Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

Samsta g, 9. November 2019 MEDIEN 9


IN MEDIAS RAS


Das globale Dorf


blei bt ein


Dschung el


Rainer Stadler· Die medialeAvantgarde
hat ein neuesTummelfeld gefunden:
Tiktok. Wer dieVideoplattform besucht,
is tversucht, an den berühmten Spruch
des amerikanischenKommunikations-
wissenschafters NeilPostman aus den
siebzigerJahren zu erinnern:Wir amü-
sieren uns zuTode.Angesichts der zahl-
losen, nervösen Häppchen-Filme mit
banalen Episoden aus dem Alltag der
jugendlichenFreizeitgesellschaft müsste
man wohl eher diagnostizieren:Wir zap-
peln uns zuTode.
Doch wer will schon kulturkritische
Nörgeleien hören.Freuen wir uns über
eine Innovation, die mehrWettbewerb
auf dem Markt der sozialen Netzwerke
schafft.DieKonkurrenz könnte auf
«natürlichem»Weg erwirken, was linke
wierechteFraktionen in derPolitik zu-
nehmend fordern – eine Eindämmung
der Macht vonFacebook.
Die Sache hat einen Haken. Erstmals
scheinteineKommunikationsplattform
in den westlichenLändern Bedeutung
zu erhalten, die nicht im digital-libertä-
ren Milieu Kaliforniens herangewach-
sen ist, sondern einen autoritären Hin-
tergrund hat. Sie wird vom chinesischen
Unternehmen Bytedancekontrolliert.
Im verschärftenKonflikt mit China
sorgt man sich in den USA darüber,dass
Infrastrukturen entstehen, die eine ge-
fährliche Abhängigkeit von undemokra-
tischen Staaten schaffen. DieFrage stellt
sich umso mehr,wenn es umKommu-
nikationsplattformen geht. Sie prägen
di e Meinungsbildung in freiheitlichen
Gesellschaften. Nicht zufällig schreibt
auch in den USA das Gesetz vor, dass
Medienbetriebe mehrheitlich in einhei-
mischem Besitz sein müssen.
Tiktokwill eineneutralePosition
einnehmen bzw.die politischen und
sozialen Normen der einzelnenLän-
der berücksichtigen.Was auch heisst:
DieVideoplattform verschweigtTabu-
themen. Die britische Zeitung«T he
Guardian» machtekürzlich dieRegeln
des Netzwerks publik.Verbannt werden
demnachErwähnungen des Massakers
auf demTiananmen-Platz von1989, die
Unruhen in Indonesien von1998 oder –
in derTürkei – Kritik an Staatspräsident
Erdogan. Unerwünscht sind ebenso Bei-
träge über Homosexualität.
Klar,Plattformen wieTiktok dienen
der Unterhaltung.Harmlos sind diese
Zeitvernichtungsmaschinen dennoch
nicht. Gerade in dieser lockeren Um-
gebung ergeben sich, wie das Beispiel
Facebook zeigt, Chancen für Akteure
mit politischen Interessen.
In diesem Zusammenhang mel-
dete sich am Mittwoch Christophe De-
loire, Generalsekretär der Organisa-
tionReporter ohne Grenzen, zuWort.
In der Zeitschrift «ForeignPolicy» plä-
dierte er für einen verstärkten Zusam-
menschluss der demokratisch gesinnten
Staaten. Um die Flut anFalschinforma-
tionen einzudämmen, brauche es einen
globalenWachhund. In den sozialen
Netzwerken müssten die glaubwürdigen
In formationen mehr Gewicht erhalten.
So wie es Standards für sauberesWasser
gebe, benötige manVorgaben für ein in-
formationelles Ökosystem.
Entsprechende publizistischeRegeln
gibt es seit langem in den freiheitlichen
Staaten. Die Diskussion über deren Ein-
haltung und Interpretation ist schon im
nationalenKontextkomplex.Auf glo-
baler Ebene wird man blossPapiertiger
kreieren. Zentrale Lösungen gefährden
dieFreiheit. Eine «gesunde» Informa-
tionsumwelt hängt wesentlich davon ab,
wie die einzelnen Medienbetriebe ihre
Verantwortung wahrnehmen.Jemehr
Glaubwürdigkeit ein Medium (zurück-)
gewinnt, desto weniger Einfluss haben
die sozialen Netzwerke.

