Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1

Zeitenwende


14 * Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019 ·························································································································································································································································································


Frau,ostdeutsch,unsentimental


DieehemaligenDDR-BürgernehmenAngelaMerkelnichtalsAnwältinihrerInteressenwahr–unddaswillsieauchgarnichtsein


VonHolger Schmale

E


inedergroßenDebattenin
diesem Jahr geht um die
Frage,warum vieleMen-
schen imOsten Deutsch-
lands sich immer nochvomWesten
überrumpelt, bevormundet und ge-
gängeltfühlen.
Wiekann das sein, da das Land
seit 14 Jahren voneiner ostdeut-
schenKanzlerin regiertwirdundzu-
dem fünfJahrelang einen ostdeut-
schenBundespräsidentenhatte?Wir
haben untersucht, wie intensiv An-
gelaMerkelihr eHerkunftundüber-
haupt Fragen Ostdeutschlands the-
matisierthat,undwiedasindenMe-
dien aufgenommen worden ist.Das
überraschendeErgebnis: die publi-
zistischeResonanz ist kleiner,als
ihreAktivitätenvermutenlassen.
DabeilassensichamUmfangder
Beschäftigunggutdieverschiedenen
Phasen ihrer Kanzlerschaft nach-
zeichnen. Im Jahr ihrer erstenWahl
zur Regierungschefin, 2005, ist ihre
Herkunft ein großes Thema.Zum


ersten Malerhält die Bundesrepu-
blik eineKanzlerin aus der 15Jahre
zuvoruntergegangenDDR,daswird
in allen Medien ausführlich behan-
delt –neben derTatsache,dass sie
auchdieersteFrauanderSpitzeei-
nerBundesregierungist.
Es sind besonderehistorische
Umstände,die zu diesemErgebnis
geführthaben. Diewestdeutsche
Führungsspitzeder CDU ein-
schließlich ihres ewigenVorsitzen-
den undKanzlers Helmut Kohl ist
um die Jahrtausendwende in einen
Skandal um Schwarzgeldkonten
und dubioseSpenden verwickelt.
AngelaMerkelistdaseinzigemitSi-
cherheit unbelasteteMitglied der
Parteiführung.
EsisteinerdersehrseltenenFälle
in der Geschichte dervereinigten
Bundesrepublik, dass dieHerkunft
ausdemOstenjemandemzumVor-
teilwird.
DochAngelaMerkelstößtindem
rheinisch-katholisch geprägten
CDU-MilieuauchaufgrößteVorbe-
halte: Frau, Protestantin,Ostdeut-

sche,daswir dnichtgutgehen,sagen
viele.Sie zieht daraus in den ersten
Jahren vorallem eineKonsequenz.
Siewirdzue iner Frau ohneHer-
kunft,zueinerideellenGesamtdeut-
schen,diezudemihrFrauseininHo-
senanzügen verschwinden lässt.
Dementsprechendspielendieseihre
Eigenschaften in der medialen
Wahrnehmung jener Jahrekaum
eineRolle.
Dasändertsicherstab2010,nach
der Wiederwahl zurKanzlerin, als
Angela Merkel sich zunehmend si-
cherinihremAmtfühltundvonei-
ner breitenSympathie im Land ge-
tragenwird.ImZusammenhangmit
den 20.JahrestagenvonMauerfall
und Einheit thematisiertsie nun
häufiger ostdeutscheFragen, zu de-
nen sie aus eigener Anschauung
mehrbeizutragenhatalsdiemeisten
anderenBundespolitiker.Die me-
diale Resonanz aber bleibt über-
schaubar.ImWahljahr 2013 wird
plötzlich dieFrage thematisiert, ob
sieinderstaatlichenDDR-Jugendor-
ganisationFDJnichtdocheinewich-

tigereFunktion als bislang bekannt
hatte.SiebesuchtmitihremMannin
BerlineineVorführung von„DieLe-
gende vonPaul undPaul“, der eine
ArtKultfilminderDDRwarunder-
klärtihnzuihremLieblingsfilm.An-
gela Merkel und derOsten, das ge-
hörtnun für jeden sichtbar zusam-
men,siehatalsodocheineHerkunft
undeineGeschichte.
2014jährtsichder Mauerfallzum


