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brauchten die Ärzte, um ihn zu stabili
sieren. "Der schwärzeste Tag in meinem
Leben", sagt Mebs. Früher habe man die
Gifte für die Forschung selbst gewin
nen müssen, was natürlich mit einem
gewissen Risiko verbunden sei. Deshalb
kenne er kaum einen" Gifttierforscher
ohne Giftunfall."
F
ORTAN WAR Mebsvorsichti
ger, und vermutlich wird auch
der eingangs erwähnte George
Madani in Zukunft die Finger
von glupschäugigen Äffchen
lassen. Das Gleiche gilt für je
den, der einmal von einer Wespe oder
Biene gestochen wurde. Mithilfe von
Giften verschaffen sich auch kleine an
sonsten eher wehrlose Tiere Respekt.
Genau dafür sind diese Stoffe entstan
den. Es sind Abwehrgifte, die nicht tö
ten, sondern schnell starke Schmerzen
verursachen sollen, um auch viel größe
re Angreifer nachhaltig abzuschrecken.
Deramerikanische Insektenkundler
Justin Schmidt hat diese Schmerzwir
kung in eine Skala übertragen. Dazu
ließ er sich von 150 Insektenarten ste
chen. Einer Pelzbienenart etwa ordnete
er den Schmerzlevel I zu. Als "fast an
genehm" beschreibt Schmidt die Wir
kung ihres Stichs, etwa so: "Ein Liebha
ber hat an deinem Ohrläppchen gerade
etwas zu fest zugebissen." An der Spit
ze der Skala steht der Stich des Taran
tulafalken, einer großen We spe. Wen sie
erwischt, dem rät Schmidt aus Erfah
rung, "sich hinzulegen und zu schreien".
Wir nennen diese Stoffe, in Einzahl:
Gift - doch alle tierischen Sekrete, die
diesen Namen verdienen, sind in Wirk
lichkeit komplexe Gemische aus einer
Vielzahl bioaktiver Substanzen. Es sind
Giftcocktails, die Proteine (Enzyme),
Peptide (kurze Aminosäureketten), ein
zelne Aminosäuren, Salze, Lipide, Ami
ne und weitere Stoffe enthalten. Ihre
Zusammensetzung ist artspezifisch und
variiert mit ihrer Funktion und den
Zielorganismen, fü r die sie bestimmt
sind. Alle diese Zutaten sind in einem
langen evolutionären Prozess optimiert
worden, nicht selten in einem Wettlauf
Gifte sind also, ob sie nun lähmen,
töten oder abschrecken sollen, eine sehr
effektive Waffe, das beweist schon ihre
weite Verbreitung. Doch sie sind nicht
umsonst zu haben. Ihre Produktion ist
oft energetisch kostspielig. Um die be
sonders wirksamen Eiweißkomponen
ten herzustellen, muss der Proteinsyn
theseappara t Schwerstarbeit verrichten.
Vogelspinnen brauchen bis zu 85 Tage,
um einen verbrauchten Giftvorrat auf
zufüllen. Auch bei Schlangen kann die
ser Prozess Wochen dauern, wobei sich
die Stoffwechselrate der Tiere gegen
über dem Ruhezustand deutlich erhöht.
EI D E R E V 0 LU T I 0 N der
Gifte musste sich ein Korn-
ein Verteidigungs-oder ein Angriffsgift
einsetzen. Dazu steht jeder der circa
800 Arten ein eigener umfangreicher
Fundus zur Verfügung, die Conotoxine.
Als Forscher der University ofUtah die
se Giftstoffe isolierten und Mäusen in
jizierten, führtejedervon ihnen zu spe
zifischen Reaktionen. Eines der Toxine
etwa bewirkte, dass die Nager sofort in
tiefen Schlaf fielen, andere ließen sie
zittern, im Kreis laufen oder seltsame
Sprünge ausführen. Wieder andere ver
ursachten Krämpfe, intensives Kratzen,
unkoordinierte Bewegungen oder Koma.
Kein Wunder, dass sich für diese Cono
toxine auch Mediziner und Pharmako
logen interessieren.
Wie konnte eine solche Vielfalt von
B
promiss zwischen Herstel- Giftstoffen entstehen? Bei vielen Tie
lungsaufwand und Wirksam- renhaben die Wissenschaftler wieder
keit herausbilden. Es kommt holtes Kopieren von Genen als Ursache
hinzu, dass die Tiere ohne ausgemacht. Erbanlagen, die Eiweiß
ihre wichtigste Waffe vorübergehend molekülefür elementare Körperfunk
wehrlos sind und keine Beute machen tionen produzieren, wurden dupliziert,
können. Auch wenn es in Fachkreisen und die Kopien waren dann ausschließ
umstritten ist, wie sehr die Produktion lieh in den Giftdrüsen aktiv. Dort ent
den Organismus belastet- ein sparsa- standen weitere Genkopien, die jede
mer Umgang mit dem Gift ist in jedem für sich eine außergewöhnlich schnel
Fall vorteilhaft. In der Tat können viele Je Evolution durchmachten und im Er-
Tiere während der Injektion nicht nur
die Menge, sondern auch die Zusam
mensetzung ihres Gifts kontrollieren,
um nicht mehr davon einzusetzen als
nötig. Wie viel Schlangen, Skorpione
und Spinnen bei einem Biss oder Stich
injizieren, hängt davon ab, wie groß, be
weglich und wehrhaft das Beutetier ist.
Sie berücksichtigen aber auch, wie groß
der eigene Vorrat ist und ob die Beute
eventuell gegen ihr Gift resistent ist.
Wenn man Glück hat, beißen Schlangen
nur trocken zu, ohne den Einsatz ihrer
schlimmsten Waffe. Die Botschaft ist
allerdings unmissverständlich: Hau ab!
Beim nächsten Mal wird es giftig!
Wenn Südafrikanische Dickschwanz
skorpione sich bedroht fühlen, stechen
auch sie zuerst nur mit einer harmlo
seren Giftvariante zu, dem Prevenom.
Will der Gegner danach nicht weichen,
kommt das eigentliche Gift zum Ein
satz, mit seinem hohen Anteil an Neu
rotoxinen. Für Menschen kann ein sol-
gebnis zu ganzen Familien ähnlicher
Toxin-Gene führten. Viele Gene bedeu
ten schlicht: mehr Gift. Und da sich alle
Komponenten ein wenig unterscheiden,
kannjede einzelne im Beuteorganismus
andere Funktionen wahrnehmen. Die
Stoffvielfalt beugt zudem einer Resis
tenzbildung vor. Zusammen entfalten
diese Toxine dann ihre todbringende
Wirkung. Man muss wohl Giftforscher
sein, um angesichts dieses komplexen
chemischen Zusammenklangs von einer
"toxischen Sinfonie" zu schwärmen. (I)
mit der Fähigkeit der Beutetiere, Resis- eher Stich lebensbedrohend sein. Auch
tenzen dagegen zu entwickeln. Kegelschnecken können je nach Bedarf
Mit angehaltenem Atem arrangierte
Fotograf MARTIN OEGGERLI (1.) seine
Motive -die Miniaturwaffen wären
sonst davongeweht Autor BE RN HA R D
KEGEL imponierte ein Südamerikani
seher Giftkäfer ganz besonders: Er
sticht mit den Spitzen seiner Fühler.
GEO 11 2019