Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1
ken Weinuntergang. Der Anbau wäre ganz
verschwunden, hätten findige Botaniker
nicht resistente Reben zu züchten gelernt.
Und was die weiteren eingeschleppten
Krankheiten angeht („zu allem Unglück,
was schon da, kam Mehltau aus Amerika“,
lautet eine Redewendung), da trat die Che-
mie auf den Plan.

Umdenken auf der Vogelsburg


Die Winzer damals, das waren Bauern, die
hatten nicht auf der Geisenheimer Wein-
bauhochschule studiert. Ihnen ist nicht zu
verdenken, dass sie ihren Wein fortan in
ein chemisiertes Produkt verwandelten.
Sie hatten den Tod geschaut und taten und
tun seither alles, ihre Pflanzen vor Vie-
chern und Pilzen zu schützen.

Auf der Vogelsburg beteten und arbeite-
ten seit den 1950er Jahren Nonnen. Sie
hatten die Anlage erst nach dem Krieg
übernommen und versuchten nun, sie zu
bewirtschaften. Ahnungslos und fest zu
glauben gewohnt, lernten sie an der baye-
rischen Landesanstalt für Landwirtschaft
den Katechismus des Weinbaus nach gän-
giger Lehre – mit allen möglichen Herbi-,
Pesti- und Fungiziden, dem ganzen Pro-
gramm.
Eines Tages aber lief Schwester Christa
ein Schwapp von der Spritzbrühe in ihre
Gummistiefel. Da wurde sie krank. Gläu-
big mochten die Schwestern ja sein, dumm
waren sie nicht. Sie fanden, dass Wein auch
ohne Gift gehen müsse, und ließen das
Spritzzeug einfach weg. Erst hatten sie
kaum Erträge, doch dann lernten sie dazu.
Dass das, was sie da machten, mal „Bio“
heißen würde, ahnten sie nicht. Sie wuss-
ten nur, dass dem Wein, den sie bislang
gemacht hatten, die Brühe aus Schwester
Christas Stiefel anhaftete und dass dies
nicht gut war. Das war wohl der Anfang von
Bio am Main.
Auf der Vogelsburg treffen sich Frankens
Biowinzer seitdem einmal im Jahr, auch
wenn die Schwestern selbst längst am
Tisch des Herrn Weine trinken oder in Ren-
te sind. Nur Schwester Hedwig, die jüngs-
te der Damen von damals, ist noch dabei.
Viele Winzer sind es noch nicht, die da
kommen. Aber ihre Zahl steigt, und unter
ihnen sind die besten.
Eine alte Weinweisheit lautet so: „Zu
Klingenberg am Main, zu Würzburg auf
dem Stein, zu Bacharach am Rhein, da
wächst der beste Wein.“ Der Spruch mag alt
sein, interessant bleibt aber die Aussage,
dass zwei der drei besten deutschen Wein-
lagen (Klingenberg und Würzburg) am
Main liegen sollen, einem Fluss, den man
eigentlich weit weniger mit Wein verbin-
det als etwa den Rhein oder die Mosel. Ver-
kaufen die Franken ihren Wein vielleicht
unter Wert?
Retzstadt gehört auf jeden Fall nicht zu
den gepriesenen Lagen, und doch lebt und
arbeitet dort Rudi May, auch er ist einer der
Vogelsburg-Winzer. Einen seiner Silvaner
hat Jancis Robinson 2009 zum weltbesten
Wein erklärt. Das muss man erst mal hin-
kriegen, denn Mrs Robinson ist äußerst
anspruchsvoll und gehört zu den bedeu-
tendsten Weinkritikern überhaupt. Erst
der May hat Retzstadt ein wenig berühmt
gemacht.
Dass der Main generell nicht ganz so
bekannt ist, liegt vielleicht auch daran,
dass seine Landschaft nicht so dramatisch
ist wie die des Mittelrheins mit seinen

F


riedlich und immergrün sieht hier
alles aus. Von der Vogelsburg – einst
eine alte Klosteranlage mit Rebland,
heute ein Ausflugslokal – hoch oben
auf einer Kuppe hat man einen herr-
lichen Blick über die Volkacher
Mainschleife. Wenn man dort mit einem
Glitzerglas Wein in der Hand steht (und
vorher vielleicht gebratenes Kalbsherz mit
gegrillter Melone verzehrt hat), sieht man,
wie die Rebzeilen von den Hügeln bis an
den Main hinab reichen, auf dem Stand-
up-Paddler ins Wasser stechen, andere in
Schlauchbooten dümpeln und Kinder sich
am Ufer kreischend mit Wasser bespritzen.
Eine kleine Fähre geht über den Main, und
man kann dort auch campen. Doch so idyl-
lisch wie heute sah es an der Mainschleife
nicht immer aus.
Die Welt, der Wein und der Main, sie hat-
ten schon seit römischen Zeiten Kontakt,
aber der brach um 1930 beinah zusammen.
Um 1860 hatten Züchter amerikanische
Reben nach Europa gebracht – sie wollten
mal gucken, was mit denen so geht. Wobei
sie unwissentlich die Reblaus einschlepp-
ten, einen mikroskopisch kleinen, die Reb-
wurzel befallenden Vielfraß, den Europas
Wein noch nicht kannte.
Der Schädling vernichtete quer über den
Kontinent fast jeglichen Weinbau. 70 Jah-
re brauchte er, um von Frankreich an den
Main zu krabbeln, dann war auch in Fran- 4

Oben: Klaus Höfling mit Frau Miriam,
Tochter Marietta und Sohn Matteo bei der
Jause vor seinem Weinberghäuschen. Rechts:
der „Weinstall“, Restaurant des Guts Castell

114 30.10.2019

GENUSS

Free download pdf