Schabowskis Zettel


Wie die Medien am 9. Novemb er 1989 de n Fall der Berliner Mauer herbeiführten


HANS-HERMANN HERTLE


Am frühen Morgen des 10. November
1989, noch vor8Uhr, liefen dieTelefone
in der sowjetischen BotschaftUnter den
Linden inOstberlin heiss. «Was ist bei
euch eigentlich los?», wollte dasAus-
senministerium in Moskau wissen. «Alle
Presseagenturen derWelt sind wie von
Sinnen. Sie behaupten, die Mauer sei
weg!» Und dann fragend:«War das
denn alles mit uns abgestimmt?» Sofor-
tige Nachforschungen in Moskau und
Ostberlin hätten zu einem negativen
Ergebnis geführt, berichtete Igor Ma-
ximytschew, der erste Gesandte in der
Botschaft, später. Deshalb sei der sowje-
tische Botschafter in der DDR beauf-
tragt worden, eiligst bei den deutschen
Genossen nachzufragen, wer eigent-
lich der SED-Führung erlaubt habe, die
Grenze zu öffnen.
Nur einige hundert Meter von der
sowjetischen Botschaft entfernt kamen
im Gebäude des SED-Zentralkomitees
gegen9Uhr die Mitglieder desPolit-
büros zu einer Beratung zusammen.
Politische Katzenjammerstimmung lag
überdem Gremium. Es wurde gerät-
selt, wie das Missgeschick hatte passie-
ren können.«Wer hat uns das bloss ein-
gebrockt?», fragteder Honecker-Nach-
folger Egon Krenz verzweifelt in die
Runde. Und dann rief auch schon der
sowjetische Botschafter an.
GeradedreiWochen waren vergan-
gen, seit Günter Schabowski zusammen
mit Egon Krenz dieVerschwörung zum
Sturz Erich Honeckers angeführt hatte.
Seit zweiTagen war er Pressesprecher
derPartei. Am Abend des 9. November
1989, gegen 19 Uhr,hatte er auf einer
live im DDR-Fernsehen übertragenen,
internationalen Pressekonferenz über
eine neue Reiseregelung informiert.
Die DDR stand in derReisefrage unter
ungeheurem Druck. Nicht beabsichtigt
war, die Mauer einzureissen. Beabsich-
tigt war vielmehr, beginnend mit dem
10 .November 1989 , ständige Ausrei-
sen – also die Übersiedlung in die Bun-
desrepublik – nun auch über die deutsch-
deutsche Grenze zu genehmigen, aber
erst nach einem entsprechenden Antrag.
Besuchsreisen sollten– ebenfalls aufAn-
trag – für bis zu dreissigTage proJahr ge-
nehmigt werden, jedoch an die Erteilung
einesVisums und den Besitz einesReise-
passes gekoppelt werden.


«Sofort, unverzüglich!»


DerTr ick dabei war: EinenReisepass
besassen nur etwa vier Millionen DDR-
Bürger, nämlich dieRentner; alle ande-
ren, so das Kalkül, mussten zunächst
einenPass beantragen und sich dann
noch einmal mindestens vierWochen
gedulden. Einem sofortigenAufbruch
aller Bürger, so meinte man, war da-
mit ein Riegel vorgeschoben. Die neue
Reiseverordnung sollte planmässigvom
Regierungssprecher am 10. November
um4Uhr früh bekanntgegeben wer-
den, um die Mitarbeiter desPass- und
Meldewesens auf den erwarteten Mas-
senansturm vorzubereiten.
Über all dieseFeinheiten war Günter
Schabowski nicht informiert, als er die
Reiseregelung von einem Zettel ablas,
den ihm Egon Krenz kurz zuvor über-
geben hatte. «Wann tritt das in Kraft?»,
riefen ihm mehrere Journalisten zu.
Schabowski wirkte hilflos, denn «diese
Frage»,so dasPolitbüromitglied spä-
ter, «war mit mir zuvor nie besprochen
worden». Er kratzte sich amKopf und
überflog seinePapiere. Dann die knappe
Antwort: «Sofort, unverzüglich!»
Wenige Minuten später, um 19 Uhr
01 , war die Pressekonferenz beendet.
Gemessen an den mit derReiseverord-
nung verbundenenAbsichten wurden
seineÄusserungen zum Super-GAUin
derWeltgeschichte der Pressekonferen-
zen. Zu einem spontanen, sofortigen
Ansturm auf die Berliner Grenzüber-
gänge – wie es bis heute zumeist fälsch-
lich dargestellt wird–führten Schabow-
skisMitteilungen indes nicht.Vielmehr
waren es dieWestmedien, zunächst die
Presseagenturen und auf deren Meldun-
gen beruhend Hörfunk undFernsehen,


