Der Stern - 30.10.2019

(やまだぃちぅ) #1
Anette Lache verfolgte den Prozess und erfuhr
so, dass Maike B. noch heute mit ihren Kindern zu
verschiedenen Ärzten fährt. Es fällt ihr schwer zu
akzeptieren, dass niemand die Angeklagte stoppt FOTO: STEFAN HESSE/BILD

„Lasse war ein sehr ruhiges Kind, er hat sich wenig
beteiligt ... Er saß die ganze Zeit im Rollstuhl ... und mir
wurde gesagt, er könne nicht schreiben lernen wegen
des Rheumas.“
„Luis war nicht gut integriert ... es war auch nach-
mittags kein Kontakt zu anderen Kindern da.“
„Laura saß beim Sport am Rand, sie war sehr traurig.“
Über Maike B. sagt eine Zeugin:
„Sie wirkte wie eine Löwenmutter, die alles für ihre
Kinder tut.“
Maike B.s älteste Tochter Lea, 27, die nie im Rollstuhl
gesessen hat und als Einzige aus der Familie bereit ist,
gegen ihre Mutter auszusagen, schildert diese vor
Gericht als „einnehmend, herrisch, streng“. Auch ihr
habe Maike B. einreden wollen, an Glasknochen und
an Rheuma zu leiden, sie habe sich daraufhin unter-
suchen lassen. Ergebnis: Sie war nicht krank. Ihren
Vater schildert Lea als jemanden, der sich aus allem
herausgehalten habe. Die junge Frau hat den Kontakt
zu Mutter Maike 2016 abgebrochen.

D


ass in diesem Gerichtsverfahren mehr als 40
Zeugen geladen sind, hat auch damit zu tun,
dass Maike B. sich nicht begutachten lassen woll-
te, was ihr Recht ist. Die Psychiaterin Mariana
Wahdany musste ihr Gutachten auf der Basis von
Zeugenaussagen und Aktenlektüre erstellen. In der
zentralen Frage, ob es sich um schnöden Sozial-
betrug handelt oder um Münchhausen-by-proxy,
kam sie zu dem Fazit, dass Letzteres der Fall sei. Die
Psychiaterin spricht von fehlender Empathie und
fehlendem Mitleid, sagt aber auch, sie gehe davon
aus, dass Maike B. gar nicht fühlen könne, was sie den
Kindern angetan hat. Das erkläre beispielsweise das
Unverständnis der Mutter für die Maßnahmen des
Jugendamtes. „Bei ihr liegen deutliche emotionale
Defizite vor, die sie selbst nicht wahrnimmt, nicht
wahrnehmen kann.“ Es seien allerdings keine Merk-
male festzustellen, die für eine verminderte Schuld-
fähigkeit oder gar eine Schuldunfähigkeit sprächen.
Auch zur Familienstruktur äußerte sich Wahdany.
Diese sei geprägt von der Dominanz, dem Egoismus
und der Manipulation der Mutter und Ehefrau, die die
totale Kontrolle über alle habe. Die anderen seien
nur „Objekte“ für sie, die Kinder hätten nicht die Mög-
lichkeit, sich normal zu entwickeln. Dass sie bis heute
zu ihrer Mutter halten, erklärt die Psychiaterin so: „In
solchen Fällen werden die Kinder von ihren Müttern
zu Komplizen gemacht und solidarisieren sich mit
ihnen.“ Wahdany spricht von einer „pathologischen
Identifikation“.
Das Pflegegeld und andere Vorteile, die Maike B.
durch die angeblichen Krankheiten ihrer Kinder hatte,
nennt die Gutachterin einen „externen Nutzen“. Die äl-
teste Tochter habe es in ihrer Aussage auf den Punkt ge-
bracht, als sie sagte, ihre Mutter habe das alles gemacht,
um Aufmerksamkeit zu bekommen – und auch wegen
des Geldes. Wahdany: „In dieser Reihenfolge. Wenn ein-
zig eine finanzielle Motivation vorgelegen hätte, hätte

sie die Suche nach neuen Krankheiten aufgegeben.“ Das
jedoch soll nicht der Fall sein. Inzwischen ist erneut
eine Kindeswohlgefährdung beim Jugendamt ange-
zeigt worden, nachdem die Fehlzeiten der Jungen in
der Schule wieder zugenommen haben. Allein für Luis,
den Jüngsten, soll es Atteste von sieben Facharzt-
besuchen aus zwei Monaten geben. Macht Maike B. wie-
der Ärztehopping mit ihren Kindern, wie das Münch-
hausen-by-proxy-Mütter eben tun? Trotz Anklage?
Die Störung sei nicht therapierbar, sagt Wahdany.
Wie konnte eine einzelne Frau jahrelang alle der-
maßen täuschen, Ärzte und Medizinischen Dienst,
Kreis und Krankenkasse, Lehrer und Schulbegleiter?
Wie konnte sie ein ganzes Hilfssystem unterlaufen?
Das System, das zeigt der Prozess, hat es Maike B. nicht
besonders schwer gemacht, mit ihren Geschichten
durchzukommen. Viele Ärzte, weit verstreut, viele
Arztbriefe und Atteste, viele Diagnosen, tatsächlich
gestellte wie die der Blutgerinnungsstörung – bei der
umstritten ist, ob sie richtig ist – und gefälschte wie
die der Glasknochenkrankheit, und nirgendwo liefen
alle Informationen zusammen. Diagnosen wurden
übernommen und zu Selbstläufern.
Anders als die Gutachterin Wahdany ist Maike B.s
Anwalt Frank-Eckhard Brand, der nicht zum ersten Mal
eine Mandantin mit Münchhausen-by-proxy-Syn-
drom vor Gericht vertritt, der Auffassung, dass man
eine „erheblich verminderte Schuldfähigkeit in ihrem
Fall nicht ausschließen kann“. Sollte es tatsächlich so
sein, dass Maike B. mit den Kindern wieder zu Ärzten
fährt, sagt der renommierter Strafverteidiger, müsse
man davon ausgehen, dass Maike B. es offenbar nicht
schaffe, sich von dem Geschehenen zu distanzieren.
Maike B.s Kinder werden damit leben müssen, dass
ihre Mutter sie offenbar nicht lieben konnte, wie
andere Mütter das tun. Dass sie sie manipuliert und
ihnen Krankheiten eingeredet hat, auch wenn sie das
selbst womöglich gar nicht realisierte. Sie werden
damit leben müssen, dass die Frau, die sie am meisten
lieben, ihnen die Kindheit geraubt hat. Egal, wie das
Urteil, das voraussichtlich am 13. November fallen
wird, lautet: Sie sind die Verlierer, die Verlorenen in
dieser Familientragödie. 2

Zeugin: Lea,
27, die älteste
Tochter von
Maike B. ist
die einzige, die
vor Gericht
aussagt

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