Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1
Das Buch „Die Welle“ von 1981 ist im-
mer noch Schulstoff. In der deutschen
Verfilmung von 2008 spielte Jürgen
Vogel den Lehrer, der seinen Schülern
den Faschismus zu nahe brachte.
Doch von diesen Vorlagen sind im
Sechsteiler „Wir sind die Welle“ (auf
Netflix) nur noch Motive übrig. Hier
unternehmen fünf Schüler Guerilla-
Aktionen gegen Nazis, Umweltsünder
und Waffenhersteller. Wirkt aufwe-
ckend, ist aber leider mit sehr dickem
Strich gezeichnet. 22222

STREAM


Der Präsident heißt tatsächlich
Robert Redford. Die Superhelden-
Serie „Watchmen“ (bei Sky ab 4. 11.)
spielt in einem alternativen, sehr
düsteren Amerika, in dem schwarze
Polizisten von maskierten Nazi-Mobs
gejagt werden. Selbst der Präsident
Redford konnte den Bürgerkrieg
nicht verhindern. Dem Macher
Damon Lindelof („Lost“) ist eine
fesselnde ambitionierte Neuauflage
der bekannten Comic-Vorlage
gelungen. 22222

SERIE


Seinen Film über Benedikt XVI. nennt
der in England geborene Christoph
Röhl „Verteidiger des Glaubens“.
Doch den Titel tragen nicht Päpste,
sondern britische Monarchen. Der
Missgriff steht für ein eher flaches
Verständnis der katholischen Kirche.
Zwar gelingt Röhl der Teil über den
Missbrauchsskandal. Das Porträt
Joseph Ratzingers aber bleibt ohne
jeden neuen Gedanken. Und die
wichtige Zeit nach dem Rücktritt
fehlt komplett. 22222

KINO


Nun liefert die Französin Céline Sciam-
ma, 40, viele gute Gründe für eine Huldi-
gung. Ihr Drama spielt im 18. Jahrhundert
an der einsamen Küste der Bretagne. Es hat
kaum Handlung und zeigt geduldig, wie
eine Malerin (Noémie Merlant) mit ihrem
zunächst widerspenstigen Model (Adèle
Haenel, die Ex-Freundin der Regisseurin)
ringt. Und doch wirkt der Film über Selbst-
ermächtigung wie ein aktueller Kommen-
tar zur Feminismusdebatte und erzählt so
einfühlsam von ihren Heldinnen, dass Jane
Austen bestimmt ihre Freude hätte.
Wie nebenbei greift Sciamma zudem
universelle Themen auf. Es geht um die
Flüchtigkeit der Liebe und die Trägheit
gesellschaftlicher Konventionen, um die
Beständigkeit von Kunst und um den Wert
von Erinnerung. Die Flammen aus dem Ti-
tel fressen sich hinein in die Figuren – und
ins Gedächtnis der Zuschauer. Entstanden
ist einer der überwältigendsten und
schönsten Filme der vergangenen Jahre.
Kein Mann hätte ihn so drehen können.
Matthias Schmidt 22222

D


er Film „Porträt einer jungen Frau
in Flammen“ ist der Film einer
Frau. Er handelt von einer Frau,
die im Auftrag einer älteren Frau
eine jüngere Frau malen soll.
Männer? Sind kurz Gesprächs-
thema, werden zum Rudern gebraucht,
danach schnell wieder vergessen und fast
vollständig aus dem Film verbannt.
Warum muss eine Filmkritik wie diese
das Weibliche im Kino immer noch her-
vorheben? Den weiblichen Blick auf weib-
liches Begehren betonen? Vielleicht weil es
schon fast zehn Jahre her ist, dass die bis-
lang einzige Frau einen Oscar für die Bes-
te Regie gewonnen hat: Kathryn Bigelow
mit „The Hurt Locker“, einem Thriller über
Bombenentschärfer, einem Männerfilm.
Seitdem mag einiges passiert sein – Gol-
dener Löwe für Sofia Coppola, Oscar-
Nominierung für die Regisseurin Greta
Gerwig, „Wonder Woman“ von Patty Jen-
kins. Filme aus femininer Perspektive
werden dennoch weiterhin zu selten
gedreht, zu wenig gewürdigt.

Langsame
Annäherung:
Héloïse (Adèle
Haenel, l.)
und Marianne
(Noémie
Merlant)

Eine Malerin und ihr Model: Das „Porträt einer jungen Frau
in Flammen“ spielt im 18. Jahrhundert und wirkt dennoch aktuell

Film ohne Männer


108 30.10.2019

KULTUR


FILM

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