die den bürokratischenVerordnungs-
text als bedingungslose und sofortige
Grenzöffnung interpretierten. So mel-
dete AP bereits um 19 Uhr 05: «DDR
öffnet Grenzen». Und DPA verbreitete
um 19 Uhr 41 die «sensationelle Mittei-
lung»: «Die DDR-Grenze zur Bundes-
republik und nachWestberlin ist offen.»
Die ARD-«Tagesschau» um 20 Uhr plat-
zierte dieReiseregelung alsTopmeldung
und blendete dazu als Schrift ein: «DDR
öffnet Grenze.
Dennoch:Um 20 Uhr15,75 Minu-
ten nach der Pressekonferenz Schabow-
skis und unmittelbar nach dem Ende der
«Tagesschau», hatten sich gerade einmal
achtzig Ostberliner an den Grenzüber-
gängenSonnenallee (acht bis zehn),In-
validenstrasse (zwanzig) und Bornhol-
merStrasse (fünfzig) zur «Ausreise» ein-
gefunden, wie derLagebericht der Ost-
berlinerVolkspolizei festhält.
Ohne jegliche Information und ohne
Befehle ihrer militärischenFührung–
dieFernsehberichterstattung hatte den
Dienstweg überholt – sahensich die
Grenzposten auf Ostberliner Seite zu-
nächst vor allem in der Bornholmer
Strasse einer zwar wachsenden, aber
immer noch überschaubaren Menschen-
ansammlung gegenüber, die zwischen
21 Uhr und 21 Uhr 30 auf 500 bis 10 00
Personen geschätzt wurde. Ganz wenige
wollten ausreisen, fast alle die vermeint-
licheReisefreiheit testen. Gegen 21 Uhr
30 kam es in der Bornholmer Strasse
zur sogenanntenVentillösung: Um den
Druck abzubauen, wurde dieAusreise-
abfertigung aufgenommen. DiePerso-
nalausweise der DDR-Bürger wurden
mit einemPasskontrollstempel neben
dem Lichtbild ungültig gestempelt; ohne
es zu wissen, waren die ersten Ostberli-
ner, die jubelnd über die Bornholmer
BrückenachWestberlin liefen, ausge-
bürgert worden.
Mit einem Ansturm auf alle Berli-
ner Grenzübergängerechneteman im
Ministerium für Staatssicherheit, das
für diese Entscheidung zuständig war,
offenbar nicht:Ausser in der Bornhol-
mer Strasse und am Übergang Heinrich-
Heine-Strasse, an dem lautVolkspoli-
zei-Bericht gegen 21 Uhr 30 120Perso-
nen auf der Ostseite zusammengekom-
men waren, waren um diese Zeit «an
den übrigen Güst (Grenzübergangsstel-
len) nur vereinzeltPersonen festzustel-
len». Stasi-Generalmajor HeinzFiedler
beruhigte sich und seine Genossen an
den Übergängen mit denWorten:«Wie
ich meine Berlinerkenne, gehen die um
23 Uhr ins Bett.» Doch von dieser Ge-
wohnheit sollten an diesem Abend zu
viele Ostberliner Abstand nehmen.
Höhepunkt derFernsehberichterstat-
tung waren die ARD-«Tagesthemen»,

die an diesem Abend leicht verspätet
um 22 Uhr 42 begannen. Ein Einspiel-
film zeigte die nahezu menschenleere
Westseite des BrandenburgerTores.
Der Chefmoderator Hanns Joachim
Friedrichs verkündete dazu: «Das Bran-
denburgerTor heute Abend. AlsSym-
bol fürdieTeilung Berlins hat es aus-
gedient. Ebenso die Mauer, die seit 28
Jahren Ost undWest trennt. Die DDR
hat dem Druck der Bevölkerung nach-
gegeben.Der Reiseverkehrin Richtung
Westenist frei.»Dann kamFriedrichs
ins Bild und beendete seine Anmode-
ration mit dem Satz:«DieTore in der
Mauer stehenweit offen.»

«Wir fluten jetzt!»


