Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1
Andreas Hoffmann
(l.) verbindet etwas
mit Walter-Borjans:
die Liebe zu Köln und
Kölsch und das Leiden am 1. FC Köln.
Jens Oellermann machte die Bilder FOTO: SEBASTIAN WILLNOW/ZENTRALBILD/DPA

Böse Menschen in der CDU wollen
ihn durch ein Abkommen mit der
Schweiz stoppen, womit sich die
Gauner freikaufen könnten. Der Fi-
nanzminister bleibt standhaft, am
Ende platzt der Deal der Bundesre-
gierung, viele Betrüger melden sich
freiwillig, und der Staat nimmt 7,2
Milliarden Euro zusätzlich ein.
7,2 Milliarden Euro!
Mit dieser Geschichte lädt er die
Sozialdemokraten zum Träumen
ein. Ein Aufrechter. Einer fürs linke
Gewissen, an dem man sich aufrich-
ten kann. Immer wenn Saskia Esken
auf den SPD-Regionalkonferenzen
von den Milliarden erzählte, die der
„Mann neben ihr“ eingetrieben hat-
te, brandete Beifall auf. Die SPD will
einen Helden feiern.
Diese Saga liefert den Kontrast zu
Olaf Scholz. Der sieht sich eher als
Stimme der Vernunft. Scholz heißt
eben „Weiter so“, von Kompromiss
zu Kompromiss zu Kompromiss.
Zum Träumen lädt er nicht ein, eher
zur Ernüchterung.
Wenn Scholz der Kühlschrank der
SPD ist, ist Walter-Borjans die Wär-
melampe.
Und eine Wundertüte. Was die SPD
mit ihm erwartet, weiß man nicht.
Er war nie Parteimensch, der sich
über Ortsvereine nach oben quälte.
Er war Amtsmensch. Regierungs-
sprecher unter Rau, Staatssekretär
unter den Ministerpräsidenten Peer
Steinbrück und dem Saarländer
Oskar Lafontaine, Stadtkämmerer

in Köln (wo er die Bettensteuer für
Touristen erfand), Finanzminister in
Düsseldorf. Mitgerissen haben sei-
ne Reden nie. Aber: Verwalten und
Kompromisse knüpfen konnte er.
Als er 1998 unter dem Minister-
präsidenten Lafontaine als Wirt-
schaftsstaatssekretär anfing, schärf-
te der ihm ein: „Bücher über Globa-
lisierung schreibe ich allein, du
musst dafür sorgen, dass sich hier
die Firmen wohlfühlen und nicht
abhauen.“
Die Sache mit dem Wohlfühlen
klappt ganz gut. Walter-Borjans hat
Kontakte in Lager, wo sich wenig
Freunde der SPD finden, in Vor-
standsetagen und bei Arbeitgebern.

Ein Linker, der mit allen redet


Dem linken Bild, das er von sich
malt, entspricht das so gar nicht.
Den Allianz-Chef Oliver Bäte kennt
er gut, den Chef des arbeitgeberna-
hen Instituts der Deutschen Wirt-
schaft Köln Michael Hüther auch.
Verkaufen kann sich Walter-Bor-
jans. Er ist freundlich, weckt Zutrau-
en. Gelernt hat er die Kunst des
Anpreisens beim Chemieriesen
Henkel, wo er sich nach dem Stu-
dium der Volkswirtschaft ums Mar-
keting kümmerte, grübelte, wie die
Seife „Fa“ („Mit der wilden Frische
der Limonen“) mehr Kunden finden
könnte. Später vermarktete er seine
Dissertation über die wirtschaftli-
chen und ökologischen Folgen des
Autobahnbaus so geschickt, dass er
ständig Interviews gab. Bürgerini-
tiativen luden ihn ein, er hob den
Verkehrsclub Deutschlands, eine Al-
ternative zum ADAC, aus der Taufe.
Das Verkaufstalent überstrahlt
Schwächen. Der geniale Finanzmi-
nister in NRW, als der er sich beju-
beln lässt, war er nie. Mal brachte er
die Lehrer mit einer Nullrunde bei
den Gehältern gegen sich auf, mal
die eigene Fraktion mit einer Er-
höhung der Grunderwerbssteuer.
Dreimal legte er einen verfassungs-
widrigen Haushalt vor, weil er mehr
Schulden als Investitionen machte


  • was er bis heute verteidigt, da die
    Finanzkrise und die Politik seiner
    Vorgänger ihm keine Wahl gelassen
    hätten. Walter-Borjans’ Tage im Amt
    schienen gezählt, bis er die Steuer-
    CDs entdeckte.
    Bereits der Nachrichtendienst
    BND und auch sein Amtsvorgänger


hatten solche Datenträger ankaufen
lassen, aber Walter-Borjans machte
daraus einen Kampf von Gut gegen
Böse. Sogar nach Griechenland flog
er, um dem damaligen Ministerprä-
sidenten Alexis Tsipras einige CDs
in die Hand zu drücken.
Manche nannten ihn Hehler, weil
er geklaute Ware ankaufen ließ.
Doch er wollte nichts weiterverkau-
fen. Die Gauner wollte er erwischen.
Im Englischen gibt es den Begriff
„One-Trick-Pony“; gemeint ist ein
Mensch, der nur ein Kunststück be-
herrscht. Die Steuer-CDs waren
Walter-Borjans Kunststück. Keiner
sollte ihm das nehmen.
Er muss sich nun in neue Themen
einfinden – Außenpolitik, Migra-
tion, Digitalisierung, Arbeitsmarkt.
Ein Parteichef muss sich auskennen.
Er hat nicht wie ein Kanzler den
Glanz der Gipfel. Er hat die Macht
der Worte, muss Debatten anstoßen,
Glaubwürdigkeit ausstrahlen.
Kann er das?
Es ist spät geworden. Walter-Bor-
jans steuert den Mietwagen weiter
nach Bergheim. Ein befreundeter
Künstler hat ihn eingeladen. Er be-
sucht ihn, weil er Künstler wieder für
die SPD begeistern will. Er fährt aber
auch wegen seiner privaten Leiden-
schaft hin. Er schwärmt für Rockmu-
sik und Kunst. In Teenagerzeiten
betrieb er einen Partykeller. Die Wän-
de teilte er genau auf, zwei waren für
Stones-Bilder reserviert, zwei für
Beatles-Porträts, weil die Fans mitei-
nander rivalisierten. Heute mag er
die Red Hot Chili Peppers und die
österreichische Gruppe Wanda, für
die er sogar mal nach Wien reiste.
Und fast jedes Jahr fährt Norbert
Walter-Borjans nach Italien, be-
arbeitet Marmorsteine. Vor bald 20
Jahren hatte er einen Artikel im
stern über Bildhauer gelesen, die
Kurse anbieten, seitdem übt er in
der Toskana mit Hammer und Mei-
ßel. Ihn fasziniert, sagt er, aus „sprö-
dem Zeug etwas Weiches entstehen
zu lassen“. Klingt nach einem, dem
die Anforderungen an einen SPD-
Chef durchaus bewusst sind. 2

IMMER ÖFTER NUR


EINSTELLIGE WERTE


Desaster für die
SPD in Thüringen –
Spitzenkandidat
Wolfgang Tiefen-
see sucht am
Wahlabend Er-
klärungen. Auch
die CDU wurde
gebeutelt

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