Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1
Arthur
Schopenhauer
1788–1860

Georg
Wilhelm
Friedrich
Hegel
1770–1831

Søren
Aabye
Kierkegaard
1813–1855

John
Stuart
Mill
1806–1873

Auguste
Comte
1798–1857

an Informationen nur die heraussuchen,
die zu dem passen, was man schon zuvor
immer geglaubt hat und was ins Schema
passt. Klimaleugner passen die Wahrheit
ihrer Weltanschauung an und nicht um-
gekehrt. Aber dafür kann man William
James nicht verantwortlich machen.
Warum nicht?
Weil er nur festgestellt hat, dass der Mensch
kein natürliches Bedürfnis hat, die Dinge
wirklich genau wissen zu wollen. Denn das
ist mühsam und irritiert oft. Die meisten
von uns kommen im Alltag auch ohne gesi-
cherte Wahrheiten erstaunlich gut zurecht.
Sogar als amerikanischer Präsident. Sie
schreiben: „Für James entsteht Wahrheit
dadurch, dass jemand sie für sich zu einer
solchen erklärt.“ Da sehe ich den wild
twitternden Donald Trump vor mir.
Absolut. Aber mein Satz zu James ist eine
Beschreibung, keine Wertung. Er erklärt,
dass so viele Menschen gerade in der poli-
tischen Diskussion mit holzhackerischer
Sicherheit Urteile fällen, ohne die jeweili-
ge Sachlage auch nur im Ansatz durch-
drungen zu haben. Den meisten Menschen
geht es nicht um Wahrheit, sondern um
Meinung. Meine Meinung bewährt sich
dadurch, dass ich sie habe, bei der Wahr-
heit im wissenschaftlichen Sinne geht das
nicht. Deshalb werden Fakten nur dann
begrüßt, wenn sie nicht stören.
Auch der sogenannte Utilitarismus ent-
wickelte sich im 19. Jahrhundert. Die Hal-
tung, immer der Entscheidung den Vorzug
zu geben, die den meisten nutzt und den
wenigsten schadet. Das wirkt bis heute.
Ja. Der Utilitarismus dominiert bis heute
gerade in den angelsächsischen Ländern
das politische Denken. Denken Sie nur
daran, dass man in den USA vor ein paar
Jahren mit dem Waterboarding kein Pro-
blem hatte, die Folter sollte ja der Allge-
meinheit Nutzen bringen. Gleichzeitig
steht diese Philosophie vom „Glück der
größten Zahl“ dem Gedanken der Freiheit
im Wege. Denn was ist nun das höchste
Gut? Die Freiheit des Einzelnen oder der
Gesamtnutzen für die Gesellschaft? Der
Engländer John Stuart Mill hat sich an die-
sem Widerspruch jahrzehntelang abge-
arbeitet. Leider steht der Utilitarismus, wie
ich befürchte, vor einer großen Zukunft ...
Inwiefern?
Wenn wir in Zukunft Maschinen mora-
lisch programmieren wollen, werden wir
sie utilitaristisch programmieren, weil es
die einzige Möglichkeit ist, für einen Com-

