Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1

D


ie Wahl des Stuhles entscheidet
über den Blick auf die Welt. Wählt
man den kleinen Stuhl, den par-
tei politischen, den in Berlin ge-
bräuchlichen, dann ist die Sicht
verstellt und alle Angelegenhei-
ten werden routiniert erledigt. Wie die Idee
von Annegret Kramp-Karrenbauer, im
Norden Syriens, an der Grenze zur Türkei,
eine Schutzzone für Kurden und Flücht-
linge einzurichten, die von europäischen
Mächten, darunter Deutschland, militä-
risch zu sichern wäre. Der Berliner Stuhl-
kreis war damit rasch fertig. Ganz unten.
Ein Stabilisierungseinsatz für den Nor-
den Syriens? Wohl eher ein Stabilisierungs-
einsatz für die wankende CDU-Chefin,
flüstern die Fachkräfte des Abbügelns.
Angekündigt nur mit einer vagen SMS an
Heiko Maas, den sozialdemokratischen
Außenminister, und der CSU gar nicht erst
annonciert? Dilettantismus, tönt es von
den kleinen Stühlen. Weder mit den Euro-
päern vorgeklärt noch im Detail durch-
geplant? „Totgeburt“, hallt das Echo.
Ja, ja, alles richtig. Irgendwie. Aber: Was
wäre wohl passiert, wenn AKK ihren Vor-
schlag in trauter Koalitionsrunde aufge-
tischt hätte? Er wäre doch wohl umgehend
zersägt worden. Schon allein, weil er von
der Verteidigungsministerin der CDU kam

ge Fragen werden im Berliner Stuhlkreis
gerade deshalb so unerbittlich gestellt, weil
sie anfangs gar nicht zu beantworten sind.
Setzt man sich indes auf den großen
Stuhl, ist man unversehens auf Augen höhe
mit der Welt und es folgen ganz andere
Überlegungen. Diese Welt ist nämlich
grundstürzend verändert, weil das ame-
rikanische Zeitalter, das 1917 mit dem
Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg
begann, offenkundig vorüber ist und das
Amerika Donald Trumps weder berechen-
bar noch mit den Europäern verbündet ist.
Es agiert sogar gegen Europas Interessen –
ohne Rücksicht und Abstimmung. Das war
beim Austritt aus dem Pariser Klima-
schutzabkommen so, bei der Kündigung
des Atomabkommens mit dem Iran und
des INF-Vertrags mit Russland über ato-
mare Mittelstreckenraketen, bei der Ver-
legung der US-Botschaft von Tel Aviv nach
Jerusalem und der Abkehr von der Zwei-
Staaten-Lösung für Israel und Palästina.
Nun hat Trump nach einem einzigen
Telefonat mit dem türkischen Präsidenten
die ohnehin spärlichen US-Truppen aus
dem Norden Syriens abgezogen und eine
machtpolitische Kettenreaktion von größ-
ter Tragweite ausgelöst. Russland füllt
das Vakuum. Ist mit dem Nato-Staat Tür-
kei wie mit dem syrischen Despoten Assad
verbündet; schützt mit Hilfe Assads ein
wenig die Kurden und hat syrischen Trup-
pen den Weg zur türkischen Grenze ge-
ebnet; patrouilliert selbst mit der Türkei
in dem von ihr eroberten Terrain.
Wollen sie nicht ausgeliefert sein, müs-
sen Europas Mächte versuchen, die USA
jedenfalls partiell zu ersetzen. Sie könnten
in der Schutzzone den Flüchtlingsstrom
nach Europa auffangen. Sie könnten den
Umgang mit Putin, Erdoğan und Assad
einüben. Sie könnten den Wiederaufbau
Syriens wie die Rückführung von Flücht-
lingen beginnen. Und Israel in der Region
beistehen. Mithin außerhalb Europas das
fortsetzen, was Angela Merkel 2015 mit
Frankreichs damaligem Präsidenten Hol-
lande durch das Minsker Ukraine-Abkom-
men vorexerziert hatte: Krisenbewälti-
gung ohne die USA.
AKK hat einfach Recht, vom großen Stuhl
aus gesehen. Freilich ist ihr der, wie es
aussieht, inzwischen weggezogen worden.
Denn Putin, Erdoğan und Assad haben
miteinander Beute gemacht – Europa wird
wohl nicht gebraucht, vorerst jedenfalls.
Es sieht nicht gut aus, wenn man sich ins
Leere setzt. Für neues Denken aber war
AKKs Sitzübung durchaus förderlich. 2

und nicht vom Außenminister der SPD,
der einen Stabilisierungseinsatz persön-
lich auch ganz gut gebrauchen könnte.
In der Welt der kleinen Stühle kann es
sich eben empfehlen, eine Idee, um sie über-
haupt ans Licht zu bringen, nicht vorab
in die Mühle einer Koalition zu stopfen.
Rickeracke, das ist seit Wilhelm Busch so,
geht die Mühle mit Geknacke. Detail-
planung war AKK nun mal kaum möglich,
ohne zu wissen, wer sich wie an einer
Syrien-Mission beteiligen würde. Derarti-

DER KLEINE UND DER GROSSE STUHL


Europa muss sich ohne Amerika in der Welt


behaupten – um das zu begreifen, war


AKKs geschmähte Syrien-Idee überaus hilfreich


18 30.10.

KOLUMNE


JÖRGES


Hans-Ulrich Jörges
Der stern-Kolumnist schreibt
jede Woche an dieser Stelle

ZWISCHENRUF AUS BERLIN


ILLUSTRATION: JAN STÖWE/STERN
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