Geo - 11.2019

(Ann) #1

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getrennt, hat die linke Hälfte flüssig die plausi­
belsten Erklärungen abgegeben - die natürlich
komplett unsinnig waren. Pure Erfindungen.
Und das machen wir mit allem?
Genau. Denn wir haben ebenso wenig einen
Zugang zu unseren mentalen Prozessen, wie die
linke Hälfte in einem getrennten Gehirn Zugang
hat zur rechten Hälfte. Die Funktionsweise unse­
res Hirns ist uns völlig verschlossen. Wir können
nur beobachten, was wir tun, aber nicht, warum
wir es tun. Wir betrachten uns selbst im Grunde
so, wie wir andere Menschen betrachten. Wir ma­
chen etwas und fabulieren dann Erklärungen, war­
um wir es getan haben. Und wirwissen niemals, ob
unsere Erklärungen etwas mit den tatsächlichen
Prozessen in unserem Geist zu tun haben.

»Wir haben keinen Zugang zu


n1entalen Prozessen. Wir wissen


nicht, warum wir etwas tun«


Das klingtjetzt sehr allgemein, als würden
wir rasend schnell unsere Meinung ändern
können, ohne es zu bemerken.
Gerrau das passiert. Bei einem faszinierenden
Experiment in Schweden wurden Wähler gebeten,
auf einem Fragebogen anzugeben, wie sie zu po­
litisch umstrittenen Fragen stehen: mehr Steuern
oder weniger, mehr Migranten oder weniger- sol­
cherlei Fragen. Durch einen Trick wurde ihnen
unmittelbar nach dem Ausfüllen ein gefälschter
Fragebogen zurückgegeben, der vielen ihrer ur­
sprünglichen Antworten widersprach. Und? Die
meisten Wähler haben die Widersprüche nicht

MUSTERERKENNUNG

Die Zwölf-Punkte-Illusion: Auf den Kreuzungen der grauen
Linien sind zwölf schwarze Punkte eingezeichnet - aber unser
Hirn sieht nie alle zugleich. Sondern nur einzelne Punkte, die
scheinbar zufällig aufblinken, oder mehrere, die aber stets
in einer geometrischen Struktur (Linie, Kreuz) aufscheinen.
Ein Indiz, dass das Hirn ein winziges Aufmerksamkeitsfenster
besitzt: Nur was wir unmittelbar betrachten oder als Struktur
erkennen, nehmen wir wahr, der Rest wird ausgeblendet.

bemerkt! Mehr noch: Sie haben sogar fließend die
Positionen, die sie wenige Minuten zuvor noch ab­
gelehnt hatten, erklärt und verteidigt.
Aber das sind doch Extreme, deren Aussage­
kraft unklar ist. Nicht alles ist so wirr. Als Bei­
spiel: Ich kann ziemlich genau erklären, wie
dieses Gespräch zustande gekommen ist, wie
ich auf die Idee gekommen bin bei der Lektüre
Ihres Buches, bis zur ersten Mail, die ich ge­
schrieben habe - nachvollziehbare und nicht
erst im Nachhinein plausible Schritte.
Das sind aber alles gleichsam öffentliche Hand­
lungen, bei denen Sie Spuren hinterlassen haben,
die Sie und ich nachvollziehen können. Was par­
allel dazu im Gehirn passiert ist und ob das, was
Sie als Gründe angegeben haben, für das Hirn aus­
schlaggebend war, das wissen wir nicht.
Für Sie ist das Gehirn eine große unbewusste
Maschine, zu der wir keinen Zugang haben,
aus der wir aber alles holen, was uns ausmacht.
Mit Verlaub, das klingt stark nach einer Wie­
derauftage von Sigmund Freuds Theorie. Sie
besagt, dass in uns ein Unterbewusstsein
agiert und uns antreibt, wobei wir die wahren
Motive meist nicht verstehen.
In zwei Aspekten weiche ich grundlegend von
Freud ab. Erstens unterscheidet er zwischen be­
wussten und unbewussten Prozessen. Als wären
wir Eisberge, bei denen manche Teile über Was­
ser, also erkennbar, und andere unter Wasser, also
unbewusst, wären. Ich sage hingegen: Alles ist Eis.
Das Gehirn arbeitet nur auf eine einzige Weise. Es
gibt keinerlei Hinweise darauf, dass, während wir
"bewusst" denken, irgendwo im Hirn noch etwas
"Unterbewusstes" abläuft. Es gibt kein Unterbe­
wusstsein, sondern nur die parallel prozessieren­
de, verteilte Anstrengung unseres Hirns, sich ei­
nen Reim auf die Welt zu machen. Das erfordert
in jedem Moment nahezu alle geistigen Ressour­
cen, die wir besitzen. Wir haben gar keine Rechen­
kapazität fü r Unterbewusstes.
Aber jeder könnte eine Geschichte seines
Lebens erzählen, von Wünschen, Zielen, die
ihn antreiben.
Richtig. Aber da liegt der zweite Unterschied
zu Freud. Bei ihm klingt es so, als wären in uns

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