Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

Samstag, 9. November 2019 INTERNATIONAL


Zehntausende Kurden ergreifen die Flucht


Bardarash im Nordirak wird zum Symbol für Katastrophen: Neben Jesiden leben dort nun auch vortürkischen Truppen geflohene Kurden


INGAROGG,BARDARASH


Barfuss stakst der kleine Ahmed über
eine niedrige Mauer aus scharfkantigen,
grauen Steinblöcken, die Haut in sei-
nem Gesicht und an den Beinchen ist
rau und von weissen Flecken abgefalle-
nenWundschorfs überzogen.Eiligrennt
seine Schwester herbei, um den Buben
von der Mauer zu ziehen. Er wehrt sich
und schreit, erst ein Bonbon beruhigt
ihn.Kurz danach liegtAhmed im Schoss
seiner Mutter in einem Zelt im Flücht-
lingslagerBardarash im Nordirak.
In einem dunkelblauen Kleid mitRo-
senmuster und mit ockergelbemKopf-
tuch sitzt Siham Hawaz auf dem Boden
eines weissen Zeltes, dessen einziges
Inventar fünf Schaumstoffmatratzen
sind. Sanft wiegt die Mutter den kleinen
Ahmed. Die etwa 30-Jährige, ihr Mann
und ihre fünf Kinder sindsyrischeKur-
den, die wie Zehntausende vor den An-
griffen derTürkei flohen, nachdem der
amerikanische Präsident DonaldTrump
seinem türkischen AmtskollegenRecep
Tayyip Erdogan grünes Licht für die Of-
fensive in Nordostsyrien gegeben hatte.


UnterTrümmern begraben


Es ist vier Uhr nachmittags am 9. Okto-
ber, dem erstenTag der Offensive, als
Hawaz über ihrer HeimatstadtRas al-
Ain Flugzeuge kreisen sieht. SeitTa-
gen hat Erdogan gedroht, er werde dem
«Terror korridor», wie er die vonKurden
dominierte Selbstverwaltung inSyrien
nennt,ein Ende bereiten.Immer wieder
habe sie ihr Mann beruhigt, es werde
nichts geschehen,schliesslich seien die
Amerikaner hier, erzählt Hawaz. Doch
derTöffmechanikertäuscht sich.Trump
bläst zumRückzug. Er habe nie ver-
sprochen, dieKurden «für denRest
ihres Lebens» zu schützen, sorecht-
fertigt er den Entscheid knapp zwei
Wochen später lapidar.
Kurz nach16 Uhr fallen die ersten
Bomben aufRas al-Ain. «Links und
rechts von unserem Haus gingen die
Bomben runter», sagt Hawaz. Mit einer
ausladenden Armbewegung deutet sie
die Richtungen an. Gerade nochrecht-
zeitig packt die Mutter ein paar Sachen
für die Kinder, Papiere und Wertsachen
in eineTasche. Kurz darauf wird das
Haus der Nachbarn getroffen. Die tür-
kischeRegierung bestreitet, inSyrien
zivile Ziele angegriffen zu haben, Ha-
waz widerspricht.ImNachbarhaus habe
eine Familie gewohnt,sagt sie. «Sie woll-
ten gerade das Haus verlassen, als die
Bombe herunterfiel. Die Eltern und
einer der Söhne wurden unter denTrüm-
mern begraben.» ZweiTöchterund ein
Sohn hätten den Luftangriff überlebt.
Zu Fuss macht sich die siebenköp-
fige Familie von Siham Hawaz auf den
Weg in das knapp 80 Kilometer ent-
fernte Hasaka und von dort in Richtung
Grenze zum kurdischenTeilstaat im
Nordirak.Aus Angst vor Angriffen der
Türkei und ihrem Stosstrupp aus syri-
schenRebellen übernachtet dieFami-


lie während des einwöchigen Marsches
im freienFeld. Seit dreiWochen nun le-
ben sie in einemZelt im Flüchtlingslager
nahe der irakisch-kurdischen Kleinstadt
Bardarash.

