Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1
FOTOS: STERN TV; STEFAN HESSE/BILD; CAROLIN WINDEL

übecker Landgericht, Saal 224, es ist der
sechste Prozesstag. Die junge Frau mit
dem pastellrosa gefärbten Haar und
den schwarz lackierten Fingernägeln
nimmt im Zeugenstand Platz. Sehr
hübsch ist sie, hochgewachsen, mit
einer sportlichen Figur. Niemand wür-
de darauf kommen, dass Laura B.*, 19, bis
vor gut drei Jahren einen Rollstuhl be-
nutzt hat.
Unweit von ihr sitzt ihre Mutter,
Maike B., wie an den anderen Prozess-
tagen trägt die Angeklagte eine dunkel-
blaue Bluse mit lieblichem Rosenprint.
Wie immer schreibt sie mit, protokolliert das Drama
ihrer Familie, das derzeit mithilfe Dutzender Zeugen
rekonstruiert wird. Sie selbst schweigt zu den Vor-
würfen.
Maike B. hat ein rundes, freundliches Gesicht, halb-
langes braunes Haar und ist ein wenig pummelig. Die
Anmutung: mütterlich. Doch was die Staatsanwalt-
schaft der gelernten Schwimmmeistergehilfin und Er-
zieherin vorwirft, lässt sie in einem anderen Licht er-
scheinen. Die 48-Jährige aus einer kleinen Gemeinde
in Schleswig-Holstein soll vieren ihrer fünf Kinder
eingeredet haben, dass sie schwer und unheilbar krank
seien, dass sie jeden Tag viele Stunden im Rollstuhl
verbringen müssten. Sie soll die Kinder zu Ärzten ge-
schleppt, sie unnötigen Untersuchungen und Behand-
lungen ausgesetzt haben. Maike B., so die Anklage,
habe ihre Kinder gequält.
Laura saß seit ihrem 13. Lebensjahr im Rollstuhl,
Leon, heute 17, regelmäßig seit seinem neunten. Las-
se, 14, und Luis, 11, seit sie fünf waren. Nach ärztlichen
Attesten, die angeblich 2013 im Universitätsklinikum
in Kiel ausgestellt wurden, durften die Kinder pro Tag
nicht mehr als 50 bis 80 Schritte gehen. Ein Arztbrief
bescheinigte, dass sie unter verschiedenen Erkrankun-
gen litten, darunter „Osteogenesis imperfecta“, die
Glasknochenkrankheit, wegen der sie „oft“ auf den
Rollstuhl angewiesen seien. Der Arztbrief endete mit
dem Satz „Bitte vertrauen Sie auf die Einschätzung von
Frau B...., welche in der ganzen Zeit sehr gut und kom-
petent ihre Kinder mit dieser seltsamen Kombination
der Krankheiten im Auge behält und beschützt.“
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die
Schreiben gefälscht sind, gebastelt am heimischen
Computer. Maike B. soll sie bei Ärzten, Ämtern, dem
Medizinischen Dienst der Krankenkassen und bei der
Schule benutzt haben, um an Sozialleistungen für ihre
angeblich pflegebedürftigen Kinder zu kommen.
Neben Kindesmisshandlung wirft die Staatsanwalt-
schaft ihr deshalb auch gewerbsmäßigen Betrug vor
und Urkundenfälschung. Mehr als 100 000 Euro soll
sie sich erschlichen haben. B.s Mann ist nicht mitan-
geklagt, Zeugen schildern ihn als passiv, es ist Maike
B., die in Lübeck im Fokus steht.

Aber kann es tatsächlich sein, dass eine Mutter ihre
eigenen Kinder an den Rollstuhl fesselt, nur um Pfle-
ge- und Betreuungsgeld zu kassieren? Dass sie sie ohne
Not in dem schrecklichen Bewusstsein groß werden
lässt, unheilbar krank zu sein?
Vom ersten Tag an schwebt über dem Prozess die
Frage: Ist Maike B. eine gefühlskalte Sozialbetrügerin,
für die die Bewunderung als Supermutter nur Bene-
fit ist? Oder ist sie eine Frau mit einer Persönlichkeits-
störung, womöglich mit dem sogenannten Münch-
hausen-by-proxy-Syndrom?
Mütter, und nur selten Väter, die an dieser seltenen
Störung leiden, machen ihr Kind krank oder täuschen
vor, dass es krank ist – um sich dann regelrecht für es
aufzuopfern. Sie sind überfürsorglich, glauben sogar,
ihr Kind zu lieben. Tatsächlich aber misshandeln
sie es.
Es ist typisch für Münchhausen-by-proxy-Mütter,
dass sie mit ihrem Nachwuchs von Praxis zu Praxis zie-
hen und lautstark das Maximum an Diagnostik und
Therapien einfordern. Nach allem, was man weiß, geht
es den Frauen um Aufmerksamkeit, Anteilnahme und
Bewunderung. Und um das Gefühl, einzigartig zu sein.
Laura, die junge Frau mit dem rosa Schopf, ist das
Kind, das rebelliert hat. Das irgendwann nicht mehr
glauben wollte, krank zu sein. Lauras Aufbegehren
führte zuerst zu einem Verfahren vor einem Familien-
gericht – und in der Folge zu dem jetzt in Lübeck lau-
fenden Strafprozess.

E


s war Mitte Juli 2016, als Laura ihrer Ergothera-
peutin sagte, dass sie es zu Hause nicht mehr aus-
halte. Dass die Mutter sie unter enormen Druck
setze, sich kränker darzustellen, als sie sich tat-
sächlich fühle – um auch für sie eine Pflegestufe und
damit Geld zu bekommen.
Damals waren die angeblichen Krankheiten der
Kinder und die Opferbereitschaft der Mutter längst
auch ein Thema in der Öffentlichkeit. Nach einem ers-
ten Onlinebericht 2014 hatte es TV-Auftritte gegeben.
Die Kinder waren gefilmt worden, wie sie in ihren Roll-
stühlen sitzen, wie sie gemeinsam ihre Spritzen auf-
ziehen.
Arztbesuche, so sagte Laura ihrer Ergotherapeutin
2016, hätten schon lange zu ihrem Alltag gehört wie
Zähneputzen. Die Liste ihrer angeblichen Krankhei-
ten umfasste Rheuma, Glasknochen, eine Blutgerin-
nungsstörung namens Von-Willebrand-Syndrom,
Asthma. Obendrein ein Wirbelproblem, von dem sie
fürchten musste, dass es schon bei einer falschen Be-
wegung zur Querschnittslähmung führen könne.
Laura hatte ihrer Mutter lange geglaubt und ver-
traut. Doch irgendwann passte für sie manches nicht
mehr zusammen: Vormittags in der Schule sollte sie
brav im Rollstuhl sitzen – und nachmittags im Eigen-
heim der Familie helfen, die Tages- und Pflegekinder
ihrer Mutter zu versorgen. Sie sollte kochen und put-
zen, trotz ihrer angeblich so schlimmen Krankheiten.
Ganz ohne Rollstuhl.

Familienritual:
2014 filmte ein
Kamerateam die
Kinder, während
sie am Küchen-
tisch Spritzen
aufzogen. Unten:
Maike B. im
Lübecker Land-
gericht

*Namen der Kinder geändert.

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