Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1
ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART ACT/STERN

Diese Woche: Dr. Benjamin
Siemann, 38, Facharzt für Psycho-
somatik und Psychotherapie und
Ärztlicher Leiter am MVZ Verhaltens-
therapie Falkenried, Hamburg

AUFGEZEICHNET VON INGA OLFEN;

All das erklärte ich der Dame. Während
des Gesprächs schaute sie mich sehr ernst
und mit zusammengezogenen Brauen und
zusammengekniffenen Augen an. Sie
machte einen sehr misstrauischen Ein-
druck. Diese Einschätzung wollte ich nicht
ungeprüft stehen lassen. Ich bemühe mich
immer, meine Hypothesen zunächst wie
Schmetterlinge in der Hand zu halten und
zu schauen, ist das wirklich so? Verflüch-
tigt sich ein Eindruck vielleicht wieder? Ich
fragte die Patientin daher direkt: Sind Sie
ein misstrauischer Mensch? Vertrauen Sie

D


ie Dame, die zu einem Erstge-
spräch kam, war Mitte 60 und von
einer Freundin ermuntert wor-
den, einen Psychiater aufzusu-
chen. Sie schilderte ihre Be-
schwerden: Seit Monaten sei sie
ständig grundlos traurig, leide unter Kopf-
schmerzen, ihre Augen seien immer un-
glaublich schwer. Nichts mache ihr mehr
Freude. Sie könne sich nicht konzentrie-
ren und nicht mal mehr lesen, was ihr so
wichtig sei. Sie berichtete, dass sie sich zu-
rückziehe, kaum noch Freunde treffe und
im Begriff sei zu vereinsamen.
All diese Symptome sprachen
für eine depressive Episode, die
oftmals gekennzeichnet ist
durch den Verlust von Freude,
durch Antriebslosigkeit, Kon-
zentrationsstörungen und so-
zialen Rückzug.
Die übliche Vorgehensweise
bei einer solchen Erkrankung
ist, je nach Schwere, eine am-
bulante oder stationäre Kurz-
oder Langzeittherapie. Die Be-
troffenen arbeiten auf, was zu
den Symptomen geführt haben
könnte und wodurch sie auf-
rechterhalten werden. Häufige
Auslöser sind belastende Le-
bensereignisse, Sorgen, Ängste,
Todesfälle oder Trennungen. In
einer späteren Lebensphase
können es auch mit dem zu-
nehmenden Alter verbundene
Belastungen sein: körperliche
Einschränkungen oder der
Übergang in den Ruhestand.
In der Therapie geht es zu-
nächst um das wertschätzende
Verstehen. Also darum, den
Patienten klarzumachen, dass
die seelische Reaktion auf die
Umstände zunächst normal
und nachvollziehbar ist. Wich-
tig ist dabei, den Teufelskreis
zu durchbrechen, der oft ent-
steht, wenn Menschen auf-
grund der schlechten Verfassung weniger
soziale Kontakte haben, was sie noch trau-
riger macht, wodurch sie sich dann noch
weiter zurückziehen, und so weiter. Wenn
man mit verhaltenstherapeutischen
Maßnahmen keine ausreichenden Fort-
schritte erzielt, können auch eine Zeit lang
Medikamente zum Einsatz kommen.

mir nicht? Haben Sie in diesem Moment
irgendwelche Ängste? Nein, gar nicht, lau-
tete die Antwort. Kann es vielleicht sein,
dass Sie nicht mehr gut sehen, war meine
nächste Frage. Auf die Idee war sie noch
nicht gekommen. Ich schlug ihr vor, ein-
fach mal einen Augenarzt aufzusuchen.
Denn ähnlich wie sich die Symptome einer
Depression oft langsam entwickeln, ist ja
in der Regel auch das Nachlassen der Seh-
kraft ein schleichender Prozess, den man
selbst häufig gar nicht richtig bemerkt.
Und wer schlecht sieht, leidet oft unter
Kopfschmerzen, schweren
Augen und zieht sich unter
Umständen immer weiter ins
gewohnte Umfeld zurück. Die
Dame versprach, zum Augen-
arzt zu gehen.
Wenige Wochen später kam
sie wieder. Sie saß vor mir, mit
einer Brille auf der Nase, dank-
bar und glücklich: All die
Symptome, die sie gequält hat-
ten, waren dabei zu verschwin-
den. Sie konnte wieder lesen,
hatte keine Kopfschmerzen,
hatte sich schon wieder mit
Freundinnen getroffen. Durch
all das war ihre Freudlosigkeit
verschwunden. Ich bot ihr an,
dass sie sich jederzeit melden
könne, sollten einzelne Symp-
tome wieder auftreten. Denn
nicht immer sind seelische
Probleme, die durch körperli-
che Beschwerden ausgelöst
wurden, parallel mit der wie-
derhergestellten somatischen
Gesundheit vorbei. Das ist nun
vier Jahre her. Die Dame hat
mich nicht mehr aufgesucht.
Mir hat dieser Fall wieder
einmal gezeigt, dass die Tren-
nung zwischen Körper und Psy-
che ein künstliches Konstrukt
ist. Es geht um die Gesundheit
des Gesamtorganismus; und
ich finde es so wichtig als
Arzt, den Menschen möglichst ganzheit-
lich zu betrachten. 2

Eine Frau ist freudlos und hat Kopfschmerzen, sie


trifft kaum noch Freunde. Ist sie depressiv? Ein Arzt


entdeckt den Grund, als er sie genau ansieht


Blickdiagnose


80 30.10.2019

DIE DIAGNOSE


GESUNDHEIT


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