hatte diese
natürliche Geschwindigkeit und Kraft
wie der Boxer MikeTyson.Wir muss-
ten ihm nur noch dasFussballspielen
beibringen.»Das Fussballspielen funk-
tionierte gut,Tosin erzielte schnell viele
Tore, 34 in 88 Spielen. «In seiner zweiten
Saison warTosin mit Abstand der beste
Spieler der lettischen Liga», sagt Usa-
chev. Und was Usachev vielleicht noch
mehr beeindruckt hat, ist dies:«Tosin
war noch so jung. Und doch so erwach-
sen.Wir mochten ihn sehr.» Noch heute
schaue er sich jedes Spiel von ihm an,
wenn er im Internet irgendwo eineFern-
sehübertragung finde.
ZweieinhalbJahre spielteTosin in
Lettland. Als der FC Zürich anfragte,
gerietVentspils in ein Dilemma.Es
war mitten in der Meisterschaft, und
der Geschäftsführer Usachev sagt:«To-
sin war unser Schlüsselspieler. Es war
riskantfür uns, ihn abzugeben. Aber er
hatte es sich so sehr verdient, dass der
Präsident nicht wie ein Präsident, son-
dern wie einVater gehandelt hat.» Als
Tosin von seinem Berater vom ange-
botenenVierjahresvertrag des FCZ er-
fuhr, sagte zu ihm:«Scherzt du? Der FC
Zürich?Das ist ein grosser Klub.» Er
habe es zuerstgar nichtglaubenkön-
nen. Und er habe zu sich selber gesagt:
«Tosin, von jetzt an musst du in jedem
Spiel treffen.»
Er ging ins Bürodes Präsidenten von
Ventspils und sagte, dass er ihm immer
dankbar dafür sein werde, wie guter sich
um ihn gekümmert habe, «ich werde
immer an dich denken, aber ich kann
nicht mein ganzes Leben in Lettland
spielen». Er müsse auch an dieFami-
lie denken. Die Mutter hat inzwischen
aufgehört,in Benin im Coiffeursalon
zu arbeiten. Er sagte ihr: «Ruh dich aus.
Das hast du verdient.»

Glücksfallfür Bickel


Für den FCZ-SportchefThomas Bickel
istTosin schon jetzt ein Glücksfall.
Bickel ist jüngst wegen seiner Sommer-
transfers in die Kritik geraten. Mit dem
Nigerianer sei dem Klub nun eine be-
sonders guteVerpflichtung gelungen,
sagt der Präsident Ancillo Canepa. Er
könnterecht haben.

