Geo - 11.2019

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5,4 Millionen Menschen erleiden Gift­
schlangenbisse oder bekommen Gift in
die Augen gesprüht, was jährlich etwa
400 000 dauerhafte Behinderungen wie
Blindheit oder Amputationen zur Folge
hat. Zwischen 80 000 und 138 000 Be­
troffene sterben. Die Weltgesundheits­
organisation hat Schlangenbisse 2017
in die Liste vernachlässigter Krankhei­
ten aufgenommen.
Wie groß die Gefahr ist, durch eine
Giftschlange getötet zu werden, hängt
davon ab, wo man lebt: In den USA ster­
ben nur fünfvon 5000 gebissenen Men­
schen an Schlangengift (0,1 Prozent), in
Indien sind es 50 000 von 2,8 Millionen
(1,8 Prozent), in Nepal1000 von 20 000
(fünf Prozent). Die Angstvor Giftschlan­
gen jedoch teilen Menschen überall in
der Welt, gleichgültig, ob es dort, wo sie
leben, viele der Tiere gibt oder nicht.
Bei Schlangenphobikern kann die Angst
so ausgeprägt sein, dass sie den Anblick
der Aufnahmen von Giftfängen auf die­
sen Seiten nicht ertragen könnten.

D


JE OFFENBAR angeborene
Furcht vor Schlangen lässt
sich auch bei unseren nächs­
ten Verwandten, den Affen,
beobachten. Sie ist ein evo-
lutionäres Erbe von unseren
gemeinsamen Vorfahren, die über Mil­
lionen von Jal1ren in permanenter Be­
drohung durch giftige Schlangen leben
mussten. Einige Naturvölker tun dies

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noch heute. Bei denAchein den Regen­
wäldern Paraguays sterben 14 Prozent
der erwachsenen Männer durch einen
Schlangen biss. Ohne Zweifel war es für
unsere Vorfahren von großem Vorteil,
Giftschlangen frühzeitig zu entdecken.
Deshalb diskutieren Wissenschaftler
ernsthaft, ob diese tödliche Bedrohung
geprägt hat, wie wir visuelle Reize im
Gehirn verarbeiten.
Eine andere Spekulation der Gifttier­
fo rscher betrifft die Frühzeit der Säuge­
tiere. Auch die Männchen des Schnabel­
tiers besitzen eine sehr wirkungsvolle
chemische Waffe: zwei hohle Sporne
aus Keratin an den Hinterbeinen, die
mit Giftdrüsen im Körperinneren ver­
bunden sind. Das Schnabeltier gehört
zu den Eier legenden Ursäugern. Es ist
das einzige Säugetier, das sein Gift mit
einem Stich injiziert. Da auch die ver­
wandten Schnabeligel und diverse aus­
gestorbene Vorfahren ähnliche Sporne
besaßen, spekulieren die Wissenschaft­
ler, dass möglicherweise alle Säugetier­
ahnen darüber verfügten, die einst un­
ter der Fuchtel der Dinosaurier lebten.
Erst als sie sich später in die Eier legende
Verwandtschaft des Schnabeltiers auf
der einen Seite sowie in Beuteltiere und
Höhere Säuger auf der anderen Seite auf­
spalteten, ging der Sporn bei Letzteren
verloren.
Trifft diese Theorie zu, dann wären

UNTER
BESCHUSS
Reibt eine amerikanische
Vogelspinne an ihrem Hinterleib,
wird es für Angreifer gefährlich:
Denn dabei schießt das Tier
seine Brennhaare ab. Forscher
vermuten, dass die Spinne je
nach Gegner unterschiedliche
Pfeile einsetzt. Auf ihnen
sitzen Widerhaken, die Haut,
Augen und Atemwege reizen

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Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass
diese Gifte dem Nahrungserwerb dien­
ten. Die Sporne der Schnabeltiere kom­
men vor allem bei Kämpfen unter rivali­
sierenden Männchen zum Einsatz.

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IN 57-JÄHRIGER Kriegsve­
teran erfuhr 1991 in Queens­
land, Australien, am eigenen
Leib, dass ein Stich des Schna­
beltiers für Menschen extrem
schmerzhaft ist. Als er ein ver­
meintlich krankes Tier aus dem Wasser
hob, verspürte er nach Stichen in seine
rechte Hand sofort brutale Schmerzen,
die nach einigen Stunden den ganzen
Körper erfassten und nicht einmal mit
starken Opiaten zu beseitigen waren.
Sie seien noch viel schlimmer gewesen
als das, was er nach einem Schrapnell­
treffer erlitten habe, berichtete er spä­
ter. Erst drei Tage nach dem Stich ließ
der Schmerz nach, doch sogar einen Mo­
nat später tat ihm noch die Hand weh,
die Schwellungen an Hand und Finger
hielten länger als drei Monate an.
Der Frankfurter Toxinologe Dietrich
Mebs, einer der profiliertesten Gifttier­
experten in Deutschland, aus dessen
umfangreicher Sammlung viele der auf
diesen Seiten abgebildeten Präparate
stammen, wurde als junger Mann von
einer Gila-Krustenechse gebissen. Auch
er hatte anschließend "fürchterliche
alle heute lebenden Säugetiere Nach- Schmerzen". Der Blutdruck sackte ab.
fahren von Gifttieren, auch der Mensch. Ein Herzstillstand drohte. 48 Stunden

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