Bild - 09.11.2019

(Kiana) #1

Jeder von uns kennt
es, kaum einer kann es es, kaum einer kann es
nachvollziehen – wa-
rum liegen Glück und rum liegen Glück und
Unglück oft so nah beiUnglück oft so nah bei-
einander? Eben haben
wir uns noch gefreut: wir uns noch gefreut:
das erste Lachen der
Tochter, ein Lob vom Tochter, ein Lob vom
Chef, Urlaub superChef, Urlaub super-
günstig gebucht.günstig gebucht.
Dann, am gleichen
Abend: die Waschma-
schine kaputt, plötzlich
kein WLAN mehr und
dann noch der Brief vom
Finanzamt mit der For-
derung zur Steuernach-
zahlung.


Warum ich diese klei-
nen Sorgen erwähne?
Weil sie jedem von uns
in ähnlicher Art schon
einmal passiert sind.
Was Millionen Men-
schen im Alltag wider-
fährt, ist wie ein Spie-
gelbild der deutschen
Geschichte in diesem
Jahrhundert. Doch da
geht es nicht um kaputte
Waschmaschinen und
gute Worte vom Boss.
Es geht um das große,
sich nicht wiederholende
Schicksal.
Das alles ist der


  1. November.


Einer der dunkelsten
Tage in unserer Ge-
schichte war der 9. No-
vember 1938. In der
Reichspogromnacht
zerstörten National-
sozialisten jüdische

Geschäfte und Synago-
gen, verschleppten und
ermordeten Tausende
Juden. Es war der Be-
ginn des größten Völker-
mordes in der Geschich-
te der Menschheit.
Am 9. November
1989, dem Tag,
den wir heute fei-
ern, fiel die Berli-
ner Mauer. Es war
die verrückteste
und glücklichste
Nacht, die Berlin
je erlebt hat.
Ex-Bundes-
kanzler Gerhard
Schröder formu-

lierte zum 10. Jahrestag lierte zum 10. Jahrestag
des Mauerfalls, was noch des Mauerfalls, was noch
heute Bestand hat: „Die
Mauer wurde nicht in
Washington, Bonn oder
Moskau zum Einsturz
gebracht. Sie wurde von
den mutigen und uner-
schrockenen Menschen
eingedrückt, und zwar
von Ost nach West.“
Ist es nicht fast unbe-
greiflich, dass so kon-
träre Ereignisse am glei-
chen Tag geschahen? Am


  1. November 1918 rief
    Philipp Scheidemann
    die Republik aus. Am 9.
    November 1923 scheiter-


te Hitlers „Marsch auf
die Feldherrnhalle“ in
München.
Würfelt das Schicksal
mit uns Deutschen?Ist
alles nur Zufall? Gibt es
einen erkennbaren roten
Faden, der diese derartig
verschiedenen Gescheh-
nisse zusammenhält?
Wir wissen es nicht.
Wir können nur stau-
nend zur Kenntnis
nehmen, dass sich amnehmen, dass sich am


  1. November viele Din-
    ge ereignet haben, die ge ereignet haben, die
    uns noch heute berüh-
    ren – und immer berüh-
    ren werden.


Wenn Sie dieser Ta-
ge, lieber Leser, unterge, lieber Leser, unter-
wegs sind, werden Sie wegs sind, werden Sie
vielleicht etwas sehen, vielleicht etwas sehen,
was auch zum Novem-
ber gehört:ber gehört: Kerzen, die
im Wind flackern, getra-
gen von Kinderhänden,
St. Martinstag. Mäd-
chen und Jungen singen
ein Lied, das wir alle nur
zu gut kennen.
„Ich geh mit meiner
Laterne und meine La-

terne mit mir, da oben
leuchten die Sterne und
unten da leuchten wir.“
Wie schön, dass diese
historischen und aufhistorischen und aufhistorischen und auf--
wühlenden Tage um den


  1. November so fried-
    lich enden. Die Laterne
    als Symbol der Freude



Louis Hagen (72) war 13 Jahre Mitglied der BILD-Chefredaktion,
ist heute Berater bei der Kommunikationsagentur WMP und Gast-
dozent für Medienwissenschaften an der Technischen Universi-
tät Berlin. Er lehrt Boulevardjournalismus am Beispiel von BILD.