Hier kommt


Alex – noch nicht


Der FCB-U-18-Trainer Alex Frei
erteilt Hannover 96eineAbsage

fcl.· Zuerst war es bloss ein Gerücht,
dann machten deutsche sowie Schweizer
Medien eine Gewissheit daraus («Alex
Frei wirdTr ainer bei Hannover 96»), und
inFan-Foren war in Anlehnung an den
Song derToten Hosen zu lesen: «Hier
kommt Alex.» Aber schliesslich geschah
nichts. Der frühere Schweizer Interna-
tionale AlexFrei bleibtTr ainer der U-
18-Mannschaft inBasel. Doch weil sich
dieFalschmeldung sonst noch länger ge-
halten hätte, sahen sich derVerein aus
der zweiten Bundesliga sowieFrei dazu
ve ranlasst, ein Statement zu verfassen.
Hannover tat dies prominent auf der
Klub-Homepage, Frei liess sich auf der
Vereinsseite des FCB zitieren.
Frei schrieb, er bestätige, dass er Ge-
spräche mit Hannover 96 geführt habe,
er stehe für das Amt des Cheftrainers
jedoch nicht zurVerfügung. «Ich fühle
mich geehrt, dass ich bei einemTr adi-
tionsverein wie Hannover 96 alsTr ai-
nerkandidat gehandelt wurde.»Auch
der deutscheVerein bedankte sich für
die guten Gespräche, aberFrei gedenke
seinenVertrag inBasel zu erfüllen.
Gedanken hat sichFrei in den letz-
tenTagen aber durchaus gemacht. Es
sei selbstverständlich, dass derTr adi-
tionsverein «für jedenTr ainerkandida-
ten eine Überlegung wertsein sollte».
Doch wenn man Hannovers undFreis
Geschichtekennt, kann man nur zum
Schluss kommen: DieAbsage ist die
richtige Entscheidung für den 40-Jähri-
gen. Die Anfrage kam zu früh, weilFrei
noch nicht über die nötige Lizenz verfügt.
Die Abschlussprüfungen sind im nächs-
tenFrühling.Ausserdem steht Hanno-
ver 96 imRuf, oft nur einen Schritt vom
Chaos entfernt zusein. Damitkennt sich
Frei aus. Er stieg vor sechseinhalbJahren
direkt nach der Spielerkarriere als Sport-
chef beim FC Luzern ein, brannte aber
schnell aus. Ernahm sich eineAuszeit
und begann später behutsam eineTrai-
nerkarriere im Nachwuchs. 20 15 sagte
er in einem Interview mit der «NZZ
am Sonntag»: «Den medialenFokus auf
meinePerson will ich nicht mehr.»
Inzwischen scheintFrei aber wieder
Lust auf eine grössere Bühne zu verspü-
ren. Bereits vor einem Monat soll er in
Kontakt mit Holstein Kiel aus der zwei-
ten Bundesliga gestanden haben. Und
das nächste Angebotkommt bestimmt.
Eskönnte das richtige sein.

SuperLeague,14. Runde


Samstag, 19 Uhr Sonntag, 16 Uhr
Luzern - Servette Zürich - Sitten
Xamax - Thun Lugano - Basel
YB - St. Gallen



  1. YB 13/28 6. Servette 13/15

  2. Basel 13/27 7. Luzern 13/15

  3. St. Gallen 13/26 8. Lugano 13/13

  4. Zürich 13/18 9. Xamax 13/12

  5. Sitten 13/17 10. Thun 13/6


Blicknachvorne:AiyegunTosin im Shirt des FC Zürich. JOËL HUNN / NZZ

St.Gallens


langes Warten


Letzter Sieg in Bern vor 14Jahren


(sda)· In der14. Runde der Super League
reist der FC St. Gallen am Sonntag zu
einem Spitzenkampf nach Bern. Die
blutjunge St. Galler Mannschaft schrei-
te t von einer harten Prüfung zur andern,
und seit siebenRunden hat sie immer
bestanden; St. Gallenist in der Meister-
schaft seit MitteAugust ungeschlagen.
Das Auswärtsspiel gegen den Meis-
ter stellt für dasTeam vonTr ainerPeter
Zeidler die bisher grössteHerausforde-
rung dar – auch wenn die Berner wei-
terhin längst nicht in der besten Beset-
zung antretenkönnen. YB muss unter
anderem auf die Stammspieler Hoarau,
Sulejmani und Sierro verzichten. Zu-
letzt hat YB auf die Niederlage in Genf
(0:3) vom letztenWochenende mit einer
guten Leistung in der Europa League
beiFeyenoordRotterdam (1:1) geant-
wortet. Ein Sieg des FCSG bekäme
eine historische Dimension. Letztmals
gewannen die Ostschweizer unter dem
österreichischenTr ainer und späteren
Sportchef HeinzPeischl im März 2005
in Bern,alsYB noch im Neufeld spielte.
Im Stade de Suisse siegten die Berner
in 18 Duellen. Sechs weitere gingen un-
entschieden aus. Schlechte Erinnerun-
gen haben die St. Galler an den Okto-
ber 2017, als sie letztmals eine als «Spit-
zenspiel» apostrophiertePartie in Bern
bestritten: Siereisten alsTabellenzwei-
teran und unterlagen mit 1:6.

