Geo - 11.2019

(Ann) #1

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PSYCHOLOGIE



Wir können uns nicht finden.




Weil in uns kein Selbst ist, das wir


finden könnten<<


Der Neurowissenschaftler Nick Chater macht sich keine
Illusionen über den menschlichen Geist. Das hat ziemlich radikale Folgen

In terview: Christoph Kucklick, Fo tos: David Vintiner

GE o: Wenn Sie mein Gesicht betrachten,
haben Sie vermutlich den Eindruck, es gleich­
zeitig in allen Details zu sehen. Aber Sie
wissen es besser. Was sehen Sie tatsächlich?
N 1 c K c HAT ER: Extrem wenig. Detailliert sehe ich,
sehen wir alle, nur einen winzigen Ausschnitt,
etwa ein bis zwei Grad des Gesichtsfeldes. Als
würde ich durch ein langes Teleskop schauen. Nur
dort nimmt die Netzhaut scharfund
farbig wahr, alles andere ist schwarz-
V I TA

dass wir zu jedem Zeitpunkt eigentlich nur jeweils
eine einzige Sache registrieren: ein Wort, wenn
wir lesen; ein Detail der Welt, eine Farbe.
Dann müssten doch schon die ersten
Menschen wegen Lebensuntauglichkeit
gescheitert sein.
Ich will nicht allzu demoralisierend klingen.
Unser Gehirn ist verdammt gut darin, komplexe
Objekte schnell zu erkennen, etwa
den Gefühlsausdruck eines Gesichts.
weiß und verschwommen.
Und wie viel sehen Siejeweils
auf einmal?

NICK C H ATE R ist Professor an der Und es kann uns hervorragend alar­
mieren: Wenn etwas Wichtiges pas­
siert, macht uns das Gehirn meistens
darauf aufmerksam.

britischen Warwiek Business School. Er
hat mehr als 200 Aufsätze veröffentlicht
Einen Teil eines Auges etwa. Dann
springe ich zum nächsten Detail: zu
einem Nasenflügel vielleicht, zum
Mundwinkel, zur Stirn. Niemals sehe
ich ein ganzes Gesicht auf einmal.

und wurde vielfach ausgezeichnet.
Sein Buch "The Mind is Flat", in dem er Wo liegt dann das Problem?
seine Erkenntnisse zusammenfasst, Darin, dass wir mit vollkommen
ist noch nicht auf Deutsch erschienen. falschen Vorstellungen überunseren

Das gilt genauso fü r Farben?
Ja, das ist verrückt. Die bunten Bücher hinter
Ihnen: Ich habe den Eindruck, ich sehe alle Far­
ben auf einmal, aber wir können in Experimenten
(S eite 60) nachweisen, dass das nicht stimmt. Wir
sehen immer nur eine Farbe zur selben Zeit. Und
wenn wir auf eine andere Farbe "umschalten",
dann sehen wir die davor gesehene nicht mehr.
Besteht unsere Wahrnehmung nur aus solchen
Mini-Eindrücken? Das ist schwer zu glauben.
Psychologen sprechen hier von der "Großen
Illusion". Wir haben den Eindruck, ständig die
ganze Welt um uns herum wahrzunehmen, in vol­
len, realistischen Details- tatsächlich aber sehen
wir das Meiste überhaupt nicht und erfassen nur
winzigste Ausschnitte. Experimente belegen, wie
unfassbar klein unser Fenster zur Welt ist und

Geist herumlaufen. Das zeigen an­
schaulich die "Unmöglichen Figuren" des schwe­
dischen Zeichners Oscar Reutersvärd (S eite 54).
Jedes dieser Objekte sieht zunächst wie eine ganz
normale dreidimensionale geometrische Figur aus.
Bei genauerem Hinsehen allerdings ergeben sie
einfach keinen Sinn. Sie haben Lücken und sind
widersprüchlich.
Ja, und?
Sie zeigen, dass das innere Bild, das wir uns von
der Welt machen, lückenhaft und inkohärent ist.
Wir können aus den Unmöglichen Figuren drei
Lehren ziehen: Erstens, dass unsere Intuitionen
darüber, wie unser Geist funktioniert, grundle­
gend falsch sind. Wir haben den Eindruck, dass
wir die äußere Welt im Inneren halbwegs korrekt
widerspiegeln; aber das ist offensichtlich nicht der
Fall -sonst würden wir eine Unmögliche Figur

GEO 11 2019
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