„ a oben leuchten die Sterne ...“


Die


Kolumne


fürs


Leben


Von
LOUIS HAGEN
Foto: WOLF LUX

Fall Nummer 10 des
Berliner Tatort-Duos
Karow (Markenzeichen
schlechte Laune)
und Rubin (Mar-
kenzeichen Ber-
liner Schnauze).
Passend zum
Mauerfall-Jubilä-
um geht‘s morgen
in „Das Leben nach
dem Tod“ um die DDR-
Justiz.
DER FALL: Ein Nach-
bar von Karow (Mark
Waschke, 47) liegt seit
Wochen mumifiziert in
der Wohnung, ohne dass
der Kriminalhauptkom-
missar nebenan etwas
gerochen hätte.
Die Vermieterin lässt
erstaunlich schnell die
Leiche wegschaffen. Der

scheinbar natürliche Tod
entpuppt sich als Mord


  • per Genickschuss. So
    wie Todesurteile in
    der DDR vollstreckt
    wurden (offiziell
    erst 1987 abge-
    schafft). Welche
    Rolle spielt ein
    hochdekorierter Ex-
    DDR-Richter?
    ANSCHAUEN? Nicht
    unbedingt. Ein interes-
    santer Aspekt zur DDR-
    Historie wird zäh erzählt

  • mit vielen Ekelbildern
    aus der Wohnung des
    Opfers. Liebhaber von
    Maden und Fliegen kom-
    men auf ihre Kosten.
    Schön: Karow und Ru-
    bin (Meret Becker, 50)
    haben sich für einen
    Moment ganz lieb ...


BILD DEUTSCHLAND • 9. NOVEMBER 2019 30 JAHRE MAUERFALL


Von Walter
M. Straten

VORAB-KRITIK


bleiben wir im
Krankenhaus,
so ist es Vor
schrift. Mein
Vater darf uns
zweimal für je
eine Stunde be
suchen.
Die DDR
zahlt für das
Kinderkriegen:
Für Heiratswil-
lige gibt es ei-
nen Ehe-Kredit – 5000
Mark, zinslos. Getilgt
wird mit Nachwuchs:
1000 Mark fürs erste,
1500 Mark fürs zweite,
mit dem dritten Kind
ist der Kredit „abge-
kindert“. Meine Eltern
entscheiden anders, ich
blieb Einzelkind.
März 1989: Mein Va-
ter holt uns aus dem
Krankenhaus, es ist meiKrankenhaus, es ist mei-
ne erste Fahrt im Tra-
bant. Modell 601, Far Modell 601, Far Modell 601, Far--
be: grau, mit einem
schwarzen Zierstreifen
längs über der Motorlängs über der Motorlängs über der Motor--
haube. Der ganze Stolz
meines Vaters. Er hat
ihn 1983 gebraucht von
einem Arbeitskollegen
gekauft (3000 Mark).
Ein Jahr zuvor hat er
mit 18 Jahren einen fa-
brikneuen Trabi bestellt.
Erst nach der Wende
bekommt er Post: Tra-
bi abholen!
Die ersten Tage in
der DDR schmecken
mir gar nicht. Meine
Mutter tippt auf ein Fo-

to im Album
(„Meine ers-
te Mahlzeit
zu Hause“). Ich mit
Fläschchen – und spu-
cke die ganze Milch
wieder aus.
Dann muss ich ins
Krankenhaus. Diagno-
se: metabolische Spä-
tazidose. Was ich esse,
breche ich aus, wiege
nur noch 2430 Gramm
und werde zwangser-
nährt. Erst die Umstel-
lung auf „Manasan“ ret-
tet mein Leben. Aber:
Das Produkt ist in der
DDR Mangelware. Täg-
lich klappert mein Va-
ter die Apotheken ab,
fährt dafür sogar drei
Stunden mit dem Trabi
nach Berlin. Mit 2720
Gramm werde ich spä-
ter entlassen.

Mein Vater hatte sich
1988 ein Rema-Radio
für 650 Mark gekauft.
Wenigstens einmal am
Tag den Westen hö-
ren: die Hitparade mit
Frank Elstner oder Tho-
mas Gottschalk. Das
Radio steht bis heute
in seinem Wohnzimmer,
dudelt jetzt im Hinterdudelt jetzt im Hinterdudelt jetzt im Hinter--
grund.grund.
Im April 1989 läuft
„Looking for Free-
dom“, befeuert bei
vielen Bürgern den
Wunsch nach einem
freien Land. „Nicht
jeder hatte Flucht
gedanken“, sagen mei-
ne Eltern. Sie wollten
ihr Zuhause nie ver-
lassen.

