Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1

Leben. Sie verdient als Verkäuferin nur


300 Euro, nicht mal den Mindestlohn. Die


Mieten aber sind fast so hoch wie in Euro-


pa, ebenso Gas, Wasser, Strom, Lebensmit-


tel. Ihr Großvater, ein Leben lang Arbeiter,


kann von der niedrigen Rente nicht leben.


Ihre Schwester, eine Krankenschwester,


kann sich die Arztrechnungen nicht leis-


ten. Cynthia selbst wird wohl ewig bei den


Eltern leben müssen, weil das Geld für eine


eigene Wohnung nicht reicht. „Jeder Ein-


zelne gibt alles – aber wir packen es einfach


nicht. So fühlt ein Großteil der Chilenen –


außer die Reichen.“


Ihre ganze Familie geht zum Protestieren

auf die Straße, „nur mein Kind nicht, es ist


erst fünf“. Danach besuchen sie Verletzte,


die Krankenhäuser sind überfüllt. Einige


Demonstranten haben durch die Gummi-


geschosse der Polizei ein Auge verloren,


anderen wurde die Lunge durchschossen.


Mehr als 20 starben. „Das verpflichtet uns


nur, noch mehr zu kämpfen“, sagt Cynthia.


Die Regierung des konservativen Präsi-

dent Piñera musste angesichts der Protes-


te nun kleinlaut zugeben: „Wir alle haben


die Botschaft vernommen.“ Fast panisch


ließ er ein Rettungspaket beschließen:


Renten und Mindestlohn werden erhöht,


die Krankenversicherung verbessert, die


Reichen zahlen mehr Steuern, die Politi-
ker bekommen weniger Gehalt. Innerhalb
eines Tages hat er dem Volk einen kleinen
Teil von dem gegeben, was er ihm jahrelang
verweigert hat. Die Panik hat einen Hin-
tergrund: In drei Wochen kommen Donald
Trump und der chinesische Staatspräsi-
dent Xi Jinping zum Asien-Pazifik-Gipfel
in die Stadt. Dann will Chile Weltbühne
sein, nicht Schauplatz eines Krieges.
Die Regierung – so die allgemeine Les-
art – ist vor den Protestierenden in die Knie
gegangen, auch vor der Gewalt, vor den
Brandanschlägen und Plünderungen. Das
stimmt nur teilweise. Sie ist eher vor dem
breiten Volk eingeknickt. Mehr als eine Mil-
lion Menschen protestierte am Freitag sin-
gend und feiernd in Santiago. Die histori-
schen Botschaften, auch an die Welt, sind:
Junge Leute können es schaffen, das ganze
Volk zu mobilisieren. Zweitens: Man braucht
für die Rebellion keine Anführer, es reichen
die sozialen Medien. Drittens: Protestieren
zahlt sich aus. Cynthia sagt es mit reichlich
Pathos: „Wir jungen Leute können die Welt
ändern, das erleben wir gerade. Lasst uns
überall aufstehen – gegen Ungerechtigkeit,
gegen Armut, gegen die Klimakatastrophe.“
Die vierte Botschaft aus Chile lautet:
Politik und Militär kommen gegen das

vereinte Volk nicht an. Selbst dann nicht,
wenn sie die Studenten wegsperren und
mutmaßlich auch foltern lassen, wie zu
Pinochets Zeiten. Damit ernten sie nur
noch mehr Widerstand.
„Wir sehen schwere Menschenrechtsver-
letzungen vonseiten des Staates“, sagt der
Richter und Menschenrechtler Daniel Ur-
rutia, der einst für die Organisation Ame-
rikanischer Staaten, kurz OAS, arbeitete.
„Es gibt Tote, Verletzte, Hunderte Gefolter-
te, Tausende illegaler Festnahmen. Wir
Staatsanwälte und Richter untersuchen
die Fälle bereits, das ist der Unterschied zur
Diktatur damals.“ Chile werde nicht zur
Ruhe kommen, bis die großen Ungleich-
heiten nicht bekämpft werden, glaubt auch
Urrutia. „Die Wut des Volkes ist gewaltig.
Nicht nur in Chile, in ganz Lateinamerika.“

Aufstände in ganz Lateinamerika
Tatsächlich gibt es zurzeit überall auf dem
Kontinent Aufstände: In Ecuador, wo die
Menschen gegen Benzinpreiserhöhungen
demonstrierten und Präsident Moreno vor
ihnen aus der Hauptstadt Quito fliehen
musste. In Argentinien, wo die Bürger stark
unter zunehmender Armut leiden. In Peru,
Haiti und Bolivien, wo die Menschen den
Machtmissbrauch und die Korruption der
Regierenden anprangern.
Trotz aller Unterschiede gibt es so etwas
wie eine größere Botschaft, die sich auch
bei den Gelbwesten in Frankreich zeigte
und im Erstarken des rechten Populismus
in Europa: Es reicht uns. Wir arbeiten hart,
kommen aber nicht mehr klar. Ändert das,
und zwar schnell. Sonst ändern wir es. Die-
ses System, das nur noch für die Mächti-
gen, die Reichen und Eliten funktioniert.
Chiles Präsident Piñera, selbst Multi-
millionär, ist ein Symbol dieser abgehobe-
nen Elite, die schon seit Kolonialzeiten
immer wieder regiert und nie das Interesse
hatte, an den Verhältnissen etwas zu
ändern. Seine Haltung offenbarte sich in
den Sätzen einer seiner Minister, der über
die Preiserhöhungen der U-Bahn sagte:
Dann sollen die Armen eben früher auf-
stehen und vor sieben Uhr zur Arbeit fah-
ren, wenn die Preise niedriger sind.
Cynthia will so lang auf die Straße ge-
hen, bis sich tatsächlich etwas fundamen-
tal verändert. „Unsere Generation ist an-
ders“, sagt sie. „Meine Eltern hatten noch
Angst, das kannten sie aus der Diktatur.
Wir haben keine Angst mehr.“
Sie macht sich mit Tuch im Gesicht wie-
der auf zum Plaza Italia, wo ein Feuer
lodert, Sanitäter Verletzte behandeln, eine
Familie mit Kinderwagen und Gitarre
unterwegs ist und alle singen: „Ohoho Chile
despertó.“ Chile ist aufgewacht. 2
Jan Christoph Wiechmann

Mehr als eine
Million Menschen
drängt sich
vergangenen
Freitag auf
den Straßen
der chilenischen
Hauptstadt
Santiago

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