Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1

GLÜCKLICHE


K HE


Nicole Heißmann
sah entspannt dabei
zu, wie Fotograf
Franz Bischof für
seine Bilder den scheuen Kühen
hinterherstapfte. Frank Ochmann
recherchierte, Christoph Koch
schrieb die Geschichte FOTOS: GETTY IMAGES (2); FRANZ BISCHOF/STERN;

Rinderdarm verdaut. Über den Blut-
kreislauf gelangt das Bakterienpro-
tein zum Euter. So veredelt die Kuh
für Menschen wertlose Fasern zu gut
verdaulichem Milcheiweiß. Wenn
man sie denn lässt.
Denn eine Kuh auf der Weide
bringt es im Jahr „nur“ auf maximal
6000 Liter. Zu wenig, solange Bauern
33,5 Cent pro Kilogramm Milch be-
kommen, was knapp einem Liter
entspricht. Zu wenig, solange Dis-
counter und andere Supermarktket-
ten einen Krieg um die Kunden im
Kühlregal ausfechten. Bis zum Som-
mer tobte dort „ein nie da gewese-
ner Preiskampf“, wie die „Lebens-
mittelzeitung“ titelte. Etwa die
Hälfte des Käses in Selbstbedie-
nungstheken wurde als „Aktions-
ware“ verramscht. „Preisverhau“
nennen es Branchenkenner, wenn
der Leerdamer plötzlich selbst als
Bedienware nur 79 Cent oder noch
weniger pro 100 Gramm kostet. Ein
immenser Druck, den die Bauern zu
spüren bekommen – und die Kühe.
Unsere Agrarpolitik zwingt dazu,
ihn durch Quantität abzufedern –
mit der einzigen Option, die Leis-
tung jeder Kuh auf deutlich mehr
als die 6000 Liter einer Weidegän-
gerin anzuheben. Der deutsche
Milchkuhschnitt lag 2018 schon bei
etwa 8000 Liter, kraftfuttergenährt

schafft eine Holstein-Friesian – welt-
weit quasi das Synonym für hochge-
züchtete Leistungsrasse – aber auch
12 000. Das gelingt ihr nur dank im-
portiertem Soja aus Übersee und
Kraftfutter aus Getreide. „Dann sind
die Kühe aber quasi nur noch Produk-
tionsmaschinen“, sagt Isselstein. Und
macht damit klar, warum der zurzeit
so umstrittene Werbespot die Milch-
bauern so getroffen hat. Es ist eine
Menge dran an der Kritik daran, wie
der Milchmarkt heutzutage funktio-
niert und welche Zwänge er auf
Mensch und Vieh ausübt.

Eine Weidekuh ist genügsam
Doch daraus folgt eben nicht auto-
matisch, dass Milch für den Men-
schen gesundheitsschädlich sein
muss, selbst wenn manch ein Tier-
rechtler genau das für das pädago-
gisch wirkungsvollste Argument zu
halten scheint und hofft, die Käufer
von Billigmilch würden am eigenen
Leibe gestraft. Doch steht dahinter
nicht ein allzu pessimistisches
Menschenbild? Sind wir wirklich so
weit gekommen, dass wir Mitleid
allenfalls noch für uns selbst emp-
finden können?
Darüber, wie sich Hochleistungs-
kühe fühlen, können Menschen nur
spekulieren. Aber es gibt zu denken,
wenn eine solche Kuh nach zwei,

höchstens drei Kälbern mit fünf
Jahren zum Schlachter muss, weil
schon in diesem Alter ihre Milch-
leistung sinkt. Die natürliche Le-
benserwartung eines Rindes kann
mehr als 20 Jahre betragen.
Wir Verbraucher möchten zwar,
dass Kühe auf der Weide stehen, das
sagen wir wenigstens in Umfragen.
Wir würden angeblich für solche
Milch sogar mehr bezahlen. Das
aber geschieht bislang nicht wirk-
lich – der Bioanteil an der in
Deutschland gehandelten Milch
beträgt 3,5 Prozent. Ist die Wahrheit
über Milch am Ende vielleicht, dass
uns das Reden leichter fällt als das
Tun? Oder kommt das, weil sich he-
rumgesprochen hat, dass dem Bild
von der pittoresken Wiesenidylle
auf der Milchtüte kaum zu trauen
ist? Vor vier Jahren schon beschei-
nigte der Biodiversitätsbeirat des
Landwirtschaftsministeriums der
Milchbranche „Marktversagen“: Da
bisher – abgesehen von Bioware –
fast gar nicht nachvollziehbar sei,
welche Milch tatsächlich Tier-
schutz garantiere, kaufen die meis-
ten im Zweifel billig.
Wahr ist schließlich auch: Erst mit
der Abkehr von der Weidewirtschaft
ist die Kuh zum Problemtier gewor-
den, ist ihr ökologischer Klauenab-
druck so enorm gewachsen. „Eine
Weidekuh ist genügsam und effizi-
ent. Aber wenn das Futter für Hoch-
leistungskühe heute zu 70 Prozent
und mehr vom Acker stammt, ist das
nicht nachhaltig. Auf der Fläche
könnten pflanzliche Nahrungsmit-
tel für Menschen produziert wer-
den“, sagt Johannes Isselstein. Hier-
zulande wird allein das Kraftfutter
für Kühe auf einer Fläche erzeugt,
die in etwa dem Umfang des Brot-
getreideanbaus entspricht. Flächen
für Futtermais oder Sojabohnen
sind dabei sogar noch nicht einge-
rechnet. Die Wahrheit über Milch
ist: Hier muss etwas geschehen. 2

Johannes
Isselstein,
Grünland-Spezia-
list aus Göttingen,
weist Wege zu
einer naturnahen
Wende in der
Milchwirtschaft

4,1
Millionen
Milchkühe gibt es
in Deutschland

8
Tonnen
Milch gibt eine
Kuh durchschnitt-
lich pro Jahr

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