Schlammwrestling mit den Grasshoppers


1:1-Remis imZürcher Kantonalderby gegen den FCWinterthur


fcl.·Am liebsten hätte der GC-Trainer
UliForte gegen Ende derPartie inWin-
terthur wohl eineRasenhackezur Hand
genommen, um die nötigsten Garten-
arbeitenauf diesemAckerrasen gleich
selber zu erledigen. Seine Spieler sahen
aus wie nach einerRunde Schlamm-
wrestling, und so übermüdet wirkten sie
irgendwann auch.Das Gute für GC war,
dasses dem FCWinterthur nicht anders
erging. Irgendwann war es nur noch alt-
englisches Kick andRush, was sich die
Mannschaften an diesem Abend zutrau-
ten und den 9000 Zuschauern zumute-
ten. Aber wirklich bösekonnte ihnen
angesichts der Umstände niemand sein.
Besonders in der zweiten Halbzeit
sahen dieFussballer manchmalaus wie
Skifahrer auf einer Buckelpiste. Und als
ob die Bedingungen nicht schon schwie-
rig genug gewesen wären, zündeten die
Fans in beiden Sektoren auch noch


Rauchpetarden, so dass sich Nebel-
schwadenüberdenRasen legten und
die Spieler nicht mehr genau sahen, wo
eigentlich derBall war.

Mehr können wirnicht


Am Ende gab es nach diesem Kampf-
spiel eine Friedensumarmung zwi-
schen den CaptainsVeroljub Salatic
undDavide Callà. Beide wirkten in die-
sem Moment nicht unzufrieden mit dem
1:1-Remis, aber richtig glücklichkonnte
es sie auch nicht machen, weil es ihnen
in derTabelle nicht weiterhilft.
Und doch schien es so, als hätten sich
die beiden Mannschaften imVerlauf der
zweiten Halbzeit stillschweigend darauf
verständigt,eseinfach bei einem Unent-
schieden zu belassen. Es war, als wollten
si e sagen: Mehrkönnen wir heute nicht
tun. Und irgendwann wollten sie auch

nicht mehr tun. Sich wortlos auf dieses
1:1 zu einigen, war umso naheliegender,
als es niemand als ungerecht empfinden
konnte.Eswar ein chancenarmes Spiel
mit vereinzelten lichten Momenten in
der ersten Halbzeit – und einer GC-
Mannschaft, die ein bisschen attraktiver
aussah als der Gegner, weil sie über die
besseren Einzelspieler verfügte.Jeman-
den wie den kleinenTechnikerPetar Pu-
sic, der bis zu seinerAuswechslung auf-
fallend gut versteckte, dass er einer ist,
der auf einem solchenTerrain besonders
leidet. An ihm liess sich jedoch aufzei-
gen, was den Grasshoppers an diesem
Abend erstaunlich gut gelungen war: Sie
waren sich als nominell bessere Mann-
schaft nicht zu schade,sich ins Kampf-
getümmel zu werfen.
Als Pusic nach derPartie zumFern-
sehinterview erschien, sagte er: «Ich
denke,dass wir die überlegene Mann-

schaft waren, besonders in der ersten
Halbzeit.» Aber damit das bessereTeam
dann auch tatsächlich gewinnt, darf es
sich nichtFehler erlauben wie nach
einer halben Stunde in diesem Spiel.

Wie bei den Junioren


Es war eine Szene, wie man sie beiJunio-
renspielen sieht, wenn jemand in der
eigenen Platzhälfte denBall nimmtund
einfach losrennt. Die halbe GC-Mann-
schaft umspielte derWinterthurer Nuno
DaSilva, nur ganz am Schluss hatte er
etwas Glück, das 1:0 zu erzielen. Und
wennForte den Grasshoppers nicht so
kluge Standardvarianten beigebracht
hätte, wäre dieses Spiel nochkomplizier-
ter für sie geworden. Aleksandar Cvet-
kovic traf kurz nach dem 0:1 perKopf.
Am Ende des Abends zuckte er mit den
Schultern: Mehr ging heute nicht.
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