Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

6INTERNATIONAL Samstag, 9. November 2019


Die Politik in Haiti versagt –


Proteste legen das Land lahm


Die Bevölkerung wirft dem Präsidenten und der Regierung Unfähigkeit zur Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Probleme vor


Der diskreditierte Präsident


Haitis klammert sich an sein


Amt.Verhandlungen mit


der Oppositionkommen nicht


zustande. Die internationale


Politik ist zunehmend


desinteressiert am Karibikstaat.


PETERGAUPP,SAN JOSÉ DE COSTA RICA


Seit Mitte September hält die jüngste
Protestwelle im ärmstenLand der west-
lichen Hemisphäre an. Regelmässig fin-
den in Haitis HauptstadtPort-au-Prince
und anderen Städten Massenkund-
gebungen gegen dieRegierung statt.Der
Strassenverkehr ist häufig durchBarri-
kaden lahmgelegt, die meisten Schulen,
Ämter, Banken und Geschäfte sind ge-
schlossen,die Spitäler kaum mehr funk-
tionsfähig. Bisweilen arten die Proteste
in Gewalttätigkeit und Brandschatzung
aus, öffentliche Einrichtungen werden
verwüstet,Läden geplündert.


ZahlreicheOpfer


Laut lokalen Menschenrechtsgruppen
haben die Unruhen bisher nahezu 100
Tote und rund 200 Verletzte gefordert.
Die Regierungnenntgeringere Zah-
len. In Haiti herrschen schon unter nor-
malen Umständen Arbeitsmangel und
Hunger; 60 Prozent der Bevölkerung
leben laut Uno-Statistiken in abso-
luter Armut, etwa die Hälfte ist unter-
ernährt. Die Stilllegung von Betrieben


und dieVersorgungskrise alsFolgen der
Unruhen haben das Elend weiter ver-
schärft. Selbst die von internationalen
Organisationen verstärkte Nothilfe er-
reicht die Bedürftigen kaum mehr.
Eine Hauptforderung der Protestie-
renden ist derRücktritt des Präsidenten.
Jovenel Moïse wurde imFebruar 20 17
in lange verzögertenWahlen bei einer
Beteiligung von bloss 21 Prozent der
Stimmberechtigten gewählt. Sein Man-
dat war vom erstenTag an umstritten,


seine Amtsführung hat ihn nicht belieb-
ter gemacht.Frühere Unruhenkonnte
Moïse aussitzen,indem er Kabinetts-
mitglieder und auch den Premierminis-
ter auswechselte und eine Benzinpreis-
erhöhung zurücknahm. Je kritischer die
Lage ist, desto weniger zeigt er sich in
der Öffentlichkeit.
Die jetzige Protestwelle ist freilich die
längste und am breitesten abgestützte,
und sie gleicht immer mehr einem veri-
tablenAufstand. Neben der im Par-
lament vertretenen Opposition,einer
Regenbogenkoalition von über hundert
zivilen Organisationen,der katholischen
Kirche, evangelischen Gruppen und Stu-
denten haben sich auch grosseTeile des
Privatgewerbes den Protesten ange-
schlossen. Organisatoren einer grossen
friedlichenKundgebung waren Musiker
und Künstler.
Auslöser der jetzigen Protestwelle
waren im September eine zunehmende
Treibstoffknappheit, Inflation und stei-
gende Preise. Dem Präsidenten und der
seit März ohne Premierminister amtie-
rendenRegierung wirdUntätigkeit und
Unfähigkeit zur Lösung der sozialen und
wirtschaftlichen Probleme vorgeworfen.
Schuldan der Misere ist allerdings nicht

nur die Exekutive, sondern auch das zer-
stritteneParlament, dem dieRegierung
vorwirft, es torpediere ihre Bemühun-
gen. Im Oktober verweigerte der Senat
die Bestätigung eines von Moïse vorge-
schlagenen neuenRegierungschefs. Fünf
Senatoren sollen dabei je 100000 Dol-
lar geboten wo rden sein, damit sie für
den Kandidaten stimmten.

2 MilliardenDollar veruntreut


Der Überdruss über die chronischeKor-
ruption in den politisch tonangebenden
Kreisen ist letztlich die stärksteTrieb-
kraft der Proteste. Das Fass zum Über-
laufen gebracht hat der Befund einer
Auditoren-Kommission des Senats, wo-
nach rund 2 Milliarden Dollar verun-
treut wurden, über die Haiti imRah-
men desPetrocaribe-Programms der
venezolanischenRegierungverfügte.Zu
dennamentlichgenanntenvermutlichen
Nutzniessern gehören Präsident Moïses
Vorgänger und Mentor Michel Martelly
sowieMoïseselbst,dervorseinemAmts-
antritt in mehrerenFirmen tätig war, die
der Korruption beschuldigt werden.
Wegen der Krise inVenezuela ist
das Petrocaribe-Programm für Haiti