GutesGeschäftfür Schmuggler


Das Campliegt auf einer steinigen,
ödenAnhöhe, imWesten erhebt sich ein
Bergmassiv,in den anderen Himmels-
richtungen erstreckt sich die Ebene um
Bardarash. Die syrischenKurden sind
nicht die ersten Flüchtlinge, die hier ge-
strandet sind.Die Gegend ist in gewisser
Weise einSymbol für die grossen Kata-
strophen, die sich seitJahren im Irak
und inSyrien abspielen. Nicht weit von
Bardarash erheben sich auf Hügeln und
im flachenLand teilweise riesige Zelt-
städte, in denen Zehntausende von An-
gehörigen derMinderheit derJesiden
untergebracht sind, die denVölkermord
durch den Islamischen Staat (IS) über-
lebt haben.
Das Camp, in dem Siham Hawaz jetzt
lebt, diente bisvor kurzem noch als Zu-

flucht für Zivilisten, die vor dem IS aus
der nordirakischen Grossstadt Mosul
geflohen waren. Nachdem dieVertrie-
benen wieder zurückgekehrt waren,
schloss es die kurdischeRegionalregie-
rung vor knapp einemJahr. Mitte Okto-
ber begannen das Uno-Flüchtlingshilfs-
werk und die kurdischen Behörden er-
neut Zelte zu errichten. Mit mehr als
11 000 Flüchtlingen hat dasLager in-
zwischen die Kapazitätsgrenze erreicht,
mehr als 2000wurden bisher auf andere
Camps mitKurden verteilt, die bereits
zu Beginn des Blutvergiessens inSyrien
im Nordirak Schutz und Sicherheit ge-
sucht hatten.
Rund 150000 Frauen, Männer und
Kinder sind vor der türkischen Offen-
sivenachHasakaoderinandereStädtein
Syrien geflohen.Wie Flüchtlinge inBar-
darash bestätigen, haben die kurdischen
Sicherheitskräfte inSyrien die Grenze
zumIrakmittlerweiledichtgemacht.Eine
Begründung für den drastischen Schritt,
der laut Hilfsorganisationen gegen die
Genfer Flüchtlingskonvention von 1951
verstösst,nann ten sie nicht.Trotzdem
treffen täglichDutzende von Flüchtlin-
gen im Nordirak ein. Allerdings müssen
sie dafür Schmuggler bezahlen. Diesen
bietet die Not ein einträgliches Geschäft.
FürjedenErwachsenenkassierensiezwi-
schen 200 und 700 Dollar.
Izzeddin Hussein Amin schloss sich
mit der halben Grossfamilie, unter ihnen
eine blindeCousine und ein behinder-
tes Kind, dem Flüchtlingstreck an, als
Kämpfer im SoldAnkaras auf sein Dorf
zwischenRas al-Ain undTellTamer vor-
rückten. «Sie behaupten, im Namen des
Islams zu kämpfen», sagt Amin über die
Kämpfer, die sich grossspurig «Syrische
Nationalarmee» nennen.«Dabei sind sie
nichts anderes alsDaesh (IS) in einem
anderen Gewand.Wenn sie unsKurden
erwischen, bringen sie uns um.»Dazu
fährt Amin mit der Handkante über
seineKehle.
Bilder undVideos,die in den vergan-
genenWochen im Internet auftauchten,
zeigen, wie die türkischen Hilfstruppen
Gef angene umbringen, Häuserkonfis-
zieren und dieKurden als Gottlose und
Schweine beschimpfen.Ankara hat eine

Untersuchung derVorfälle angekündigt.
Doch Amin traut denWorten nicht. Ein
Blick nach Afrinreiche,um zuwissen,
was denKurden blühe, sagt er. Mehr als
eineinhalbJahre nach ihrem Einmarsch
ist es denTürken immer noch nichtge-
lungen, der verbreitetenRechtlosigkeit
in der mehrheitlich kurdischen Provinz
ein Ende zu bereiten.
Einige Flüchtlinge machen indes
nicht nur dieTürkei, sondern auch die
kurdischenVolksverteidigungseinhei-
ten (YPG) für das Elend verantwortlich.
Sein Elternhaus in der Grenzstadt Ka-
mish li sei ins Kreuzfeuer geraten, weil
YPG-Kämpfer aus dem Quartier auf die
Stadt Nusaybin auf der türkischen Seite
geschossen hätten, berichtet Moham-
medKemal Suleiman. «Auf demDach
unserer Nachbarn bezog ein Scharf-
schütze Stellung. Die Türkei ist zwar
viel schlimmer, aber unschuldig sind die
YPG nicht.»

