Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1

E


FOTOS: GETTY IMAGES/ISTOCKPHOTO (2); AMANA IMAGES /GETTY IMAGES; SCIENCE PHOTO LIBRA /GETTY IMAGES

Eine düstere Armee marschiert auf,


grau in grau, in exaktem Gleich-


schritt, die Reihen schnurgerade.


Ein einziger Farbakzent ziert die


mageren Rinder-Leiber, er ist pink:


Je ein riesiger, im Marschtakt


schwingender Euter. Es ist wie ein


Horrorfilm. Nach einem Schnitt ver-


treibt dann Licht die Finsternis aus


dieser Karikatur der Massentierhal-


tung. Die Kühe sind plötzlich fort.


Stattdessen sprießt eine Pflanze,


junger Hafer. Klarer kann die Bot-


schaft dieses Werbefilms nicht


lauten: Milchproduktion ist böse.


Hafer und vegane Milch sind gut.


Der Spot soll „Schokolade mit


Haferdrink“ verkaufen – auf Kosten


der Milchbauern, sagen die Milch-


bauern. Die Landwirte fühlen sich


unfair angegangen: Die bedrücken-


den Bilder demontieren das Image


der Milch. Und das ist ein Kapital der


Landwirte. Der Film erweckt aus


ihrer Sicht den Eindruck, dass alles


übel sei in der Welt des Grundnah-


rungsmittels aus dem Euter – und


Deutschlands größte Ernährungs-


branche ein Arbeitslager voll ge-


schundener Kreaturen.


Bald wird der Deutsche Werberat

über eine mögliche Rüge entschei-


den – der Bayerische Bauernverband


hat Beschwerde eingereicht. Ein


neues Kapitel des Konflikts um


wahr und falsch, gesund oder schäd-


lich, nachhaltig oder naturverwüs-


tend hat begonnen: Die Milch, ein


über Jahrzehnte konsequent indus-


trialisiertes Naturprodukt, kämpft


um ihr Ansehen. Es geht um Mei-


nungen und um Milliarden: Mehr


als 33 Millionen Tonnen Kuh-
milch wurden vergangenes Jahr in
Deutschland gemolken, die Kühlre-
gale der „Weißen Linie“ biegen sich
unter der Fülle der Milchprodukte,
und knappe Margen zwingen die
Erzeuger, ständig neue Trends zu
ersinnen. Mal ist es isländischer
Skyr, dann indischer Lassi oder
allerlei Protein-Angereichertes für
die Generation Fitnesscenter. Auf
eines allerdings war lange Verlass:
die Überzeugung, dass Milch für
Gesundheit steht.
Jahrzehntelang äußerten allen-
falls medizinische Sektierer daran
Zweifel. Schließlich ist Milch doch
von Natur aus Vollkost – alles drin
für Baby, Fohlen, Kalb oder Lamm,
fast sämtliche Körperbaustoffe,
genug gar für die intensivste Wachs-
tumsphase im Leben. Im Aufbau-

land der Nachkriegsjahre herrschte
darüber völlige Eintracht. Milch
sicherte die Eiweiß-, Vitamin- und
Mineralstoff-Versorgung einer
wachsenden Bevölkerung. So groß
war das Vertrauen, dass Babys der
Jahrgänge um 1970 eher mit dem
Milupa-Fläschchen als an der Mut-
terbrust gestillt wurden. Beide
deutschen Staaten verteilten Schul-
milch. Sozialdemokraten wollten
Milch für alle, CDU und CSU siche-
re Einkünfte für die Bauern: Beim
„weißen Gold“ war immer schon
große Koalition.
Wie sich die Zeiten ändern! Vom
Kult um die Milch schwingt das Pen-
del jetzt ins andere Extrem, bis
zur Verteufelung. Die mittlerweile
unzähligen Anti-Milch-Argumen-
te bilden ein kaum entwirrbares
Knäuel. Die seriösen unter ihnen
fallen in vier Kategorien:
•  Ökologische Probleme: Die 4,1
Millionen deutschen Milchkühe
erzeugen riesige Mengen Treib-
hausgas, Gülle, Jauche und Mist.
Deutsche Milchkühe stoßen jähr-
lich beinahe eine halbe Million Ton-
nen Methan in die Atmosphäre aus,
ein Gas, das auf 100 Jahre gerechnet
eine 28-mal so starke Klimawirkung
hat wie Kohlendioxid. Die Hälfte
der deutschen Milchproduktion
wird exportiert, die Jauche bleibt
daheim.


  • Die Übermacht großer Konzer-
    ne: Das Problem wird zum Beispiel
    sichtbar durch das Risiko ihrer
    schier endlos verästelten Logistik-


50


24


Liter Milch
und

Kilo Käse
beträgt der Pro-
Kopf-Verbrauch in
Deutschland

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