Geo - 11.2019

(Ann) #1

60


gleich

gespiegelt

rotiert

FARBWAHRNEHMUNG
Nehmen Sie sich Zeit,
um zu entscheiden, ob
die beiden Farbquadrate
Jeweils der Beschreibung
darunter entsprechen, ob
sie also gleich, gespiegelt
oder rotiert sind. Dazu
isoliert unser Gehirn die
Muster einzelner Farben
und vergleicht sie. Das
berühmte Experiment
hat ergeben, dass wir
dafür immer nur jeweils
das Muster einer Farbe
betrachten, alle anderen
Farben verschwimmen.
Ein weiterer Beleg dafür,
dass unser Gehirn nur
eine Sache zur selben Zeit
zu tun in der Lage ist.

dass wir ein Magengrummeln aus Wut klar von
jenem aus Verärgerung unterscheiden können.
Nicht zu jeder unserer Emotionen korrespondiert
ein exakter körperlicher Zustand. Wir brauchen
also zusätzliche Hinweise darauf, was eigentlich
mit uns los ist.
Und die holen wir aus der Umwelt?
In einem legendären Experiment schickten
Forscher junge Männer über zwei unterschied­
liche Brücken: eine stabile Betonbrücke und eine
zappelnde Hängebrücke. An den Enden der beiden
Brücken standjeweils eine attraktive, junge Frau,
die sich als "Forscherin" ausgab und den Proban­
den ihre Telefonnummer gab unter dem Vorwand,
sie könnten sie anrufen, falls sie noch Fragen hät­
ten. Was passierte? Diejenigen Männer, die über
die schwankende Brücke gegangen waren, riefen
die Frau deutlich häufiger an und versuchten sich
mit ihr zu verabreden. Warum? Die Wissenschaft­
ler vermuten: Von ihrem Gang über die schwan­
kende Brücke waren diese Männer voller Adrena­
lin, aber sie bezogen ihre innere Aufregung nicht
auf die Brücke, sondern auf die junge Frau. Gefüh­
le sind nicht einfach da. Wir müssen die unter­
schiedlichsten Signale erst zu einem plausiblen
Ganzen zusammenfügen.
Und dabei können wir uns auch vertun.
Genau. Dann kommt es eben zur Verwechslung
einer Brücke mit einer jungen Frau. Aber wir sind
so verdammt schnell im Deuten von Situationen,
dass wir gar nicht auf die Idee kommen, dass wir
Erfinder sind. Emotionen fühlen sich an wie un­
umstößliche Fakten.

Aber gibt es denn in uns gar nichts Fixes?
Nichts, was einfach da ist?
Ich würde sagen: nein. Aber das ist gar nicht
schlimm. Weil wir hauptsächlich Produkte unse­
rer Vergangenheit sind, sollten wir uns vielleicht
nicht als fe ste Selbste auffassen, sondern eher wie
Traditionen. Diese sind halbwegs stabil, so wie
kulinarische Traditionen, die chinesische oder
die indische Küche beispielsweise. Sie sind nicht
beliebig, sondern klar erkennbar und voneinan­
der unterscheidbar.
Aber Traditionen sind vor allem konservativ,
sonst hätten sie keine Dauer. Sind wir eben­
falls konservativ, damit wir gleichsam nicht
auseinanderfallen?
Richtig. Es ist sehr schwierig, Traditionen ra­
dikal und von jetzt auf gleich zu verändern. Aber
als langsamer und allmählicher Prozess ist es
möglich. Genauso ist es uns auch möglich, uns
graduell zu verändern und neue Deutungen un­
seres Selbst auszuprobieren.
Wir leben in einer Zeit, in der alle versuchen,
sich selbst zu finden: ihr wahres, authenti­
sches Ich. Und da schreiben Sie: "Wir können
uns nicht finden, weil dort kein Selbst ist,
das wir finden könnten." Radikale Entpersön­
lichung. Und Sie finden das auch noch
befreiend!
Wenn es keine verborgene Essenz von mir gibt,
die ich finden muss, um endlich ganz ich selbst zu
sein, dann muss ich nicht erst einen harten Kampf
führen, um mich kennenzulernen. Ich kann viel
freundlicher mit mir sein. Ja, ich bin widersprüch­
lich, inkohärent und oft ein bisschen verpeilt. Na
und? Es geht gar nicht anders. Und wir haben
stets die Möglichkeit, Schritt für Schritt zu lernen,
ein bisschen anders zu sein, ein bisschen mehr,
wie wir sein wollen.
Das fü hrt Sie am Ende zu einer Verteidigung
der liberalen Gesellschaft.
Wir sollten toleranter sein für die eigenen In­
konsistenzen- und auch für die der anderen. Und
verstehen, dass wir die anderen notwendig brau­
chen, um unsere eigenen Widersprüche aufzude­
cken. Die einzige Korrekturmöglichkeit, die uns
zur Ve rfügung steht für unsere eigenen Verwirrt­
heiten, sind die verwirrten Gedanken der ande­
ren. Wir sollten sie nicht geißeln, sondern ihnen
dankbar sein.�

GEO-Chefredal<teur CHRIST 0 P H KU C K LI C K fühlt
sich seit dem Gespräch deutlich entlastet: Für alle
seine Verwirrtheiten und Vergesslichl<eiten macht er
nur sein "flaches Hirn" verantwortlich.

GEO 11 2019
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