Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1
Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019–Seite 15*
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Zeitenwende

Z


eichenwende“warderTitel
einer kleinenAusstellung,
dieim Herbst1990gemein-
sam vonost- und west-
deutschenKünstlernundKulturwis-
senschaftlernind er Galerie Trep-
penhaus inBerlin-Steglitz präsen-
tiertwurde .Der Name der Galerie
warProgramm,siebefandsichinei-
nem ehemaligenTreppenaufgang,
der zu einer stillgelegtenBushalte-
stelle an derStadtautobahn führte.
Gezeigt wurden „Ansichten anony-
mer Gestaltung imStraßenbildvon
Steglitz undTeltow“. Eine Ar tSys-
temvergleich,diebeidenOrtewaren
nur wenige Kilometervoneinander
entfernt, aber lange durch die
Grenzegetrennt.
DieFotos imKatalog stammen
vonMichael Mosolff, sie zeigen
Mülltonnen,Poller,Hinweisschilder
und Bushalte-Häuschen inOstund
West.Esisteineherzurückhaltender
Blick auf die sozialeWirklichkeit je-
ner Zeit. Ausheutiger Sicht über-
rascht dievorsichtige Annäherung,
die Ähnlichkeiten wurden stärker
betont als dieUnterschiede.Zwei
Gesellschaften,dielangePhasendes
sozialenAufstiegshintersichhatten,
sahen sich plötzlich miteinander
konfrontiertundlegteningegensei-
tiger Neugier offen,wersie waren
undwassiehatten.
DieKünstlerrichtetenihrenBlick
aufDinge,diedenAlltagstrukturie-
ren. Diedahinterstehenden Mächte


verk örpertenOrdnungundRegulie-
rung, Ostund West warenFunkti-
onssysteme,die mehr oderweniger
denselbenPrinzipien folgten.Dem
Umbruch,dersichgeradeanbahnte,
wohnte man staunend und abwar-
tend bei, wie ein kurzesProsastück
signalisiert, das der damals 35Jahre
alte Schriftsteller Jens Sparschuh
zum Katalog beigesteuerthat:„Was
bei Erdarbeiten vorallem –und
mehrnochalsGehwegundStraßen-
stück –untergraben wird: dieIllu-
sion vonDauer undSicherheit.Wir
leben auf einer dunklen Kruste.
NochhältunsdasStraßennetz.Aber
die Straße,auf der wir gehen, hat
doppeltenBoden.“

Die beteiligten Künstlerhaben sich
später aus denAugen verloren, je
weitersichdienunzusammengehö-
rende GesellschaftvomDatum der
Grenzöffnung entfernte,desto stär-
ker wurden Ost-West-Unterschei-
dungenmarkiert.Daranistnichtszu
bedauern, dieProz esse derIdenti-
tätsbildungverlaufen überHervor-
hebung undVernachlässigung.Und
nicht selten auch über Missver-
ständnisse.Eines besteht in der An-
nahme,dass es reine,abgeschlos-
seneOst-und West-I dentitätengebe.
Diegibt es natürlich nicht. Eine
wechselseitige Beeinflussung war
stets gegenwärtig, zu keinemZeit-
punktwarderEiserneVorhangdicht.

Besonders deutlich wirddie kul-
turelle DurchlässigkeitinJensBiskys
monumentaler Berlin-Chronik. Er
betrachtet die nach demMauerbau
entstandenenHalbstädte nicht als
getrennte politischeSysteme,son-
dernini hren Wechselwirkungen.
„Die zweiTürme“ heißt einKapitel,
wie in der apokalyptischenTolkien-
Mythologie „DerHerr der Ringe“,
undBiskyschildertdarindiesymbo-
lisch aufgeladene Bedeutung des
BerlinerFernsehturmsimOstenund
denbaldzumfinanzpolitischenDe-
bakel geratenenBaudes Steglitzer
Kreisels .Die städtebaulichenFehl-
entwicklungen schienen miteinan-
der konkurrieren zu wollen, und in
den70er-Jahrenbildetensichinbei-
denStadthälftenkulturelleRückzug-
milieus.
„Inbeiden Teilen der Stadt“,
schreibt Bisky,„unternahmen die
Menschen einiges,die politischen
Zumutungen, denen sie alsBerliner
ausgesetzt waren, zuverg essen. Al-
kohol, Musik, Sport, Drogen, Hob-
bys, Liebe,Gärtnern, Lesen,Malen
Spazierengehen,Tanzen –das Ver-
langen,inRuhegelassenzuwerden,
gehörte immer dazu, einWunsch
nachNormalität,Idylle,Wandel.“
In den großen zivilgesellschaftli-
chenProz essenwarenOstundWest
einanderähnlicheralssieahnten.Im
Gespräch mit derBerliner Zeitung
hatderKölnerSchriftstellerMaxAn-
nas,derdie HandlungseinerKrimi-

nalromane in die DDR zurückver-
legt, kürzlich sein bereitsvor
entflammtesInteresse an der DDR
dargelegt.In der Gemeinschaft mit
FreundenimOstenkonntemandie
Entdeckung machen, dass junge
MenschenihremStaatgegenüberoft
gleichermaßen kritisch eingestellt
waren.Während man imOsten den
kontrollfixiertenApparat ablehnte,
befürchtete man imWesten dieEr-
richtungeines„Atomstaats“(Robert
Jungk) als totalitäresGebilde.Das
Gefühl einer implizitenStaatsfeind-
schaftjedenfallsgehörtezuremotio-
nalen Grundausstattung vieler jun-
ger Erwachsener auf beidenSeiten
derMauer.

