Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1

Zeitenwende


16 Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019 ·························································································································································································································································································


M


ichel Garand wider-
spricht sofort.DieRe-
gion umFrankfurtan
der Oder als struktur-
schwach zu bezeichnen, das passt
ihm nicht.„Wir haben hier doch al-
les,was wir brauchen“, sagt er.Ga-
rand ist vor24J ahren ausQuébec,
Kanada, nachDeutschland gekom-
men, hat jahrelang imRathaus am
Marktplatz gearbeitet und sichvor
einigenMonaten selbstständig ge-
macht. Er will die Öko-Landwirt-
schaft in derRegion stärken,Acker-
flächen für Landwirte erschließen
und denBauernhelfen, ihrePro-
duktebesserzuvermarkten. Ubuntu
EcoCenterheißtdieGesellschaft,die
ermitzweiFreundengegründethat.


Garand sitzt an diesemVormittagim
erstenStockvonBlokO,demCowor-
king-Space derSparda-BankBerlin
in Frankfurtand er Oder.Eri st 59
Jahrealt, seineHaaresind leicht er-
graut,eristeinbescheidenerFamili-
envater ,inJ eans und blaurotem
Pullovergekleidet.Er ahnt nicht,
dassereinerdieserMenschenist,für
die diesesHaus geschaffen wurde.
HiersollenGründergefördert,Träu-
merermutigtundUnternehmerun-
terstütztwerden bei demVersuch,
dieWelt ein bisschen besser zu ma-
chen.Siedürftengerneetwasjünger
seinals Garand,aberamEndezählt
dochdieIdee.
DasKonzept des Coworkings
kommtausKalifornien,dort,woseit
Jahren mitFreude alle klassischen
Vorstellungen der Arbeitswelt in
Trümmer gelegt werden: In San
Francisco war ein jungerMann bei
einem Start-up angestellt, arbeitete
im Bür oans einem Schreibtisch,
mussteaberimmerwiederauchun-
terwegsandenComputer.Oftfehlte
dieNetzverbindungodereinStrom-
anschluss.Sog ingeslos.
In Deutschland gilt dasSt.Ober-
holz als Keimzelle kollaborativerZu-
sammenarbeit, dieGründer vonRo-
cket undZalando entwickelten in
dem Berliner Café am Rosenthalter
Platz ihr eGeschäftsideen, die sie zu
sehr wohlhabenden Menschen
machten,auchSoundcloud,diewelt-
weit vonden größtenPopstars ge-
nutzte App, wurde hier erfunden.
AnsgarOberholzheißtderMann,der
das Café eröffnete.Umd as Cowor-
king-Konzept kümmertsich Tobias
KremkaualsManager.Ers tecktauch
hinter derCoworking-Idee inFrank-
furt, weil er herausfinden wollte,ob
die Geschäftsideevonflexiblen Ar-
beitsplätzen nicht auch anderswo
funktioniert.DaswarvoreinemJahr.
DieSparda-BankwarbeiderSu-
che nach einem neuen Filialge-
bäude auf das ehemaligeKinder-
kaufhaus gestoßen, ein zweistöcki-
gerauffälligerBaumitgroßenGlas-


scheiben. Früher sind hier
Kinderwagen und nach derWende
Elektronikartikelverk auft worden,
dann stand dasGebäude eineZeit
lang leer,irgendwann kam die
Sparda-Bank ins Gespräch. Aber
nur für Bankgeschäfte erschien das
Gebäude zu groß, so entstand die
Ideeder Kooperation.
Nicht viel später entdeckteMi-
chelGaranddenLadenfürsich.Hier
kannerinRuhearbeiten,einenDru-
cker nutzen und das angeblich
schnellsteInternet derStadt genie-
ßen. Mehr brauchteGarand nicht,
umsein Projektzustarten.Ermusste
auch nicht nachBerlin umziehen
odersicheinenanderenStandortsu-
chenfürseinProjekt.
Auch deshalb gilt der gebürtige
Kanadier als Vorbild. Denn der
StrukturwandelnachderWendehat
auchdieStadtim GrenzgebietzuPo-
lenmassivgetroffen,kurznachdem
Mauerfall lebten mehr als 87000
MenscheninderStadt,im vergange-
nen Jahr waren es ungefähr 30000
weniger.Viele Fachkräfte sind nach
derWendederArbeitgefolgt,alsihre
vertrauten Arbeitsplätzeabgebaut
und die Werkegeschlossen wurden.
ZurzeitseiderArbeitsmarktinguter
Verfassung, teilte neulich die Agen-
turfürArbeitmit,seit1990gabesin
Frankfurtnicht mehr sowenige Ar-
beitslose.AllerdingsgibtesersteAn-
zeichen, dass dieDynamik sich ab-
schwäche,heißtes.
Für Michel Garand war der Orts-
wechselnieeinThema,nachdemer
seine Heimat verlassen hatte,lebte
er ein Jahr in Münster inWestfalen,
lernte dortDeutsch und siedelte
dann nachFrankfurtand er Oder
um.Warumers eitdemgebliebenist?
„Die Nähe zuBerlin gefällt mir,die
Nähe zur polnischenGrenzeauch.
Zwischen Russland und Amerika,
das hier ist doch dieMitte vonal-
lem“,sagterundlächelt.
Undwerweiß,vielleichtistseine
Geschäftsidee,die ökologische
LandwirtschaftinderRegionstärker
zu etablieren, den Landwirten zu
helfen, Ackerflächen zu mieten und
sie bei derVermarktung zu unter-
stützen,einegroßeSachein Zukunft,
auch wenn es vielleicht jetzt noch
nicht so klingt.Werkann schon sa-
gen, wie dieDigitalisierung dieBe-
dürfnisse derMenschen inregiona-
len Gegenden verändernwird? Und
damitauchdasArbeitsleben.Insei-
nem Bestseller „Realitätsschock“
machtSaschaLobo,derauchschon
viele Stunden im Berliner St.Ober-
holzverbrachthat,deutlich,dasswir
vieleTrendsundEntwicklungender
nahen undweiteren Zukunft nicht
erahnen können und deshalb auch
niemandsagenkann,wiesichdieAr-
beitsweltverändernwird.
EinMann, der sich ebenfalls in-
tensivmitderFragebeschäftigt,wie