seit Juni 2018 suspendiert.Damit sind
die langfristigen Kredite zu sehr günsti-
gen Konditionen ausgefallen, mit denen
Haitivenezolanisches Öl stark verbil-
ligt beziehenkonnte. Durch denVerkauf
der Treibstoffe zu marktüblichen Prei-
sen konnte dieRegierung Gewinne er-
zielen. Diese sollen statt in soziale und
Infrastrukturprojekte zum grossenTeil
in privateTaschen geflossen sein. Straf-
rechtlicheFolgen hat der Skandal bisher
aber nicht gezeitigt.
Die Verteuerung undVerknappung
der Treibstoffe bekamenWirtschaft
und Bevölkerung indessen sogleich zu
spüren. Hinzukommt eine anhaltende
Krise inder Elektrizitätsversorgung,
weil der Strom in Haiti fast ausschliess-
lich aus Ölkraftwerken gewonnen wird.
Ein Nutzniesser der Unruhen ist das
in Haiti stark verwurzelteBandenunwe-
sen. Die Bevölkerung lebt in Angst um
Leib und Leben. EinTeil der vermögen-
den Schicht hat sich insAusland abge-
setzt. Seitdem dieVereinten Nationen
ihre imRahmen einer langjährigen Mis-
sion zur Stabilisierung desLandes einge-
setzten Militär- undPolizeikontingente
im Oktober 2017 abgezogen haben,
liegt die ganze Bürde zurAufrecht-

erhaltung der Sicherheit auf den Schul-
tern der etwa15 000 Angehörigen der
Police Nationale d’Haïti,die von auslän-
dischen Expertenrekrutiert und ausge-
bildet worden war.
DieTruppe ist von den massiven Un-
ruhen überfordert. Wie viele der Op-
fer, die zumeist von Schusswaffen ge-
tötet und verletzt wurden, auf ihrKonto
gehen, ist umstritten. Offiziell setzt die
Polizei nurTränengas und Gummi-
geschosse ein.Auch Polizeiposten sind
Ziel der Angriffe vonAufrührern. Die
schlecht entlöhnten Beamten sind anfäl-
lig für Loyalitätskonflikte. Polizisten in
Zivil sollen sich denKundgebungen an-
geschlossen haben.
In diesem Septemberhat die Uno
auch die nach dem Abzug der Unifor-
mierten in Haiti verbliebene Mission
zur Unterstützung derJustiz beendet.
Lediglich ein kleines Büro derVerein-
ten Nationen verbleibt jetzt inPort-au-
Pri nce. Dies ist symptomatisch für das
zunehmende Desinteresse der inter-
nationalenPolitik am chronischen Kri-
senland Haiti.Kaum jemand will sich
die Hände an demLand verbrennen,
das alsFass ohne Boden für Hilfe aus
dem Ausland gilt, insbesondere seit die
Unterstützungskampagne nach dem
schweren Erdbeben imJahr 2010 wenig
bleibendeWirkung gezeigt hat.

VerhärteteFronten


So ist es den einheimischenVerantwort-
lichen überlassen, einenAusweg aus
dem gegenwärtigen Schlamassel zu fin-
den. Es gibt jedoch bis jetztkeine An-
zeichen dafür, dass sie sich auf einen ge-
meinsamen Effort einigenkönnen.Auch
die gemässigteren Promotoren der Pro-
teste haben inzwischen denRücktritt
des Präsidenten zurVorbedingung für
Verhandlungen zurBildung einer Über-
gangsregierunggemacht. Moïse lehnt
ab; er beteuert,sein e Demission wäre
unverantwortlich, und stellt sich selber
als Opfer eines funktionsunfähigenSys-
tems dar. Beide Seitenhaben Kommis-
sionen berufen, die Lösungsvorschläge
machen sollen, aber offensichtlich nicht
miteinanderreden.
Dass es bisher nicht zu grösseren Ge-
walteruptionen gekommen und noch
mehr Blut geflossen ist,liegt wohl daran,
dass der weit überwiegendeTeil der
11-Millionen-Bevölkerung sich in erster
Linie um das nackte Überleben küm-
mern muss. Ohne dasVenti l de rAus-
wanderung, vor allem in die USA und
nach Kanada, und die Geldüberweisun-
gen Hunderttausender von Emigranten,
die längst zur Hauptdevisenquelle des
Landes geworden sind,wäre das Pulver-
fass Haiti vermutlich längst explodiert.

Protestierende inPort-au-Prince verlangen den Rücktrittdes Präsidenten. ANDRES MARTINEZ/REUTERS

Der Überdruss über die
chronische Korruption
in den politisch
tonangebenden Kreisen
ist die stärkste
Triebkraft der Proteste.

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