Geo - 11.2019

(Ann) #1

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»Unsere innere We lt,


unsere We rte und Glaubens­


sätze sind Erfindungen«


sofort als unmöglich zurückweisen. Die zweite
Lektion lautet: Wir nehmen alles nur punktuell
wahr. Punktuell ist das Objekt "sinnvoll", aber
eben nicht als Ganzes. Drittens belegen die Zeich­
nungen, wie unangebracht das Vertrauen in un­
sere eigene Wahrnehmung ist: Das Gehirn kann
nicht anders, als immer wieder so zu tun, als sei
das Objekt stimmig, sogar noch, wenn es längst
weiß, dass dieser Eindruck falsch ist.
Sie scheinen die Schwächen unserer
Wahrnehmung mit einer gewissen Freude zu
zelebrieren.
Weil wir nur so ein realistisches Bild dessen be­
kommen, was wirklich in unserem Kopf abläuft.
An diesem Bild arbeiten Philosophen
und Forscher seit mehr als 2000 Jahren.
Wasist neu?
Sie sind stets von unseren Intuitionen ausge­
gangen, unseren Vermutungen, wie unser Geist
arbeitet. Aber das ist kein brauchbarer Ansatz.
Weil wir keine Ahnung haben von uns selbst.
Richtig. Das gilt nicht nur fü r den Geist, son­
dern fü r alles, was wir sagen. Als man in den l950er
Jahren die ersten intelligenten Computer bauen
wollte, versuchte man, das menschliche Wissen
als Grundlage zu nehmen und in den Computer
zu übertragen. Forscher machten sich also auf,
das Wissen von Experten aus den unterschied­
lichsten Fachgebieten zu systematisieren - aber
je mehr sie es versuchten, desto deutlicher wur­
de: Da ist nichts Systematisches! Schachspieler,
auch aus der Weltspitze, können nicht sinnvoll er­
klären, wie sie spielen. Ärzte können nicht erklä­
ren, wie sie zu einer Diagnose kommen.
Mehrheitlich überleben Patienten eine Opera­
tion, irgendetwas müssen Ärzte also wissen.
Schon, aber sie können es nicht erklären. Wenn
man sich die Erklärungen genauer anschaut, dann
sind sie voller Widersprüche, logischer Löcher
und Inkonsistenzen. Zugleich sind die Mediziner
völlig überzeugt, dass sie alles ziemlich gut durch­
schauen. Das giltnicht nur fü r Ärzte. Psychologen
sprechen von der "Illusion der Erklärungstiefe":
Flüssig reden wir vor uns hin und bemerken gar
nicht, was fü r ein unzusammenhängendes, unlo­
gisches Zeug wir erzählen.

Meine Güte, Sie haben ja keine sehr hohe
Meinung von unserem Gehirn. Wir sehen nur
winzigste Ausschnitte, machen uns allerhand
Illusionen und können nichts vernünftig
erklären. Chaos-Köpfe.
Und die gravierendste Folge habe ich noch gar
nicht genannt: Das gilt auch für unsere Innenwelt.
Wir leben auch in einer Illusion über unser Selbst.
Genauso wie wir in jedem Moment die äußere
Welt aus wenigen Eindrücken höchst unzuverläs­
sig zusammen basteln, so machen wir es auch mit
unserem Innenleben. Auch unsere innere, men­
tale Welt, samt den Motiven, Glaubenssätzen und
Werten, auf die wir so stolz sind, ist eine Erfindung.
Das nehme ich persönlich: Sie sagen mir,
ich sei eine Illusion?
Nein, ich sage Ihnen, dass auch unsere Intuitio­
nen über unser Innenleben fa lsch sind. Wir haben
den Eindruck innerer Tiefe, einer reichen Welt, in
der unsere Überzeugungen ruhen. Und wenn wir
sie brauchen, holen wir sie gleichsam hoch. Aber
da ist nichts dergleichen: Wir haben keine innere
Tiefe. Wir sind mental flach. So wie wir die Außen­
welt aus einzelnen Eindrücken improvisieren, so
machen wir es auch mit unserem Selbst.
Das nehme ichjetzt noch persönlicher.
Die Psychologie hat viele Belege, dass wir je­
weils im Moment erfinden, was mit uns los ist. Vor
ein paar Jahrzehnten hat man bei Epilepsiepatien­
ten die Verbindung zwischen den Gehirnhälften
zerschnitten. Die rechte Hälfte wusste also nicht
mehr, warum die linke etwas tut. Dann hat man
die linke GehirnhäUte, wo die Sprachfähigkeiten
konzentriert sind, gebeten, zu erklären, was die
rechte Hälfte macht. Und obwohl sie davon keine
Ahnung haben kann, die Hälften sind ja komplett

TÄUSCHUNGSMANÖVER

Eine der »Unmöglichen
Figuren« des Zeichners
Oscar Reutersvärd: Auf
den ersten Blick wirkt sie
wie ein stimmiges 3-D­
Gebilde. Genau betrach­
tet, ist sie voller optischer
und »logischer<< Brüche.
Das Gehirn sieht sie
trotzdem immer wieder
als stimmig. Forscher wie
Chater schließen daraus,
dass wir uns viele Illu­
sionen machen: über die
Weit und darüber, wie
unser Geist funktioniert.

GEO 11 2019
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