sichin ZukunftGeldverdienenlässt,
ist Tobias JacobBerten. Er hat eine
dieser modernen Berufsbezeich-
nungen, ist der LeiterCorporate In-
novation Management, soll also da-
fürsorgen,dassdieBankmehrbietet
als Geld und Zinsen. Er undsein
Team hatten dieIdee,Coworking in
einer Bank zu ermöglichen.Ihnen
ging es darum, jungenMenschen,
eineChancezubieten,ihreZukunft
selbstzugestalten.UnddasvorOrt.
Undsog anz nebenbei wollte das
Geldinstitut natürlich neue,jungen
Kunden gewinnen, denn auch die
Bankhatindenverg angenenJahren
unter der Landflucht gelitten, die
Kundschaftistoftüber60Jahrealt.
Diemeist grauhaarigen Ehe-
paare, die Rentner undStammkun-
denziehenandiesemVormittagrou-
tiniertihreKontoauszüge aus den
Automaten, setzen sich an einen

Tisch, prüfen, ob alles stimmt.Die
große Sprachlosigkeit zwischen der
JugendunddenSeniorenindendi-
gitalen Zeiten ist auch im ehemali-
gen Kinderkaufhaus zu sehen, in
dem dieBankautomaten nichtweit
entferntsindvommodernenTresen
unddenbequemenSitzmöbeln.Ge-
spräche zwischen denStammkun-
denundderLaptop-Generationsind
seltenzubeobachten.Dassdajunge
MenschenbarfußoderinBegleitung
ihres Hundes vorihren Laptops sit-
zen,fürdieUnibüffelnoderdieZu-
kunftplanen,dasscheintsienichtzu
interessieren.Vielleichthabeneinige
vonden Älteren auch resigniert,
glauben nicht mehr an dieVerspre-
chen des wirtschaftlichen Auf-
schwungs in derRegion.Wasist ih-
nennichtallesversprochenworden
nach demEnde der DDR?Undwas
davonistwahrgeworden?

ImBereichdesinnovativenArbei-
tens sollten nach derJahrtausend-
wendein Frankfurt–zuD DR-Zeiten
einer der wichtigstenStandorte der
Mikroelektronik–ein 1,3 Milliarden
Euro teures Chipwerk gebaut wer-
denund1300neuenJobsentstehen.
Finanziertvom amerikanischen
Konzer nIntel und arabischen
Scheichs.Doch der ehrgeizigePlan
der Landesregierung unter dem
SPD-Ministerpräsidenten Matthias
Platzeck scheiterte,weil der Bund
nicht für den Milliardenkredit
bürgte .DasProjekt„Commun icant“
wurdenierealisiert,derRohbauder
Halle stand, und die 268Millionen
Euro,diedasLandBrandenburg,die
OderstadtunddieInvestoren inve s-
tierthatten,warenweg.IndenRoh-
bau zogdann eineFirmafür Solar-
zellen ein, die insolvent ging, und
auchderNachfolgergingAnfangdes
Jahrespl eite.
An die altenZeiten derVollbe-
schäftigungzuDDR-Zeitenerinnern
immerhin die altenStraßenbahnen,
die noch in derTschec hoslowakei
gebaut wurden und quietschend an
der HaltestelleMagistrale vordem
Coworking-Gebäude bremsen. Die
nichtweitentfernteEuropa-Univer-
sität hat übrigens denRuf, beson-
ders vieleGründungen zu ermögli-
chen. Nurziehen dieStudente nmit
ihren Ideen oft schnellweg, weil ih-
nendie Infrastrukturfehlt.Auchdes-
halb wir dder Blok Ovon Politikern
und Wirtschaftsverbänden unter-
stützt, war der BürgermeisterRené
Wilke (Linke) mit seinen Leuten
schonhierundschicktdieIndustrie-
undHandelskammerihreMitglieder
indas Gebäud e,umIdeenundKon-
taktezusammeln.
EinKaffeeumdieseZeitwär eei-
gentlich auch nicht schlecht. Zu
teuer,heißt oft dieBegründung der
Rentner.Mehr als zweiEuro für ein
heißes Getränk ist auch ein stolzer
PreisinderStadt.Abervielleichtgibt
es auch eine andereErklärung: Tra-
dition.
Im Blok Owirdszenetypisch Es-
presso serviertund der Cappuccino
miteinemBlumen musterimMilch-
schaumverziert. Dabeihat derFil-
terkaffee im Osten Deutsc hlands
seineTradition,dennguterFilterkaf-
fee ist nicht inItalien oder Amerika
erfunden worden, sondernvon Me-
litta Benz Anfang desvergangenen
Jahrhu ndertsinDresden.Sieärgerte
sichüberdenKaffeesatzinderTasse,
experimentierte mit Löschpapier in
der Küche,irgendwann kam sie auf
den Papier filter.Das Unternehmen
Melitta gibt es noch heute.Auchso
eineErfolgsgeschichte,vondersiein
Frankfurtbestimmt heimlich träu-
men.
Tobias JacobBerten hat sich für
einen Espresso entschieden.Er hat
konkrete Ziele.Wer vonmoderner

