Geo - 11.2019

(Ann) #1
Inmitten der Sammlung sitzt Alfons und arbei­
tet am Kopf der Java-Frau- immer der erste Kör­
perteil, den die Paläo-Künstler in Angriff nehmen.
Mit diesem hat sich der Zwillingsbruder schwer­
getan, seit Wochen schon feilt er daran.
Den Schädel aus grauem Ton hat Alfons auf ei­
nem Metallstiel befestigt, den er wie einen Griff
benutzt. Er hält den Kopf dicht vor sich und be­
gutachtet ihn durch zwei Brillen, die er überein­
ander trägt: Doppelt sieht besser. "Hier bei Adrie
ist das Licht anders. Ich entdecke Dinge, die ich
zu Hause nicht gesehen habe. Jetzt muss ich nach­
bessern", sagt er und kneift die Augen zusammen.
Mit einem feinen Spatel streicht er unter der Nase
über den Ton, glättet Abdrücke, die er beim Um­
formen mit den Fingern hinterlassen hat. Am lin­
ken Auge fehlen noch Fältchen. Einzelne Poren
müssen verstärkt werden.
"Das Wichtigste ist es, einen Charakter zu fin­
den", sagt der Kennis-Zwilling. Das gelinge meist
mit einem Kontrast, einer Ambivalenz: einem Ge­
sicht, das auf den ersten Blick lächelt, aber zu­
gleich gehemmt wirkt. Oder einem, das angriffs­
lustig blickt, aber dabei sympathisch bleibt.

A


UF DER KLEINEN Werkbank, an
der Alfons sitzt, liegt die Fotogra­
fie einer Aborigine. Sie dient ihm
als Inspiration. Denn aus den Kno­
chenrelikten lassen sich allenfalls
Größe und Körperbau eines Indi-

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viduums ableiten. Aber wie sich die Menschen da­
mals bewegten, welche Mimik sie zeigten, wie sie
ihr Haar trugen, ob und wie sie ihren Körper
schmückten - dafür, dies nachbilden zu können,
sind die Paläo-Künstler auf Vermutungen ange­
wiesen. Als Anhaltspunkt und Ideengeber nutzen
sie Jäger-Sammler-Kulturen aus der Gegenwart
und der jüngeren Vergangenheit.
Auf seinem Computer hat Alfons Hunderte eth­
nologische Bilder und Videos gespeichert, von
Völkern aus Afrika, Neuguinea, Australien. Wenn
sich die Brüder über die Aufnahmen beugen, star­
tet wieder der Kennis-Aufruhr. Lautstark begeis­
tern sie sich fü r eine australische Ureinwohnerin,
die Grimassen schneidet, einen Papua, der seinen
Bauch herausstreckt, fü r die Indianer Feuerlands,
die selbst im Schnee nackt unterwegs sind. "Das
ist die richtige We lt", sagt Alfons.
Sie schwärmen von der Vielfalt der menschli­
chen Kulturen und Lebensweisen. Nebenbei lie­
fern ihnen die Bilder Anregungen fü r eine Frage,
vor der sie bei jeder Rekonstruktion von Neuern
stehen: Wo hin mit den Händen, wenn man keine
Taschen hat, in die man sie stecken kann?

»Wir versuchen, unseren


Rekonstruktionen


etwas Überraschendes


mitzugeben« ALFONS KENNIS


So ruhig wie auf
der Gartenbank
trifft man Adrie (1.)
und Alfons Kennis
selten an. Die
eineiigen Zwillinge
sind bei ihrer
Arbeit manische
Komplizen

Während Alfons weiter am Kopf der Java-Frau
tüftelt, Poren mit dem Spatel vergrößert, radelt
Adrie zum nahe gelegenen Baumarkt. Er will ein
Metallgitter kaufen und es in seinem Gartenhaus
an die Decke schrauben - als Aufhängung für die
Rekonstruktion der Java-Frau.

MIT DEN KUNSTSTOFFKNOCHEN aus dem
3-D-Drucker bauen sie das Skelett zusammen.
"Wie eine Marionette hängen wir es auf, bringen
es mit Drähten in die gewünschte Körperhaltung",
erklärt Adrie. Der Plan ist: Die Figur des Java­
Menschen wird eine Hand an den Mund fü hren,
als ob sie am kleinen Finger knabbert.
Die Gelenke verbinden sie mit Metallbändern,
zwischen die Wirbel und die Rippen packen sie Si­
likon. "Das entspricht dem Knorpel." Aus Model­
Herton schneiden sie Hunderte von Muskeln und
drücken sie auf das Skelett. Von innen nach außen
wächst der Körper. Für die Simulation der Blut­
gefäße verwenden sie feine Kordeln. Darüber le­
gen sie eine dünne Schicht aus Modelliermasse -
Haut und Unterhautfett.
Vom nackten und leblosen Original aus grauer
Modelliermasse fertigen die Kennis-Brüder eine
Negativform, in der dann das Ausstellungsstück
aus Silikon gegossen wird. Es folgt die Feinarbeit,
die ihrer Rekonstruktion den Lebensfunken ver­
leiht: mit einer Nadel stundenlang unzählige Haa­
re geduldig in die Haut stechen, Hautfarbe nach­
bessern, ein wenig Schmutz unter die Fingernägel
applizieren, einen Krümel ins Gesicht kleben.
"Wir versuchen, unseren Rekonstruktionen et­
was Überraschendes mitzugeben", sagt Alfons.
"Eine Warze oder ein Haar an einer unvorherge­
sehenen Stelle, einen fehlenden Zahn bei einem
ansonsten wunderschönen Mädchen." Kennis &
Kennis lieben den Kontrast, das Spiel mit Schön­
heit und Hässlichkeit. Eines mögen sie dagegen
überhaupt nicht: langweilig makellose Körper, ge­
formt nach dem westlichen SchönheitsideaL

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