  1. Mal, zur gleichenZeit bekommt
    diefremdenfeindlichePegidaimmer
    mehr Zulauf, vorallem in Dresden.
    Inihrer SilvesteransprachegehtMer-
    keldirektdaraufein.DieInitiatoren
    dieserDemonstrationenriefenzwar
    „Wir sind dasVolk“ wie in derEnd-
    zeit der DDR, sagt sie.Tatsächlich
    aber grenzten sieMenschen wegen
    ihrer Hautfarbe oderReligion aus.
    „FolgenSiedenen nicht, die dazu
    aufrufen!“,warntdieKanzlerin,und
    meint vorallem ihr eostdeutschen
    Landsleute.
    2015 und 2016 sind dieJahreder
    sogenannten Flüchtlingskrise,sie
    überschattet alle anderen Themen


und so sinkt auchMerkels öffentli-
che Beschäftigung mitOstdeutsch-
land auf einenTiefstand.Dasgilt
aberinnochgrößeremMaßefürdie
Medien, sieregistrieren nurwenig
vondem,wasdieKanzlerindazuzu
sagen hat.Dasändertsich erst wie-
der in diesemJahr,indem die an
Wahlergebnissensodeutlichabzule-
sende schlechteStimmung inOst-
deutschland zum großen gesamt-
deutschenThemawird.
Heute ist vollkommen klar,dass
die Ostdeutschen dieKanzlerin aus
derDDRnichtalsAnwältinihrerIn-
teressen wahrnehmen.Dabei kann
sie wie wenige dieStimmungslage
im Osten erklären: „Grundsätzlich
gibtesbeimBlickaufdieDDReines,
was vieleWestdeutsche so schwer
verstehen:dassesauchineinerDik-
tatur gelungenes Leben geben
konnte.Dass wir alsoFreunde und
Familienhatten,mitdenenwirtrotz
des Staates Geburtstage undWeih-
nachten feierten oder Traurigkeit
teilten,natürlichimmerineinerge-
wissenWachsamkeitvordem Staat.

(...)Weildiese Seiteunserespersön-
lichenLebensinderDDRvonvielen
Westdeutschen nicht wahrgenom-
men oder sogar ignoriertwird, ent-
steht in derReaktion mancherOst-
deutscher heute darauf mitunter
eine Ar tRomanti sierung, nach dem
Motto: „Unser Leben in der DDR
kann uns niemand nehmen“, sagt
sie in einemInterview im neuen
Spiegel.
Und:„Inzwischen bin ich seit 14
Jahren dieBundeskanzlerinderBun-
desrepublikDeutsc hland und habe
damit allenMenschen inDeutsc h-
land zu dienen.DieAnnahme,ich
solltemichvornehmlichumdieAn-
liegen derOstdeutschen kümmern,
ist also falsch–aber wenn man ihr
folgt, führtsie natürlich zuEnttäu-
schungen.“Vielleichthättesiehäufi-
gersooffensprechensollen.

Holger Schmale
hat denFilm überPaul und
Paula auchgern gesehen.

