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SO EINE GELEGENHEIT kommtselten,unddie
Kennis-Zwillinge nutzten sie sofort: Ein Schim
panse sei gestorben, sagte der befreundete Tier
präparator am Telefon. Man könne ihn vom Zoo
abholen- aber bitte nachts, um kein Aufsehen zu
erregen. Also kutschierte Adrie Kennis das tote
Tier auf der Rückbank seines Autos zum Labor
des Freundes. Wa hrend der den Affen sezierte, so
erzählt es Adrie, sahen er und sein Bruder Alfons
zu und studierten die Muskeln des Schimpansen,
wo sie verliefen und wo sie ansetzten.
Denn mit der Anatomie nehmen die Zwillinge
aus den Niederlanden es genau - mit der eines
Menschenaffen und auch mit der des Menschen.
Was die Arbeit der Brüder auszeichnet. Adrie und
Alfons Kennis, 52, lassen Tote auferstehen. Sie
fo rmen aus Schädeldecken und Kieferfragmenten,
aus Beckenschaufeln und Oberschenkelknochen
Wesen, die aussehen, als seien sie aus Fleisch und
Blut. Wer ihren Geschöpfen Lucy, Wilma, Nana,
Mr. 4% begegnet, der glaubt, sie hielten nur den
Atem an, würden aber gleich wieder Luft holen
und sich bewegen. Doch ihre Körper bestehen aus
Silikon, ihre Augen aus Glas, die Haare stammen
von Tieren oder sind aus Kunstfaser.
Die Brüder Kennis gelten als Stars unter den
Paläo-Künstlern,jenen Spezialisten, die Vor-und
Frühmenschen rekonstruieren. Die Zwillinge be
kommen zahlreiche Aufträge, seitdem Museen ge
merkt haben, dass es nicht mehr genügt, allein
Knochen in Vitrinen auszustellen, um Besucher
anzulocken.
Die möchten sich ein Bild machen von unseren
Vorfahren, wollen vor Augen haben, wer unserer
Spezies auf dem Evolutionspfad vorausgegangen
ist. Sie möchten dem Neandertaler, dem Peking
Menschen ins Gesicht sehen, sich in ihm wieder
erkennen oder auch Unterschiede entdecken. Da
für reichen ein lädierter Schädel, ein Stück Unter
kiefer und ein Oberarmknochen nicht aus. Solche
Relikte bleiben stumm, setzen keine Erzählung im
Kopf in Gang.
Das ist es, was die Brüder schaffen: Sie kreieren
Figuren, die vom Leben gezeichnet sind, für die
der Betrachter Mitgefühl entwickelt, deren Ge
schichte er sich ausdenken kann. Deshalb wirken
Ahnengalerie:
ln den Regalen
in der Wohn
werkstatt der
Paläo-Künstler
liegen Kopien
der Schädel
einer Vielzahl
von Vor-und
Frühmenschen
ihre toten Objekte so lebensnal1, und deswegen
schätzen Museumsdirektoren ihre Arbeiten, die
in Ausstellungen vom dänischen Aarbus bis nach
Gibraltar stehen. Das Neanderthal-Museum in
Mettmann allein zeigt rund ein Dutzend Rekon
struktionen made by Kennis & Kennis.
A
N EINEM SONNIGEN, kühlen Tag
im Mai sitzen die Brüder im Wohn
und Arbeitszimmer der Freundin
von Adrie, im dritten Stock, und
blicken über Arnhem bis zum Elte
ner Berg in Deutschland. Beide tra-
gen wilde Mähnen, in die sich erste graue Sträh
nen mischen, Dreitagebärte sprießen auf ihren
markanten Kinnpartien. Sie sind einander so ähn
lich in Aussehen wie Stimmlage, dass es hilfreich
ist, wenn sie unterschiedliche Pullover tragen.
Adrie: "So wird der Rippenkäfig zu klein. Er
passt nicht zum Becken." Alfons: "Wir müssen die
Querfortsätze weiter nach außen drehen, das sieht
dann viel besser aus." Lebhaft diskutieren sie über
die Winkelstellung der Querfortsätze an der Wir
belsäule und die Dicke von Wirbelkörpern. Man
wähnt sich in einem anatomischen FachzirkeL Die
Detailversessenheit der Kennis-Zwillinge trägt
manische Züge. Im Zimmer nebenan wächst in
einem3-D-Drucker Kunststoffschicht um Kunst
stoffschicht der oberste Brustwirbel Th1.
Das Biodiversitätszentrum Naturalis in Leiden
hat bei Kennis & Kennis eine Rekonstruktion des
Java-Menschen bestellt, eines berühmten Fossils.
1891 hatte der niederländische Arzt EugEme Du
bois auf der indonesischen Insel ein Schädeldach,
einen Zahn und ein Jahr später einen Oberschen
kelknochen ausgegraben. Es waren die ersten Ho
mininenrelikte, die außerhalb Europas auftauch
ten. Heute wird dieser Fund dem Homo erectus
zugerechnet und auf ein Alter von rund 500 000
Jahren datiert.
Aber wie geht das? Aus ein paar Knochen einen
ganzen Menschen zu rekonstruieren? Sich ein
fach etwas auszudenken, das käme für das Duo
niemals in Frage. Denn dafür werden sie bei aller
»Wir konnten nicht so gut
lesen, haben uns viele Bilder
angeschaut« ADRIE KENNIS
GEO 11 2019