Arbeitswelt spricht, der meint im-
mer auchVernetzung. Warumalso
nichtprüfen,obesfürdieBankstra-
tegischePartnergibt,mitdenensich
Kunden beeindrucken und gewin-
nenlassen?FürBertengibteseinen
zweiten Aspekt:dendes modernen
Genossenschaftsgedankens.Die
Sparda-Bankistkurznachder Wende
aus derReichsbahn-Sparkasse her-
vorg egangen.DieBahnerwolltenda-
malsbeiderGründungsichergehen,
dassihr Geldbesserangelegtistalszu
Hause.DasSolidaritätsprinzipgefällt
Berten noch heute.Erv erweist ganz
nebenbei auch darauf, dass die
Sparda-Bank das einzigeUnterneh-
men in Deutschland ist, dessenGe-
schäftsgebiet dieGrenzen der ehe-
malige DDR sind. Esgibt 85 Stand-
orte in den neuenBundesländern
undin Berlin.
Berten kann sich gutvorstellen,
dass seineBank in Zukunft mitEx-
pertenausdemBereichGesundheit
und Mobilität kooperiert, auch auf
dem Gebiet derregionalenGenos-
senschaftenwürdeergerneBrücken
bauen,inFilialenvielleichtHandels-
plätzeanbieten,damitdortdiePro-
dukte aus derNachbarschaft ver-
kauft werden könnten.Michel Ga-
randwürdeesbestimmtgutgefallen,
wenn auch die Landwirtschaft be-
rücksichtigtwürde.

Am Nachmittag sind die Plätzeneben
dem gebürtigenKanadier besetzt,
zwei StudentenlernenfürihreJura-
Prüfung und genießen die Möglich-
keit, anders als in derUni-Biblio-
thek, zu jederTages- undNachtzeit
arbeitenzukönnen.GudrunNören-
bergist Versicherungsvertreterin,
ihreFiliale wurde geschlossen, sie
könnte nachBerlin-Marzahn pen-
deln, entschloss sich aber,einen
Platz in Blok Ozum ieten, um ihre
Kunden direktvorOrt persönlich
treffen zu können.Undauchine i-
nemderBüroräume,woe ineZeitar-
beitsfirmasitzt,istdeutlichzusehen,
dass dieMitarbeiter die wichtigsten
AufgabennochvordemFeierabend
erledigenwollen.
Als es draußen zu dämmernbe-
ginnt,packtMichel GarandseineSa-
chen zusammen.SeineFrauhatan-
gerufen,siehatdieKinderschonab-
geholtundkönnteihnauchmitneh-
men. Garand nimmt das Angebot
gernean.EsgehtzurücknachHause,
einpaarMinutennur,dannisterin
der Kleinstadt Müllrose mit seinen
rund 4500 Einwohnern.Da,wod ie
Mittevonallemist,wieesGarandso
gernesagt.

Jörg Hunkehat denText im
Coworking-Space in Frank-
furtand er Od er geschrieben.

Großstadtgefühle inFrankfurtander Oder:Tobias Kremkau vom St. Oberholz aus Berlin hat dafür gesorgt, dass Coworking auch am Rande von Brandenburg möglich ist. SPARDA-BANK BERLIN, ROMAN WACHE


VonJörg Hunke


Modernes Design an historischem Ort:Früher wurde das Gebäude als Kaufhaus genutzt.

Inder


Mittevon


allem


DieDigitalisierungverändertdie


Arbeitsweltmassiv.InF rankfu rtan


derOderkönnenTräumer,Gründer


undMacherihreZukunftgestalten–


indenRäumeneinerBankfiliale

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