AngelaMerkelundderOsten


Datenquelle: Bundeskanzlerin.de


AngelaMerkelwurdeinHamburggebo-
ren,wuchsaberinderDDRauf.Welche
BedeutungspieltdieTatsache,dassOst-
deutschlandihreHeimatistzumBei-
spielinihrenReden,InterviewsundEr-
klärungen.Daswolltenwirwissen.Auf
derWebseiteBundeskannzlerin.dewer-
denRedender Bundeskanzlerin,Inter-
views,Artikelübersie,Presseerklärun-

ZeitgleichdurchsuchteauchdieDeutschePresseagentur
ihreDatenbankennachAngelaMerkelseitBeginnihrer
AmtszeitalsKanzlerin.Indenmehrals 150000 Erwäh-
nungenimBasisdienstundüber 50000 Erwähnungenin
ZusammenfassungenundKorrespondenten-Berichten
(diefürdieseUntersuchungzugrundeliegendeStich-
probe ,berei nigtum ZufälleundDoppelungennochim-
mergut50000)wurdenachdenSchlagwörtern„DDR“
und„ostdeutsch“gesucht.

Datenquelle:dpa


gen,PressekonferenzenundRegie-
rungserklärungenzurVerfügungge-
stellt.Seit2010 werdensie vollständig
erfasst. ZusammenmitdemInstitutfür
Spielanalyse(spielanalyse.org)haben
wiralle7139Veröffentlichungenaufei-
nigeSchlagwörterhinuntersuchtund
habendabei672Erwähnungenseit
2010gefunden.

VISUALDRIVEN.BY

2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

(^1112)
7 9 7
16
55
88
ZumVergleich:
Diegestrichelte Linie zeigt den Anteil
an Erwähnungen im Basisdienst der dpa,
in denen Ostdeutschland thematisiertwird.
Das niedrigeNiveau beider Zahlen zeigt,
dass die Berichterstattung über die Kanzlerin
Ostdeutschland seltener thematisiertals sie
selbst.
Artikel
über Angela Merkel, die auf Bundeskanzlerin.de
veröffentlichwurden.DergraueBereichrepräsentiert
alle Artikel (100 %). Die blauen Säulen zeigen den
Anteil an Artikeln, in denen Ostdeutschland
thematisiertwurde.
33
%
32
27
35 35
(^2321)
27
22
40
Regierungserklärungen
Presssemitteilungen
Artikel
Reden
Interviews
Pressekonferenzen
Treffer auf Bundeskanzlerin.de mit Bezug zu Ostdeutschland
Zwischen 2010 und 2019 enthielten 672 Veröffentlichungen ein für das Thema Ostdeutschland relevantes Schlagwort
Anzahl der Merkel-Erwähnungen im dpa-Basisdienst mit Bezug zu Ostdeutschland
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019
303
192
137
182
204 203
122
144
129
243
180
129
197
170
185
11,4%5,3%3,9%5,2%4,6%4,9%3,0%4,1%3,5%8,2%5,7%4,1%5,8%5,9%10,8 %
2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019
1 001010001
3115
7697
1
7
13 13
10
13
19
15 11
7
11
5
11
7
44441001
29 30
22
28 28 27
16
26
14
29
29
13 12
30
23
28 29
21
14
23
Reden
vonAngela Merkel als Bundeskanzlerin. Dergraue Bereich
representiertalle Reden(100%).DierotenSäulenzeigen
den Anteil an Reden, in denen Merkel Ostdeutschland
thematisierthat.
Die Flüchtlingskrisen-Delle
2015 kam es zum Höhepunkt in der Flüchtlingskrise.
Deutlich zu erkennen: Die Kanzlerin thematisiertin
der Zeit danach den Osten Deutschlands seltener.
Im laufenden Jahr allerdingskehrtsie zum Thema
zurück. Im Jubiläumsjahr des Mauerfalls ist das auch
zu erwartengewesen. Darüber hinaus aber ist Ost-
deutschland auch seit den letztenWahlen wieder
mehr in den Fokusgerückt.
Anteil an allen Merkel-Erwähnungen in Prozent
53
54
66
103
324
213
160
1
Liste der Schlagwörter
Sachsen-Anhalt
Thüringen
Ostdeutschland
Mecklenburg-Vorpommern
DDR
Sachsen
Brandenburg
Neue Bundesländer

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