Natürlichwarnicht alles gleich,und
das Verständnis füreinander sowie
das Wissen voneinander war be-
schränkt.Noch heute kann man er-
stauntfeststellen,dassmanmanche
popkulturellePrägungen teilt, wäh-
rend man andereganz für sich hat.
Was30J ahrenachdem9.November
1989mehrdennjeaussteht,isteine
Sozialgeschichte der wechselseiti-
genDurchdringung.
In der Bundesrepublik hat es bis
in die 90er-Jahregedauert, ehe tief
verankerte Gefühle derFeindselig-
keit linkerGruppierungen gegen-
über dem eigenenStaat versöhnt
werden konnten.DerlangeWegzur
Anerkennung desRechtsstaats und

seiner Institutionen mündete 1998
in eine rot-grüne Regierung, in der
nicht wenige ministrabel wurden,
die die Bundesrepublik zuvor bitter
bekämpft hatten. Für die in Ost-
deutschlandaufgewachsenenGene-
rationen blieb eine vergleichbare
Versöhnung aus,weil es das mäch-
tige Gegenüber nicht mehr gab.So
gesehen bezeichnet es eine Leer-
stelle im sozialenWandel, dass die
Institutionen nicht erkämpft und
angeeignet, sondernübernommen
odergaraufgezwungenwurden.
ZumTeilgründetgenauhierindie
vielfach artikulierteWahrnehmung,
zurückgesetzt und benachteiligt zu
sein.Undesh atetwaszubedeuten,
wenn selbst eine inOstund West
gleichermaßen populäreSportlerin
wieKatarina Wittineinemaktuellen
Interview sagt: „Wir Ostdeutschen
werdeneinfachwegignoriert.“Esist
nichtohneIronie,wenneinederwe-
nigen gesamtdeutschenProminen-
ten dasGefühl der empfundenen
Ignoranz meint, sprachlich noch
verstärken zu müssen.Wenn man
sich aber anschaut, auf was sie sich
bezieht, kann man ihr nur mit offe-
nem Mund beipflichten. In einer
großen vonThomasGottschalkmo-
derierten ZDF-Gala über die 80er-
Jahrewar Witt vermutlich eingela-
den,die Ost-VergangenheitdesJahr-
zehnts vordem Mauerfall zu reprä-
sentieren. Ostdeutsches
Lebensgefühl und die dazugehörige

Musikaber kamen nichtvor. Dabei
hätte man mühelos anschauliche
Hinweise darauf finden können,
dass etwa die ausGroßbritannien
übernommene Punk-Kultur ganz
ähnlicheBedürfnisse einerAbkehr
vomherrschendenBiedersinn bei-
der Gesellschaften zum Ausdruck
brachte .Die Band Rammstein, die
heute alsInbegriff eines deutschen
Kulturexports gilt, hatte ihrenUr-
sprungim Ost-Punk.
Unddochwäreesa ngebracht,
das Narrativ vomBürgerzweiter
Klasse nicht länger zu bedienen.In
der Formel vonden gesellschaftlich
Abgehängten hat sich einTonder
Verachtu ngeingenistet,derauchals
Selbststigmatisierungmitaufkläreri-
scher Absicht das darin enthaltene
soziale Gift nicht zu neutralisieren
vermag.DiePolitolog enMarinaund
Herfri edMünklerhabenvorgeschla-
gen, insgesamt auf daszerstöreri-
sche Narrativ vomsozialen Abstieg
zu verzichten. Es komme vielmehr
darauf an, für die zivilgesellschaftli-
chenIdealeeinzutreten,dieeineGe-
sellschaftzusammenhalten.Zwang-
haft fortgesetzteUnterscheidungen
vonOstun dWestgehörenlangfristig
nichtdazu.

HarryNutt
war 1977 zum ersten Mal
in Ost- undWest-Berlin.

Familienautos im Systemvergleich. Links inWest-Berlin, rechts im BezirkLeipzig IMAGO IMAGES[M]; IMAGO IMAGES/GERHARD LEBER


VonHarryNutt


EineGeschichtederÄhnlichkeiten


Was30J ahrenach1989mehrdennjefehlt,isteinVerständniswechselseitigerDurchdringung


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