A
m Morgen habe ich mich mit
einem neuen Küchenmesser ge-
schnitten, am Abend bin ich im
Dunkeln über einen Ast gestol-
pert und habe mir Ellenbogen
und Hand verstaucht. Die andere
Hand natürlich, nicht die mit der Schnitt-
wunde. Dazwischen haben zwei Glühbir-
nen den Geist aufgegeben, ist
überraschend ein Termin ge-
platzt und ein unangenehmes
Schreiben eingetrudelt, wäre
mein Hund fast von einem
Kamikaze-Radfahrer überge-
mangelt worden und habe ich
im Supermarkt in einer Schlan-
ge gestanden, in der vor mir
jemand vergessen hatte, sein
Gemüse abzuwiegen, und
gleich drei Artikel nicht von
der Scannerkasse erkannt wur-
den („Frau Schneider, kannst
du mal eben ...?“).
Das meiste davon gehört in
die Kategorie „Ja mei“. Passiert
halt, banales Zeug, nicht weiter
der Rede wert. Erst in der Häu-
fung wird aus dem Pech eine
Strähne, aus dem Tag ein Un-
glückstag und aus einem selbst
ein paranoides Nervenbündel.
Kannste abhaken, das wird
heute nichts mehr. Am besten
schnell nach Hause gehen und
sich in einem abgedunkelten
Raum aufs Sofa legen. Nichts
mehr anfassen, das zerbrech-
lich ist, nichts mehr essen, das
Gräten hat. Überhaupt: Wenn
schon essen und trinken, was
an solchen Tagen absolut fahr-
lässig wäre, dann nur in geflies-
ten Räumen.
Ich neige nicht sonderlich dazu, irgend-
was persönlich zu nehmen, schon gar nicht
die Zufälle des Universums, aber interessant
sind solche Pechsträhnen-Tage schon. Und
für manche geradezu existenziell. Ich goo-
gelte gerade „Phänomen Pechsträhne“ und
bekam als alternative Suchanfragen präsen-
tiert: „Egal, was ich mache, alles geht schief“,
„Was machen, wenn man nur Pech hat“ und
„Ich hasse mein Leben, alles geht schief“.
Alles geht schief? Das glaube ich nicht
mal dem größten Unglücksraben. Auch an
Tagen mit Pechsträhne geht das meiste gut.
Das Marmeladenbrötchen ist nicht runter-
gefallen, der Jeansknopf nicht abgesprun-
gen (obwohl er verdammt gute Gründe
dafür gehabt hätte), die Sonne schien, ich
bin in keinen einzigen Hundehaufen ge-
treten. Wie so oft: Das Unglück wird akri-
bisch notiert, die Abwesenheit davon –
man muss es ja nicht unbedingt Glück
nennen, aber man könnte – wird hingegen
für selbstverständlich gehalten und folg-
lich ignoriert. Wir gehen zu Recht jeden Tag
davon aus, dass das Leben halbwegs
reibungslos funktioniert, sonst würden
wir nur noch mit Lätzchen und Schutzkap-
penschuhen herumlaufen oder uns gleich
von der Klippe stürzen. Glück
- oder meinetwegen die Abwe-
senheit von Pech – ist die
Werkseinstellung, der Normal-
fall. Wenn man mal darüber
nachdenkt, ist es doch gerade-
zu sensationell, wie viel in
dieser hochkomplexen Welt
täglich klappt.
Und auch eine Pechsträhne
löst sich schnell in Luft auf,
wenn man sie entspannt in
ihre Einzelteile auseinander-
dröselt: Geschnitten habe ich
mich, weil das neue Messer
ungewohnt superscharf ist –
genau deshalb hatte ich es ja
schließlich gekauft. Die beiden
Glühbirnen waren noch olle
Glühfaden-Modelle, geschätz-
te zehn Jahre alt – toll, dass die
überhaupt so lange durchge-
halten haben. Mein Gemüse
habe ich ebenfalls oft genug
vergessen abzuwiegen und war
dann dankbar für die Geduld
der Kassiererin und der ande-
ren Kunden.
Nur der Radfahrer war ein
Arschloch, und der Ast war es
auch, aber beide werden mor-
gen Vergangenheit sein. Sonst
noch was? Nö, alles wieder gut.
Auch dieser Tag geht vorbei, es
kommt ein anderer, mit hoher
Wahrscheinlichkeit besserer, und zum
Trost gibt es jetzt ein Weinchen. Na schön,
zur Sicherheit lieber Weißwein. Aus einem
Plastikbecher. 2
An manchen Tagen scheint einen das Schicksal
zu mobben – alles geht schief. Was hilft:
im Übel den kleinen Funken Gutes zu erkennen
Aber die Sonne scheint!
100 30.10.2019
KOLUMNE
Meike Winnemuth freut sich auf Sie Was bewegt
Sie gerade? Tauschen Sie sich mit unserer
Kolumnistin aus: http://www.facebook.com/winnemuth
WINNEMUTH
Die Bestsellerautorin Meike Winnemuth („Das große Los“, „Um es kurz zu machen“) schreibt alle zwei Wochen im stern
GESELLSCHAFT
ILLUSTRATION: TINA BERNING/STERN; FOTO: DAVID MAUPILÉ