Geo - 11.2019

(Ann) #1
NACHGEDACHT

Macht Bildung ignorant?


Sie verführt zur Fehlinterpretation -
zumindest das lässt sich sagen. Es klingt
nach einer bitteren Erkenntnis, was For­
scher der Australian National Univer­
sity herausgefunden haben: Gerade wer
im Umgang mit Zahlen besonders gut
ist, tendiert dazu, Statistiken in seinem
Sinne auszulegen.
Das zeigt eine Studie mit gut 500
Australiern, die angekündigt hatten, bei
der nächsten Parlamentswahl entweder
die Greens oder die konservative Partei
One Nation zu wählen. Die Aufgabe der
Probanden bestand darin, fi ktive Daten
zur Abschaltungvon Kohlekraftwerken
und zur Auswirkung dieser Maßnahme
auf C02-Emissionen zu interpretieren.
Das Ergebnis: Wenn die Zahlen nicht
ins Weltbild passten, dann bogen beide
Gruppen sie ihrem politischen Lager
entsprechend zurecht. Am stärksten zu
beobachten war dieser Effekt bei den
Teilnehmern mit besonders guten Re­
chenfertigkeiten. Allerdings fanden die
Wissenschaftler auch heraus, dass die
Zahlenkünstler durchaus die Fähigkeit
besaßen, Statistiken korrekt zu deuten:
Konkret sollten dabei Zahlen über die
Wirksamkeit einer Salbe interpretiert
werden. Wer matheaffin war, bewertete
diesmal viel objektiver.

Lesen bildet -doch manchmal neigen
ausgerechnet gescheite Menschen dazu,
Fakten zu verdrehen

Die australische Studie bestätigt da­
mit einen ähnlichen Versuch an der
Yale University- was eine unbequeme
Frage auf den Plan ruft: Sollten wir
politisch brisante Themen überhaupt
noch mit Statistiken diskutieren?
Ich denke, ja!
Denn für mich offenbaren die Ergeb­
nisse vor allem einen allzu menschli­
chen Makel: Es fä llt uns schwer, Fakten
zu akzeptieren, die an der eigenen Welt­
anschauung zündeln. Der Grund dafür:

Wann ist die beste Zeit für Sport?


Möglichst vor Mittag. Jedenfalls dann, wenn man effektiver
abnehmen möchte. Das zeigt eine Studie mit 88 Probanden,
die zehn Monate lang ein straffes Sportprogramm absolvier­
ten: Fünfmal pro Woche verbrannten sie zwischen 400 und
600 Kilokalorien, das entspricht etwa 30 Minuten Joggen.
Einige Probanden nahmen stärker ab als andere: Diejenigen,
die vor der Mittagszeit trainierten, verloren durchschnitt­
lich mehr Gewicht als die Männer und Frauen, die nach 15
Uhr trainierten. Die Mitglieder der Frühsportgruppe waren
den Rest des Tages über aktiver und aßen im Schnitt etwa
100 Kilokalorien weniger. All dies könnte dazu geführt haben,
dass einige der Probanden erfolgreicher Gewicht verloren.

GEO 11 2019


Wir definieren uns selbst auch über un­
sere politische Meinungen.
Es sagt viel über uns aus, ob wir fü r
oder gegen Kohlestrom sind. Ob wir da­
gegen eine Salbe für wirksam halten -
was soll's? Wir neigen alle dazu, Zahlen
so zu lesen, wie wir sie uns wünschen.
Und umso größer ist die Ve rsuchung der
Schönrechnerei, wenn man das Hand­
werkszeug beherrscht.
In den Erkenntnissen dieser Experi­
mente kündigen sich also nicht die Rei­
ter der postfaktischen Apokalypse an.
Doch vielleicht dienen sie uns als Mah­
nung und als Appell: nicht für weniger,
sondern fü r mehr Fakten - unbedingt
auch solche, die sich nicht dem eigenen
Weltbild fügen. Das magweh tun, doch
es lohnt sich. Schließlich verteidigen
wir damit ein hohes Gut: die Wahrheit.

JAN HENNE ist Redaktionsleiter von
GEO.de. Dass es gerade bei Klimafakten
nicht alle so genau nehmen,
kennt er aus der Kommentarspalte
unserer Facebook-Seite.
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