Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1
FOTO: KEYSTONE

auch in der Asylpolitik, keine Rede sein.


Aber ich kritisiere, dass geltendes nationa-


les wie europäisches Recht nicht hinrei-


chend beachtet wurde.


Hat diese Politik zur Erosion des Rechts-


staats, wie Sie sie sehen, beigetragen?


Ja, das muss man so sagen. Das Recht ist


ja schon vor dem September 2015 nicht


hinreichend durchgesetzt worden – und


wird es in der Asylpolitik bis heute nicht.


Das ist fragwürdig. Das kann nicht ohne


Auswirkungen bleiben.


Der Rechtsstaat hätte Härte zeigen müs-


sen?


Nein. Was heißt denn Härte? Ist es nicht


eine viel größere Härte, wenn man Men-


schen ungehindert ins Land einreisen lässt


und dann nach Jahren, nachdem sie viel-


leicht Arbeit gefunden und eine Familie


gegründet haben, wieder ausweist und


abschiebt? Humanität sollte der Staat


im Rahmen des geltenden Rechts walten


lassen – nicht dagegen.


Viele halten die Praxis der Abschiebun-


gen für verbesserungswürdig. Sie auch?


Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, dass man


Fehler bei der Einreisepolitik durch eine


konsequente Abschiebung gewissermaßen


kompensieren kann. Der Rechtsstaat kann


relativ frei entscheiden, welche Ausländer


ins Land oder in die EU einreisen dürfen.


Er ist sehr viel stärker gebunden in der


Frage, wen er abschieben kann. Wer einmal


eingereist ist, für den gelten unsere rechts-


staatlichen Garantien. Wer daran rüttelt,


rüttelt an dem rechtsstaatlichen Ast, auf


dem wir sitzen. Selbst ein Terrorist darf


nicht in ein Land abgeschoben werden, in


dem er nicht menschenwürdig behandelt


wird. Und das ist nur ein Beispiel.


Politiker streuen den Menschen Sand


in die Augen, wenn sie konsequentere


Abschiebungen versprechen?


Genauso ist es. Sie schüren Illusionen.


Da kann ich nur sagen: Vorsicht!


Was dachten Sie, als ein Berliner Gericht


die Beschimpfung der Grünen-Politi-


kerin Renate Künast als „Schlampe“


und „Fotze“ auf Facebook als zulässige


Meinungsäußerung durchgehen ließ?


Ich konnte nur den Kopf schütteln. Umso


heftiger, als ich hörte, dass das Urteil in-


direkt mit der Rechtsprechung des Bun-


desverfassungsgerichts zum Schutz der


Meinungsfreiheit begründet wurde. Hier


ging es um Äußerungen, die jenseits der


Grenzen der Meinungsfreiheit liegen.


Wenn das keine Beleidigung ist, weiß ich


nicht, wie ich jemanden beleidigen soll.


Brauchen wir eine Klarnamenpflicht für


die sozialen Medien?


Ich bin ein großer Anhänger dieser Idee. Die


freie Meinungsäußerung ist konstitutiv für


die rechtsstaatliche Demokratie, aber es
gibt kein Grundrecht, seine Meinung ano-
nym zu äußern. Die Meinungsäußerung ist
geschützt, damit sich der Einzelne dazu
bekennen kann. Die Versammlungsfreiheit
ist ebenfalls ein hohes Gut – und da gilt das
Vermummungsverbot. Eine Klarnamen-
pflicht wäre eine Art Vermummungsver-
bot fürs Internet.
In Berlin stehen die Drogendealer weit-
gehend unbehelligt im Görlitzer Park.
Viele halten das für eine Bankrotterklä-
rung des Rechtsstaats. Sie auch?
Das ist mir jetzt zu hoch gegriffen. Aber
auch hier versagt der Rechtsstaat ganz ein-
deutig. Ein Staat, der geltendes Recht in
so offenkundiger Weise nicht durchsetzen
will oder kann, entzieht den Bürgern das
Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des
Rechtsstaats.
Der Richter Thorsten Schleif hat ein Buch
geschrieben mit dem Titel: „Urteil: un-
gerecht“. Seine These: Deutsche Richter
urteilen viel zu milde. Einverstanden?
Nein. Mich stören nicht vermeintlich zu
milde Strafen, wichtig ist mir, dass eine
Strafe zügig verhängt und durchgesetzt
wird. Nur so hat sie auch Präventions-
charakter. Daran hapert es. Viel zu viele
Ermittlungsverfahren werden eingestellt