Im Sommer 1989
fängt die Stimmung
an zu kippen. Es bro-
delt in der DDR. Meine
Mutter schiebt mich im
Kinderwagen durch den
Park. Einmal pro Woche
stehen wir am Konsum
oder HO-Laden Schlan-
ge: Bananen, Schoko-
lade, Textilien. Die Lie-
ferlisten verbreiteten
sich 24 Stunden vor-
her, Mundpropagan-
da. Mama sagt: „Wir
hatten alles, nur nicht
immer.“ Beim Warten
wurde dann über die
nächste Lieferung spe-
kuliert.
Oktober 1989: Die
Menschen versam-
meln sich u.a. in Leipa. in Leip-

zig und Berlin auf den zig und Berlin auf den
Straßen und demonst-
rieren. Mein Vater geht
wöchentlich in die Kirwöchentlich in die Kirwöchentlich in die Kir--
che – ist jetzt Teil des
Widerstands. Als der
SED-Bürgermeister auf
der Kanzel steht, schlich-
ten will, wird er ausge-
buht. Die Macht ist weg.
Am 9. November 1989,
nach 28 Jahren, fällt die
Mauer. Menschen lie-
gen sich an den Grenz-
übergängen weinend
in den Armen, Tausen-
de strömen noch in der
Nacht in den Westen.
„Wo waren wir?“, fra-
ge ich meine Eltern. Wir
saßen zu Hause vor
dem Fernseher, sagt
mein Vater. Der nächs-
te Grenzübergang in
den Westen, Roggen-
dorf bei Ratzeburg, ist
175 Kilometer entfernt.
Meine Eltern gehen
ins Bett, sie müssen
am 10. November ar-
beiten. Ich habe die-
se große Nacht in
meinem Bettchen ge-
schlafen ...

zig und Berlin auf den zig und Berlin auf den
Straßen und demonst
rieren.
wöchentlich in die Kir
che – ist jetzt Teil des
Widerstands. Als der
SED-Bürgermeister auf
der Kanzel steht, schlich
ten will, wird er ausge
buht. Die Macht ist weg.

Von CHRISTIN
WAHL

Berlin – Ich kann mich
nicht an die DDR er-
innern. Als die Mauer
fiel, war ich erst 258 fiel, war ich erst 258
Tage alt. Trotzdem Tage alt. Trotzdem
spüre ich eine Verbinspüre ich eine Verbin-
dung zu dieser Zeit.dung zu dieser Zeit.
Als ich meine Eltern
bitte, mir von meiner
Zeit als Wendebaby zu
berichten, zögern sie.
Wir sitzen vier Stunden
auf der Couch meines
Vaters in Mecklenburg-
Vorpommern, stöbern
in Fotoalben, ich höre
zu. Und beginne, uns
zu verstehen.
Anfang 1989 glaubt
kaum einer an das En-
de der DDR. „Die Mau „Die Mau-
er wird in 50 und auch
noch in 100 Jahren be-
stehen“, sagte Staats-
chef Erich Honecker am


  1. Januar. Niemand
    hätte das Gegenteil
    behauptet. „Als würde
    der Himmel auf die Erder Himmel auf die Erder Himmel auf die Er--
    de fallen“, erzählt mein
    Vater Toralf (Jahrgang
    1964). Er kellnert in einer
    staatlichen HO-Gast-
    stätte, meine Mutter
    Viola (Jahrgang 1967)
    kocht dort.
    Am 25. Februar 1989
    wacht meine Mutter früh
    auf: Die Fruchtblase ist
    geplatzt! Um 12:30 Uhr
    komme ich zur Welt –
    2700 Gramm, 48 Zenti-
    meter. Eine Woche lang


bleiben wir im
Krankenhaus,
so ist es Vor-
schrift. Mein
Vater darf uns
zweimal für je
eine Stunde be-

Die DDR
zahlt für das zahlt für das
Kinderkriegen: Kinderkriegen:
Für Heiratswil-
lige gibt es eilige gibt es ei-