Friedrichs Ansage eilte den Ereignissen
voraus:Aus Berlin meldete sich«Tages-
themen»-ReporterRobinLautenbach
live vom Grenzübergang Invaliden-
strasse, dessenTor unübersehbar ge-
schlossen war.Doch dreiWestberliner
Augenzeugen, die zuvor am Grenzüber-
gang Bornholmer Strasse gewesen waren
und dieLautenbach dann interviewte,
halfen ihm undFriedrichs aus derPat-
sche. In Unkenntnis über dieAusbürge-
rungsabsichten der DDR-Seite berich-
tete einAugenzeuge: «Ich habe erlebt,
dass um 21 Uhr 25 das erstePärchen trä-
nenaufgelöst auf uns zugelaufen kam
und die Berliner weisse Linie erreicht
hat. Sie sind mir beide um den Hals ge-
fallen, und wir haben allegemeinsam ge-
weint.» Und die beiden anderenAugen-
zeugen ergänzten unter anderem,Ost-
berliner gingen hin und her, sie brauch-
ten nur denPersonalausweis – in den es
einen Stempel gebe!
RobinLautenbach deklarierte umge-
hend den geschlossenen Übergang Inva-
lidenstrasse zumAusnahmefall. «Reise-
verkehr frei»? –«Tore in der Mauer weit
offen»? Nach solchen Berichten gab es
für Zehntausende Ost- undWestberli-
ner sowie Bewohner des Umlandes
kein Halten mehr.Erst jetzt begann
jener Ansturm von Ost undWest auf
die Grenzübergänge.
Am Grenzübergang Bornholmer
Strasse, im dichtbesiedelten Stadtbezirk
Prenzlauer Berg gelegen, war der An-
sturm auf derOstseiteam stärksten.
Zunächstreagierten die Grenzwäch-
ter abwartend, verwiesen die Menschen
auf den nächstenTag.Dann erlaubten
sie Einzelnen dieAusreise, stempelten
dieAusweise dabei aber ungültig. Doch
schliesslich wurde der Druck vor dem
Schlagbaum so stark, dassPasskontrol-
leure und Grenzsoldaten um ihr Leben
fürchteten.Auf eigene Entscheidung
stellten sie gegen 23 Uhr 30 alleKontrol-
len ein. «Wir fluten jetzt!», kündigte der

leitende Offizier derPasskontrolle an;
dann wurden die Schlagbäume geöffnet.
An der Invalidenstrasse waren die
Passkontrolleure zunächst entschlos-
sen, sich dieWest- und Ostberliner vom
Halse zu halten. Sie holtenVerstärkung
heran: 45 Mann mit Maschinenpistolen.
Doch als dieLage eskalierte, entschie-
den sie: «Auf Unbewaffnete schies-
sen – das machen wir nicht.» Die Solda-
ten rückten ab, derVorgesetzte befahl:
«Lasst sie laufen!»Während es die Ost-
berliner in denWestteil der Stadt zog,
drangen HunderteWestberliner in den
Ostteil ein und rückten zum Branden-
burgerTorvor.
JeneFernsehzuschauer undRund-
funkhörer,die den historischen Moment
nicht verpassen und eigentlich den
Wahrheitsgehalt der Meldungen nur
«testen» wollten oder einfach nur mal
«gucken» und dabei sein wollten und
deshalb andieGrenzübergänge und
zum BrandenburgerTor eilten, führ-
ten im Grunde das Ereigniserst herbei.
Eine von denMedien verbreiteteFik-
tion mobilisierte die Massen und wurde
dadurch zurRealität. DerFall der Berli-
ner Mauer ist damit das erste welthisto-
rische Ereignis,das alsFolge der voraus-
eilendenVerkündung durchFernsehen
und Hörfunk eintrat.
Wie sollte die KPdSU-Führung im
fernen Moskau begreifen, wie es zum
Fall der Mauer gekommen war, wenn
selbst die ostdeutscheFührung darüber
imDunkeln tappte – und vor allem:Wie
sollte sie daraufreagieren? Mit Michail
Gorbatschow zusammen habe er die
Ereignisse als «Ergebnis einer gros-
senVolksbewegung (verstanden), die
vonkeinerRegierung aufgehalten wer-
denkonnte», sagte der sowjetischeAus-
senminister EduardSchewardnadse im
Nachhinein – und deshalb hätten sie
beide jegliche Gewaltanwendung ab-
gelehnt. DieFrage, ob der alte Zustand
wiederhergestellt werden solle, habe das
KPdSU-Politbüro nicht einmal erörtert.
Gorbatschow,so Schewardnadse, habe
auch der damaligenFührung der DDR
dringend empfohlen, «keinesfalls Blut
zu vergiessen».
Ohne Mauer und ohne sowjetischen
militärischen Beistandkonnte der «erste
deutsche Arbeiter- undBauernstaat»
nicht existieren. Nur elf Monate nach
demFall der Mauer war die DDR ver-
schwunden und Deutschland vereinigt –
undkein Schuss war gefallen.

Hans-HermannHertle,Zeithistorikerund
Publizist, ist SeniorFellowamLeibniz-Zentrum
für ZeithistorischeForschungin Potsdam. Zu-
letzt vonihmerschienen: «Sofort,unverzüg-
lich. Die Chronik des Mauerfalls» imCh.-Links-
Verlag,Berlin 20 19.

Super-GAU in derWeltgeschichte der Pressekonferenzen:Günter Schabowski (Mitte) am 9. November 1989. SZ / GIRIBAS JOSE / KEYSTONE
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