Sehen Sie sich doch um. Der Brexit, Trump,
Le Pen, die Erfolge der AfD: Wieder erleben
wir, wie eine drohende revolutionäre Än-
derung der Wirtschafts- und Gesellschafts-
ordnung restaurative Tendenzen verstärkt.
Die Technik, so formulieren Sie, wurde
im 19. Jahrhundert „zum wild umtanzten
Fetisch“. Heute tanzen wir um den Fetisch
Digitalisierung. Auch hier wiederholt
sich Geschichte.
So ist es. Einflussreiche Philosophen wie Au-
guste Comte vertraten damals die Ansicht,
dass sich alle Probleme der Menschheit auf
rationale und technologische Weise lösen
lassen. Man müsse nur alle Individuen
entsprechend optimieren und kontrollie-
ren, und schon haben wir die perfekte Ge-
sellschaft. Das hat große Parallelen zu dem,
was heute im Silicon Valley gedacht und
entwickelt wird. Die sogenannten Trans-
und Posthumanisten träumen auch von
einem durch Technik optimierten Men-
schen, der von allem befreit ist, was man
bisher nicht kontrollieren konnte. Eine
geordnete, gleichgeschaltete, logische,
durch und durch rationale Welt. Das einzig
Ir rationale darin ist der Kapitalismus, um
den das alles herumgebaut wird.
Ihr Buch heißt „Sei du selbst“. Diese Auf-
forderung ist ja genau das Gegenmodell.
Das ist die Haltung der damals ebenfalls
entstehenden Lebens- und Existenzphilo-
sophie, die vor allem auf den Dänen Søren
Kierkegaard zurückgeht. Das, was man sel-
ber ist, lässt sich letztendlich nicht logisch
und rational aufschlüsseln.
Aber wir wissen doch heute so viel über
den Menschen ...
Ich kann sicherlich eine Menge Wissen-
schaftliches über den Menschen sagen,
über seine Evolution, seine Biologie. Aber
das, was meinem eigenen Leben Bedeu-
tung und Sinn verleiht, entzieht sich letzt-
endlich der Logik und der Rationalität.
Leben ist das, was geschieht, während wir
dabei sind, zu verstehen, was geschieht.
Das Verhältnis, das ich zu mir selber ein-
nehme, ist dabei entscheidend.
Man muss sein persönliches Glück finden.
Ach, Glück wird überschätzt und ist nicht
mit Sinn gleichzusetzen. Nehmen Sie das
Thema Kinder. Wenn wir das mal insge-
samt auf der Zeitachse betrachten, dann
sind die Glücksmomente viel rarer als der
Ärger, der Stress und die Sorgen. Und trotz-
dem geben Kinder unserem Leben sehr oft
einen tiefen Sinn. Sinn ist mehr als eine
Addition von Glücksmomenten.

Wie findet man denn den Sinn des
Lebens, wenn man keine Kinder hat?
Jeder Einzelne muss eine solche Dimen-
sion für sich und in sich finden. Durch Pas-
sivität wird das eher nicht gelingen. Der
Sinn des Lebens wird nicht vorgefunden,
er wird ihm gegeben. Von uns selbst.
Ein Lob der Selbstverantwortung also.
Der düstere Philosoph Arthur Schopen-
hauer schrieb hingegen, dass die Welt
und jedes Individuum unter der Herr-
schaft eines unermesslichen, zeitlosen
und motivlosen Willens stehe, der letzt-
endlich all unsere Handlungen be-
stimmt. Was meinte er?
Schopenhauer glaubte, dass die Triebfeder
unseres Handelns nicht die Vernunft sei,
sondern dass wir von einem unbewussten
Dunklen in uns gesteuert werden, das wir
auch in Pflanzen und Tieren finden. Diese
allgegenwärtige Kraft nannte er Wille.
Wir seien nur dessen Spielball. Damit hat er
später unter anderem Sigmund Freud und
dessen Triebtheorie beeinflusst. Es ist fas-
zinierend, ihn zu lesen, er war wirklich
ein guter Stilist. Aber sein Werk ist doch
von einem gewaltigen Selbstwiderspruch
durchzogen. Wenn es keinen freien Willen

gibt, wie soll ich dann meinem Willen,
wie Schopenhauer empfiehlt, entsagen?
Beruhigenderweise hat er unrecht. Wir
sind keine bloßen Marionetten eines kos-
mischen Willens.
Am Ende des 19.Jahrhunderts fragten sich
amerikanische Denker wie William James
„Was ist wahr?“ James fand, sehr grob
zusammengefasst, eine folgenschwere
Antwort: Wahr ist, was funktioniert, was
im Moment nützlich ist und sich bewährt.
Diese Denkschule nennt sich „Pragmatis-
mus“. Erklärt der nicht ziemlich gut die
heutige amerikanische Psyche?
Ja, aber nicht nur die. Er erklärt vor allem
auch, warum es heute weltweit immer noch
so viele Menschen gibt, die den menschen-
gemachten Klimawandel leugnen. Die Wis-
senschaft ist sich ja sehr weitgehend einig.
Aber mit der pragmatischen Sichtweise
kann man sich aus der verfügbaren Menge

„ WIR SIND KEINE


MARIO NETTEN


EINES KOS MI SCHEN


WILLENS“


104 30.10.2019

KULTUR

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