«Unsere Gegendwar sicher»


WieHawazundAminfürchtetauchSulei-
man die türkischen Soldaten und deren
syrischeHandlanger.IndieFluchtgetrie-
ben hat ihn aber vor allem die Angst vor
denTruppen des syrischenRegimes.Von
den Amerikanern im Stich gelassen und
vom nördlichen Nachbarn bedroht, hat
sichdieYPG-FührungaufeinenPaktmit
dem DespotenBashar al-Asad eingelas-
sen. Aus Furcht, in dieFänge derTrup-
pen desRegimes zu geraten und zum
schierendlosenMilitärdienstverpflichtet
zu werden, hat sich der 24-jährige Sulei-
man wie viele andere junge Männer, die
wir inBardarash treffen, in den irakisch-
kurdischenTeilstaat abgesetzt.
Immer wieder hat der türkische Prä-
sident Erdogan erklärt,die Militäropera-
tion richte sich nicht gegen dieKurden,
sondern ausschliesslich gegen die«Ter-
roristen» von derYPG. Schützenhilfe er-
hielt er dieseWoche ausgerechnet von
einemKurden. DieTürkei habekein
«Problem mit denKurden inSyrien»,
erklärte der irakisch-kurdischeRegio-
nalpräsident NechirvanBarzani. Der
syrischeKurde Izzeddin Hussein Amin,
ein glühender Anhänger derBarzani-

Familie, wählt seineWorte mit Bedacht.
«Ich weiss nicht, was Erdogan will», sagt
er. «Aber er hat gesagt, dass er Flücht-
linge aus derTürkei ansiedeln will. Doch
dies ist unserLand.» Dann zählt er sei-
nen Besitz auf: 60 Hektare fruchtbares
Ackerland,ein e eigeneWasserquelle,
ein Autohaus, Supermarkt, sechsJeeps,
drei Personenwagen.Das alles hatAmin
auf absehbare Zeit verloren,sein Dorf
haben mittlerweile Erdogans Helfers-
helfer besetzt. «Die YPG haben gegen
Daesh gekämpft und uns geschützt»,
sagt er. «Bis zum türkischen Einmarsch
war unsere Gegend sehr sicher. Jetzt ist
genau das Gegenteil derFall.»
Er wolle vor allem in Sicherheit le-
ben, sagt Amin, ob die Amerikaner, die
Russen oder Asad dafür sorgten, sei
ihm egal. Nur: Solange türkischeTrup-
pen und ihr verlängerter syrischer Arm
im Land seien, werde er aufkeinen Fall
in sein Dorf zurückkehren. «Erdogan
ist schuld an unserer Misere», entfährt
es dem vollbärtigenKurden dann doch.
«Er hat dieseBande insLand gebracht.»
So sieht es auch Siham Hawaz.«Schau
si e dir doch an», sagt sie über die meist
islamistischen Kämpfer, die die türki-
sche Armee aus Nordwestsyrien heran-
gekarrt hat.«Sie rauben und plündern,
wo es nur geht.»

Ein friedlicher Anblick


Fürdie fünffache Mutter ist die Beset-
zung vonRas al-Ain durch dieTürken
und deren syrischeVerbündete beson-
ders bitter.Wie Amin sieht Hawaz in
Ankaras Hilfstruppen nichtsanderes
als eineVariante des IS.Sie selbst hat
im Krieggegen den IS ihrenVater und
ihren erst18-jährigen Bruder verloren.
«Und jetzt das», sagt sie. «Die bringen
uns alle um, wenn wir zurückkehren»,
fährt sie mit versteinerter Miene fort.
«DieTürkei will, dass wirKurden vom
Erdbodenverschwinden.» Dabei wiegt
sie den kleinen Ahmed, der inzwischen
tief schlummert, sanft in ihrem Schoss


  • e in friedlicher Anblick in dieserWelt-
    gegend, in der nach all den vielenToten
    und Vertriebenen ein weiteres Mal der
    NZZ Visuals/efl. Krieg über denFrieden gesiegt hat.


Einflusszonen in Syrien und im Irak


QUELLE: IHS CONFLICT MONITOR, STAND: 6. NOVEMBER 2019

Türkische Einflusszone Sunnitische Aufständische Jihadisten
Kurdische Gruppen Irakische Regierung

Erbil

Ras al-Ain Bardarash

Hasaka

Afrin Tell Tamer

200 Kilometer

Homs

Damaskus IRAK

SYRIEN

TÜRKEI

JORDANIEN

LIBANON

IRAN

Mosul

Kamishli

Asad-Regime

Vonden Amerikanern im Stichgelassen, ist einTeil der vor ErdogansTruppen geflohenenKurden nahe der irakisch-kurdischen StadtBardarash untergebracht. BYRON SMITH / GETTY
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