DAS


WENDE-


BABY


DAS


WENDE-


Von BERND PETERS

Berlin – Hat der Tatort
hier das richtige Timing?hier das richtige Timing?
Zum 30-jährigen Jubilä-
um des Mauerfalls zeigt
die ARD am Sonntag
den neuen Berliner Kri-
mi „Das Leben nach dem
Tod“. Ein Knackpunkt in
der Geschichte rund um
einen Ex-Richter
aus Ost-Deutsch-
land: die Todes-
strafe in der DDR.
Muss das an
diesem Wo-
chenende wirk-
lich sein? To-
bias Hollitzer
(53, kl. Foto), DDR-Bür-
gerrechtler und jetzt
Leiter der Stasi-GedenkLeiter der Stasi-GedenkLeiter der Stasi-Gedenk--
stätte in Leipzig, sieht das
kritisch.
Warum? „Ich finde die-
se Schilderung hochpro-
blematisch. Ausgerech-
net an einem solchen Tag
einen derart fiktionalen
Quatsch zu erzählen, ist
eine vertane Chance.“
Was er meint: In dem
Film sagt Kommissar Ka-
row (Mark Waschke, 47)
während eines Verhörs
mit dem Richter. „Erich
Honecker persönlich hat
handschriftlich an den
Rand Ihres Urteils etwas
hingekritzelt, was umge-
wandelt. Von Todesstrafe

in lebenslänglich.“ Sug-
geriert wird, dass Staats-
oberhaupt Honecker die
Begnadigung eines zum
Tode verurteilten Mör-
ders abgesegnet hat.
Hollitzer: „Es hat keine Hollitzer: „Es hat keine
direkte Begnadigung eidirekte Begnadigung ei-
nes zum Tode Verurteilten
durch die SED-Führung durch die SED-Führung
gegeben.gegeben. Der einzige
bisher bekannte
Fall ist der, dass
Honecker 1985
auf einer Vorla-
ge ,Der Mann ist
krank‘ schrieb.
Das ist aber kei-
ne direkte Begna-
digung.“ Und wei-
ter: „So eine abstruse
Darstellung verharmlost
die Leiden der wahren
Opfer.“
In der DDR wurden von
1960 bis 1981 rund 250
Menschen, darunter viele Menschen, darunter viele
politische „Verräter“, zum politische „Verräter“, zum
Tod verurteilt. Bis 1968
wurde die Strafe per Guil-
lotine vollstreckt, danach
per Genickschuss.
Was sagt die ARD?
Justus Demmer, Spre-
cher des zuständigen
RBB, zu BILD: „Der Tatort
ist ein fiktionales Format
und hat inhaltliche und
dramaturgische Frei-
heiten. Eine dokumen-
tarische Verpflichtung
gibt es nicht.“

ICH


Fotos: MICHAEL HÜBNER, PRIVAT

Fotos

: MARCUS GLAHN/RBB, ANIKA DOLLMEYER: MARCUS GLAHN/RBB, ANIKA DOLLMEYER

DDR-Bürgerrechtler kritisiert Tatort


Der Tatort-Fall: Ein alter
Mann wird tot aufgefunden.
Ein ehemaliger DDR-Richter
(gespielt von Otto Mellies,
88) hatte ihn vor Jahrzehn-
ten zum Tode verurteilt.
Der Mann blieb aber
am Leben – weil
Erich Honecker
(1912–1994)
ihn begnadigt
hatte ...

,


„Diese Darstellung


verharmlost die Leiden


der wahren Opfer“


Erinnerung an eine Zeit,


die ich nicht kenne


Schon immer ein Papa-Kind:
Christin Wahl lebte nach
der Trennung ihrer Eltern bei ihrem Vater

Nie ohne den gelben Teddy!
Bei jedem Spaziergang
musste das Lieblings-
stofftier dabei sein

BILD-Reporterin
Christin Wahl (30)
wurde in der DDR
geboren – und war
neun Monate alt,
als die Mauer fiel

Meret
Becker (l.)
und Mark
Waschke
(M.) im
neuen
Tatort

Schwarz auf weiß
und mit amtlichem
Stempel: Die
Urkunde dokumentiert
die Geburt als
DDR-Bürgerin

Bei Mama auf dem Arm:
Als Wahl drei Monate alt war, musste ihre Mutter viel Geduld
haben – das „Bäuerchen“ klappte nicht immer sofort ...

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