oder enden mit einem Deal, Haftbefehle
werden vielfach nicht vollzogen.
Vielleicht kapituliert der Rechtsstaat ja
auch an der falschen Stelle. Wir zitieren
einen Tweet: „Einen NS-Schriftzug mit
einem Herz übersprühen? 300 €. Lebens-
mittel aus einer Edeka-Mülltonne holen?
450 €. Mit CumEx-Geschäften mehrere
Milliarden Euro Steuern hinterziehen?
Ungeahndet. “
Es ist leider so, dass teilweise auf die
Durchsetzung des Rechts verzichtet wird,
um wirtschaftliche Belange und Arbeits-
plätze nicht zu gefährden. Dabei bedeutet
Rechtsstaat vor allem Schutz für die
Schwachen; insbesondere für die Schutz-
bedürftigen ist das Recht unverzichtbar.
Der Mächtige wird sich im Zweifel auch
ohne geltendes Recht durchsetzen können.
Der Dieselskandal ist nicht nur der Auto-
mobilwirtschaft anzulasten, das ist auch
staatliches Versagen. Da wurden ein Jahr-
zehnt lang Abgasnormen, die im europäi-
schen Recht festgelegt sind, nicht durch-
gesetzt, und jetzt wundert man sich, wenn
Verwaltungsgerichte Fahrverbote verhän-
gen. Ganz fatal ist, wenn Politiker erklären,
sie würden diese Fahrverbote nicht umset-
zen. Das ist staatlicher Ungehorsam gegen-
über richterlichen Entscheidungen.
Platt formuliert: Der Dieselskandal schä-
digt den Rechtsstaat mehr als, sagen wir:
10 000 nicht verfolgte Schwarzfahrer?
Ich sage vorsichtig: Ja. Weil das bei den Bür-
gern die falsche Vorstellung verfestigt, die
Großen lässt man laufen, die Kleinen will
man hängen. Der Justiz will ich da aber
keinen Vorwurf machen. Die Politik hat
lange Zeit über alle Parteigrenzen hinweg
die Justiz schlicht vernachlässigt. Der An-
teil am Haushalt für die Justiz liegt in den
meisten Bundesländern – Justiz ist ja weit-
gehend Ländersache – unter fünf Prozent.
Da ist der Strafvollzug schon enthalten.
Das sagt doch alles.
Die Große Koalition und die Länder
haben einen „Pakt für den Rechtsstaat“
vereinbart, um die Justiz zu stärken.
Ich bin skeptisch, ob man genügend tut. Sie
können natürlich ein paar Tausend neue
Richterstellen bewilligen. Aber Sie müssen
dafür auch qualifiziertes Personal haben.
Und wenn Sie gutes Personal wollen, hoch
qualifizierte, unabhängige Persönlichkei-
ten, dann brauchen Sie eine angemessene
Besoldung der Richter. In der Wirtschaft
und in großen Anwaltskanzleien werden
für Juristen Einstiegsgehälter geboten,
von denen können junge Richterinnen und
Richter nur träumen.
Taugt die strukturell langsame repräsen-
tative Demokratie noch für die Heraus-
forderungen einer globalisierten Welt?

ES GIBT KEIN


GRUNDRECHT,


SEINE


MEINUNG


ANONYM ZU


ÄUSSERN“


Papier, 76,
Mitglied der CSU,
war von 2002
bis 2010 Präsident
des Bundesver-
fassungsgerichts

60 30.10.2019

Free download pdf