FOTOS: GETTY IMAGES/ISTOCKPHOTO; JULIA SELLMANN
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„Es ist ein absurdes
System“
Andreas Pichler
Der Filmemacher im
Angesicht der Kühe
maximal 6000 Liter Milch. Wenn
man sie im Stall lässt und ihr zum
Heu Kraftfutter beimischt, kann
man auf bis zu 12 000 Liter kom-
men. Um davon leben zu können,
brauchen die Bauern mindestens
40 Cent pro Liter. Von den Milch-
verarbeitern bekommen sie seit
Jahren weniger. Aktuell liegt der
Preis bei rund 33 Cent pro Liter.
Den Milchpreis hat sich niemand
ausgedacht. Er ist das Ergebnis
von Angebot und Nachfrage.
Wir drehten mitten in der Milch-
preis-Krise. Es gab zu viel Milch
auf dem Markt, und vor allem in
Deutschland ist Milch ein Pro-
motion-Tool. Discounter locken
die Leute mit billiger Milch zum
Schleuderpreis. Die Deutschen
wollen Lebensmittel so billig wie
möglich. Wenn man sie nicht
reguliert und der Bauer so viel
produzieren darf, wie er kann,
Preise zwingen, unter Hochdruck
einen absurden Überschuss an
Milch herzustellen. Wir fördern
das mit unseren Steuergeldern,
denn die EU vergibt zum Beispiel
zwei Drittel der Agrarsubven-
tionen nach wie vor nach Fläche –
je größer ein Hof ist, desto
mehr bekommt er. Dabei könnte
man das ganz einfach ändern,
durch politische Entscheidun-
gen. Und sich daran orientieren,
wie ein Bauer wirtschaftet:
biologisch, sauber, anständig,
extensiv, lokal.
Trinkt Ihre Tochter nach Ihrem
Film noch Milch?
Nein. Und mir ist dank meiner
Tochter klar geworden, dass
Essen und Trinken unglaublich
viel mit Gewohnheit zu tun hat
und dass man im Kopf umschal-
ten muss. Es gibt fantastische
Teemischungen und meterweise
Kochbücher mit geilen Gemüse-
gerichten. Da brauche ich keine
Wurst mehr. Aber ich esse schon
gern mal einen Speck. Und ganz
auf Milch würde ich auch nicht
gern verzichten – dafür esse ich
viel zu gern Käse. Aber guten
und nachhaltig produzierten.
Zum Beispiel den von dem Bau-
ern aus dem Vinschgau, der in
meinem Film vorkommt:
Alexander Agethle hat die inten-
sive Milchwirtschaft seines
Vaters auf eine extensive umge-
stellt. Er sagt, weniger Kühe
machen mehr Sinn, mehr Leben
und mehr Geschmack. Und dass
sein Käse nach seinen Wiesen
schmecken soll. 2
Interview: Nataly Bleuel
dann sinken die Milchpreise
zyklisch. Dann fallen die Preise,
bis der Markt sich wieder fängt,
sprich: Wenn Bauern ihre Tiere
getötet haben oder ihre Höfe
schließen mussten. Doch 2015
wurden die Märkte global
geöffnet, also haben die großen
Molkereikonzerne gehofft, mit
ihren Milchprodukten beispiels-
weise den chinesischen Markt
zu erobern.
Im Film demonstriert eine
schwäbische Bauernfamilie in
Brüssel gegen ihre eigenen
Bauernverbände. Wieso?
Die kam geschockt und desillu-
sioniert aus Brüssel zurück.
Weil ihnen da klar wurde, dass es
ihren Vertretern, den Molkereien
und gewissen Verbänden, nur
um ihren eigenen Gewinn geht.
Dass sie die europäischen
Bauern durch die niedrigen
Der Südtiroler Andreas Pichler drehte
einen eindrucksvollen Dokumentarfilm über
den Überfluss-Irrsinn der Milchwirtschaft
„Das System Milch“, 2017, 90 Minuten,
Regie: Andreas Pichler, ist u. a. auf Ama-
zon Prime, DVD und Netflix zu sehen
Es gibt einige kritische
Dokumentarfilme über unsere
Ernährung. Wie kamen Sie
ausgerechnet auf die Milch?
Eigentlich durch meine Tochter.
Sie ist Vegetarierin, seit sie fünf
ist. Also seit dem Alter, in dem
man sich als Kind oder eben als
Mensch zum ersten Mal fragt:
Warum esse ich Tiere? Warum
trinke ich die Milch der Kälber?
Ist das wirklich nötig? Wir woh-
nen in Südtirol auf dem Land
und haben die Kühe und die
Landwirtschaft vor Augen. Und
weil meine Tochter mit 15 immer
noch hartnäckig ist mit dem
Thema, dachte ich: Jetzt musst
du dich wirklich mal mit Er-
nährung und Agrarwirtschaft
beschäftigen.
Worauf zielte die Neugier?
Ich wollte von Bauern, Industriel-
len und Experten wissen, wie sich
die Entwicklung der Milchproduk-
tion auf die Tiere, die Umwelt und
auf uns selbst auswirkt. Es ist ein
absurdes System. Es steckt sehr
viel Geld, Macht und Zerstörung
darin. Die Lebensmittelindustrie
ist mit fast 1,5 Billionen Euro
Jahresumsatz der größte Wirt-
schaftszweig der EU, größer als
die Auto- oder die Chemieindus-
trie. Und die Großkonzerne der
Milchproduktion, also das, was
früher mal eher genossenschaft-
lich organisierte Molkereien wa-
ren, lassen die Bauern in Europa
viel zu viel Milch herstellen. Damit
sie dann ihre Milchprodukte auf
dem internationalen Markt ge-
winnbringend verkaufen können.
Das ruiniert die Bauern hier. Aber
beispielsweise auch in Westafrika.
Fangen wir bei der Kuh an, wie
viel Milch gibt sie normalerweise?
Wenn eine Kuh nur Gras von
der Weide frisst, gibt sie im Jahr
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