Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1
Friedrich
Wilhelm
Nietzsche
1844–1900

William
James
1842–1910

Karl
Marx
1818–1883

Maja Lunde bleibt mit
„Die Letzten ihrer Art“
beim Thema Umwelt.
Nach den Bienen und
dem Wasser ist nun
eine sel tene Pferde-
rasse das verbindende
Element der Hand-
lungsstränge, die sich über drei Jahr-
hunderte spannen. Bis ins Jahr 2064,
in dem der Klimawandel die Menschen
in Europa zur Flucht zwingt – und
es längst nicht mehr nur um aus-
sterbende Tiere geht ... Wer sich nicht
daran stört, dass Lundes Bücher
immer einem ähnlichen Aufbau folgen,
wird auch diese Geschichte mögen.
( b t b , 2 2 E u r o ) 22222

ROMAN


Die Apokalypse ist
nah. Im Jahr 2025 wird
unsere Wohlstands-
welt in Hungersnot,
Chaos und Willkür
untergehen. So nach-
zulesen in Robert
Harris neuem Roman
„Der zweite Schlaf“. Darin macht
sich 800 Jahre nach dem Zusammen-
bruch ein junger Priester auf die
Suche nach der Wahrheit über das
Ende der alten Ordnung. Hochwürden
entdeckt neben der Liebe ein paar
Relikte, die einen angebissenen
Apfel auf der Rückseite zeigen.
Das konstruiert Harris so gut, dass
der Überdruss an den allgegen-
wärtigen Dystopien kurz verfliegt.
(Heyne, 22 Euro) 22222

ROMAN


Bernhard Neff ist
seit rund 20 Jahren
Lehrer und sammelt
Matheaufgaben. Die
nämlich verändern
sich mit dem Zeit-
geist viel stärker, als
man das bei der nüchternen
Wissenschaft vermuten
würde. In „Legen 5 Soldaten
in 2 Stunden 300 Quadrat-
meter Stolperdraht. Die
lustigsten Matheaufgaben
von 1890 bis heute“ hat
Neff die skurrilsten alten
und neueren Textaufgaben
zusammengetragen. Mal
bedrückend, mal komisch
und vor allem: hoch
spannend! (Riva, 8,99 Euro)

FOTOS: KLAUS GÖKEN/NATIONALGALERIE/BPK; AKG (2); IMAGO (3); DPA; GETTY IMAGES;


Die großen Denker des


  1. Jahrhunderts sind das Thema
    von „Sei du selbst“, dem
    dritten Teil von Prechts Philoso-
    phiegeschichte (Goldmann,
    24 Euro) 22222


puter Moral zu verrechnen. Er wird danach
programmiert: Wie viel Glück und wie viel
Leid erzeugt eine Entscheidung? Was scha-
det den wenigsten und nützt den meisten?
Das sind moralische Güterabwägungen.
Ja. Ein selbstfahrendes Auto, das nicht
rechtzeitig bremsen kann, wird dann
entscheiden, dass es besser ist, zwei alte
Damen zu überfahren als ein kleines Kind.
Wir stufen Lebenswert ab.
... und programmieren Todesurteile.
Schrecklich!
Wenn man es macht, dann kann man es nur
so machen. Und deshalb plädiere ich ja
auch dafür, dass wir es gar nicht erst tun!
Diese Programmierung ist ein Verstoß
gegen Kants Ethik, gegen die Menschen-
würde und das Grundgesetz.
Ein anderer Philosoph des 19. Jahrhun-
derts hat wie kaum ein anderer Denker
die Welt verändert: Karl Marx. Was hat
er uns gebracht außer Stalinismus, Mao
und Pol Pot?
Man kann Marx vieles vorwerfen, aber
nicht, der geistige Vater Pol Pots oder Sta-
lins zu sein. Es gibt ein paar totalitäre
Äußerungen in seinem Werk. Von seinem
Menschenbild her war Marx aber ein Phi-
losoph der Freiheit. Knechtschaft und
Unterdrückung waren bei ihm nicht vorge-
sehen. Alle sollten befreit werden. Wenn der
Proletarier befreit ist, wird der Bourgeois
nicht eingekerkert, sondern lebt mit den
anderen frei in einer klassenlosen Gesell-
schaft. So zumindest die Idee.
Und die Diktatur des Proletariats?
Der Ausspruch ist wohl vom französischen
Revoluzzer Auguste Blanqui geklaut. Was
Marx damit meinte, wusste er, glaube ich,
selbst nicht so genau. Man kann Marx gern
kritisieren, aber wenn man bedenkt, was
Jesus gesagt hat, und sich anschaut, was die
Kirche daraus gemacht hat, dann sehe ich
auch hier die lupenreine Pervertierung
einer humanen Idee.
Am Christentum hat sich ja auch Fried-
rich Nietzsche abgearbeitet.
Nicht nur daran. Als Kritiker war er bril-
lant. Das Verheerende an ihm war, dass
er nichts Eigenes zustande bekam. Seine
Versuche, etwas gegen das Christentum
und die abendländische Denktradition zu
setzen, waren eine Katastrophe.
Können Sie etwas genauer werden?
Er las im schönen Engadin ein paar sozial-
darwinistische und rassistische Bücher und
verschmolz diese „Erkenntnisse“ in seinem
Spätwerk mit seinen alten kitschigen und

