Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1
Die Therapeutin nahm die damals knapp 16-Jähri-
ge ernst und meldete dem Jugendamt eine Kindes-
wohlgefährdung. Auf eigenen Wunsch wurde Laura
im Juli 2016 in Obhut genommen. Sie kam in eine Pfle-
gefamilie, ließ sich untersuchen – und erfuhr, was sie
längst geahnt hatte: Sie war gesund. Und der Rollstuhl
Geschichte.
Auch Lauras Brüder wurden in Obhut genommen.
Das Jugendamt hatte nach einer Risikoeinschätzung
eine Gefährdungsmeldung an das zuständige Gericht
geschickt. Bei einer Hausdurchsuchung wurden ver-
schmutze, vollgestopfte Räume vorgefunden, Tierkot
und außerdem Medikamente im Wert von über einer
Million Euro, darunter unzählige Packungen eines ex-
trem teuren Medikaments gegen die Blutgerinnungs-
störung.
Aber Maike B. gab nicht auf. Sie und ihr Mann woll-
ten das Sorgerecht für die Kinder behalten, die Sache
ging vors Familiengericht. Jetzt, im Lübecker Strafver-
fahren, schildert der damals zuständige Amtsrichter
noch einmal, was Laura 2016 über den Alltag in ihrem
Elternhaus aussagte: „Zentral war, dass die Mutter An-
weisungen gegeben hat, wie die Kinder sich zu verhal-
ten haben, wenn Gutachter oder andere Besucher ins
Haus kamen. Wenn keine externe Person da war, konn-
ten alle machen, was sie wollten.“ Die jüngeren Brü-
der hätten das so akzeptiert, weil sie es nicht verstan-
den hätten. Ihr selbst habe die Mutter Markenklamot-
ten versprochen, wenn sie sich so verhalte, dass sie
eine Pflegestufe bekomme.
Laura hätte jetzt im Zeugenstand noch einmal er-
zählen können, was ihr, Leon, Lasse und Luis wider-
fahren ist. Jeder hätte es verstanden, wenn sie so wü-
tend aufgetreten wäre wie Greta Thunberg in New York.
Doch anders als 2016 schweigt die junge Frau nun
im Strafprozess gegen ihre Mutter, macht sie Gebrauch
von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht, wie auch ihre
Brüder. Mehr noch: Sie umarmt ihre Mutter demons-
trativ im Gerichtssaal. Maike B., das ist in diesem Mo-
ment zu erahnen, hat wieder die Oberhand. Wie auch
immer es dazu gekommen ist.
Es sind andere, die vor Gericht von Lauras jahrelan-
gem Elend und den Gesprächen mit ihr erzählen. Die
Ergotherapeutin:
„Laura hat angezweifelt, ob das alles mit rechten Din-
gen zugeht, ob sie wirklich im Rollstuhl sitzen muss ...
Sie sagte auch mal, sie hätte Angst vor ihrer Mutter ...

Ich hatte die Angst, dass sie ernsthaft psychisch er-
kranken würde, dem Druck nicht gewachsen ist.“
Über Maike B. und ihren Mann sagt sie:
„Anfänglich habe ich gedacht: eine Löwenmama.
Später habe ich an das Münchhausen-by-proxy- Syn-
drom gedacht ... Der Vater verhielt sich absolut passiv.
Ich wusste anfänglich nicht, ob ihm alles egal ist oder
ob er selbst Opfer der ganzen Situation ist.“
Die Jugendamtsmitarbeiterin erinnert sich, wie es
war, als Laura 2016 mit der Ergotherapeutin zu ihr kam:
„Sie sagte, sie sei kurz davor, sich vor den Zug zu wer-
fen, weil sie zu Hause nicht mehr klarkomme. Und sie
hatte sich geritzt.“

L


eon, Lasse und Luis waren nach der Inobhutnah-
me zunächst in einem Krankenhaus untersucht
worden. Das Fazit der Ärzte: Bis auf ein altes Hüft-
leiden bei einem der Kinder und einer minima-
len, nicht therapiebedürftigen Gerinnungsstörung bei
einem weiteren waren sie alle gesund.
Maike B. und ihr Mann verloren das Sorgerecht. Die
Jungen, damals 14, elf und acht Jahre alt, kamen zuerst
wie Laura bei Pflegeeltern unter, dann in einem SOS-
Kinderdorf. Die Pflegeeltern berichteten von Schnee-
ballschlachten, erzählten, dass ihre Schützlinge auf
vier Meter hohe Bäume geklettert und vom Fünf-
meterbrett im Schwimmbad gesprungen seien. Kei-
ner der Jungen benutzte mehr einen Rollstuhl.
Aber sie litten unter der Trennung von Mutter und
Vater, schrieben Briefe an die Ämter – während Mai-
ke B. mit Anwälten darum kämpfte, sie zurückzube-
kommen. Als Leon, Lasse und Luis 2018 nach einem
Besuch bei den Eltern nicht zurückkehrten, verzich-
teten die Behörden darauf, sie abholen zu lassen, und
schließlich entschied ein Gericht, dass Maike B. und
ihr Mann wieder die elterliche Sorge bekommen, ob-
wohl gegen die Mutter ermittelt wurde – ein Vorgang,
zu dem sich das Jugendamt wegen des laufenden Ver-
fahrens nicht äußern will.
Im August 2019 beginnt der Strafprozess in Lübeck.
Maike B. sitzt nicht in Untersuchungshaft, sondern
lebt mit ihrem Mann und ihren Söhnen zusammen,
Laura lebt allein. Keines der Kinder benutzt noch
einen Rollstuhl.
Vor Gericht geht es um den möglichen Betrug, den
finanziellen Schaden für die Kassen. Viel schwerer aber
wiegt die Frage: Was hat das jahrelange Leid mit den
Kindern gemacht? Die ihrer Mutter vertrauten und mit
den Widersprüchen leben mussten, mit der Unsicher-
heit und der Angst, nie mehr gesund zu werden? Die
teilweise über 100 Fehltage in der Schule hatten und
entsprechend zurückfielen. Die möglichen körperli-
chen Folgen der mütterlichen Lügen: Wachstumsstö-
rungen, Muskelschwäche, eine Minderung der Kno-
chendichte. Die seelischen Folgen: nicht abschätzbar.
Vor Gericht erinnern sich Lehrerinnen und Schul-
begleiterinnen:
„Leon war sehr verschlossen, ein ganz ruhiges Kind ...
Es war schwierig, Kontakt zu ihm aufzubauen.“

Als die Jungen aus der Familie


genommen wurden, benutzten sie


ihre Rollstühle nicht mehr


Erfahrung:
Rechtsanwalt
Frank-Eckhard
Brand, der Maike
B. gemeinsam
mit einem Kolle-
gen verteidigt,
hatte schon ande-
re Mandantinnen
mit dem Münch-
hausen-by-
proxy-Syndrom


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