Essen statt trinken
Aus Hunderten Traditionen wissen
wir auch: Milch ist nicht gleich
Milch. Es kommt viel mehr darauf an,
was wir daraus machen. Milch als Er-
frischungsgetränk zu nutzen etwa
ist ein sehr neuzeitliches Phänomen
und allem Anschein schon wegen
ihres hohen Brennwerts nicht ideal,
denn zur Erfrischung braucht ein
Körper vor allem Wasser und nicht
Kalorien; über die längste Zeit der
gemeinsamen Geschichte von
Mensch und Milchkuh wurde die
verderbliche Frischware praktisch
immer weiterverarbeitet, in haltba-
re Fettreserven wie gesalzene Butter,
langlebigen Käse oder Gesäuertes
wie Kefir. Vielen dieser traditionel-
len Rezepte ist gemeinsam, dass sie
auch den Milchzuckergehalt redu-
zieren – sodass zahlreiche Produkte
auch für Menschen bekömmlich
sind, die Laktose schlecht vertragen.
Der Erfahrung trauen
Ganz wesentlich für die Gesundheit
von Mensch und Umwelt ist, womit
die Kühe gefüttert werden. Gerade
dabei spricht vieles dafür, wieder
traditioneller zu wirtschaften:
Steht die Kuh auf der Weide oder
frisst sie reichlich Gras und Heu,
bildet sie in ihrem Pansen mehr
wertvolle Omega-3-Fettsäuren als
ein Hochleistungsrind, das vor
allem mit Kraftfutter und Soja er-
nährt wurde. Diese Fette sind dafür
geschätzt, das Risiko für diverse
Herz- und Gefäßleiden zu senken,
weshalb Milch aus Grasfütterung
als empfehlenswert gilt. Würde die-
se althergebrachte Form der Rin-
derwirtschaft wieder die Oberhand
gewinnen, wären eine Menge der
ökologischen und ethischen Pro-
bleme der gegenwärtigen Über-
schusswirtschaft mit einem Schlag
gemindert. Wer sehen möchte, dass
und wie das funktionieren könnte,
sollte Johannes Isselstein im Krei-
se seiner Weiderinder besuchen.
Isselstein bückt sich und zupft ein
zartes Blättchen aus der satten Wie-
se. Ringsum wellen sich die sanften
Hügel des Weserberglands, tiefer im
Tal liegt die Domäne Relliehausen,
ein großzügiger Gutshof aus Back-
stein mit rund 350 Hektar Weiden
und Äckern. Hier sammelt der Pro-
fessor für Graslandwissenschaft an
der Universität Göttingen Daten.
Isselstein erforscht, grob gesagt, was
mit einer Wiese geschieht, auf der
Kühe weiden, und was in Kühen pas-
siert, die sich von der Weide nähren:
Verdauung, Milchleistung, Methan-
ausstoß – sämtliche „Stoffströme“
rund um und durch die Kuh werden
analysiert.
Isselstein demonstriert die Miss-
stände der deutschen Milchwirt-
schaft an einem Löwenzahn-Blatt:
„In diesem zarten Blatt stecken 20
Prozent Protein, das können sich
viele gar nicht vorstellen! Bestes
Eiweißfutter für Kühe. Doch die
meisten unserer Kühe stehen nur
noch im Stall. Sie werden mit Silage,
Kraft- und Eiweißfuttermitteln
wie Soja gefüttert. Dabei hat die
Weidewirtschaft für Kühe und Um-
welt viele Vorteile.“
Was Kühe können, kann kein
Mensch: Dank ihrer vier Mägen und
einer einzigartigen Bakterienflora im
Pansen verwerten sie selbst wider-
spenstige Zellulosefasern aus Gras
und Kraut und gewinnen so Energie.
Gleichzeitig speichern ihre Magen-
mikroben Eiweiß aus der Pflanzen-
nahrung – und werden dann als
Märtyrer der Milchwerdung im
3,5
Prozent
der gekauften
Milch sind Bio
4
Prozent
Fett ist in frisch
gemolkener Roh-
milch enthalten
4%
FETT
30.10.2019 33
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