gewalttätigen Wagner-Fantasien. Allein
schon, dass er sich selber in der Rolle des
Verkünders Zarathustra sieht, der frei von
allen sozialen Zwängen als Übermensch
philosophiert, ist lächerlich. Nietzsche war
ein kleiner, weicher, kränklicher Mann, der
wegen allem beleidigt und eingeschnappt
war. Zarathustra verhält sich zu Nietzsche
wie Old Shatterhand zu Karl May.
Sie sprechen, bezogen auf die heutige
Zeit, von der „Rückkehr der Willkür,
der Mythen und Lügen im großen Stil“.
Wie meinen Sie das?
Bis einschließlich Hegel haben die meis-
ten Philosophen geglaubt, es gebe ein gro-
ßes verborgenes System der Welt, das man
denkend nach und nach erkennen muss.
Im 19. Jahrhundert ging dieser Glaube
verloren, und Philosophie wurde zur „Welt-
anschauung“. Das heißt, man entwarf eine
bestimmte Perspektive auf die Welt und
errichtete darauf ein Weltbild. So ent-
standen die Ismen.
Die was?
Der Nationalismus, der Rassismus, der
Faschismus, der Kommunismus, also die
Ideologien, die starren Denkschablonen.
Die kehren heute alle mit Macht zurück,
weil die sozioökonomischen Veränderun-
gen den Menschen Angst machen. Da sind
einfache Weltbilder immer verführerisch.
Wie reagiert man denn angemessen
auf diese Angst, zum Beispiel vor der
Digi talisierung oder der künstlichen
Intel ligenz?
Das ist gar nicht so einfach, weil wir ja meist
nicht die Treiber, sondern die Getriebenen
der Digitalisierung sind. Jedenfalls emp-
finden wir das bislang so. Wir reagieren
mehr oder weniger hilflos auf Prozesse, die
wir kaum noch kontrollieren, geschweige
denn aufhalten können. Dabei müssen wir
uns jetzt grundsätzlich fragen, in welcher
Gesellschaft wir in Zukunft leben wollen.
Alles muss auf den Prüfstand. Wie gestalten
wir die Wirtschaft, die Politik, den Sozial-
staat? Muss es nicht ein Grundeinkommen
geben? Wir sollten kluge Konzepte für die
Zukunft entwerfen und nicht tatenlos all
die Brände und Verheerungen abwarten, die
im 19. Jahrhundert überall gewütet haben.

30.10.2019 105

Bernhard Neff ist
seit rund 20 Jahren
Lehrer und sammelt
Matheaufgaben. Die
nämlich verändern
sich mit dem Zeit
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