Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1

Zeitenwende


2 Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019 ·························································································································································································································································································


G


ünter Leoruft nicht zu-
rück,alsmanihnüberdie
„GesellschaftzurRechtli-
chen undHumanitären
Unterstützung“ um einInterview
bittet.EshandeltsichumeinenVer-
ein, in dem sich ehemalige DDR-
Bürger zusammengeschlossen ha-
ben. DerVerein hatverschiedene
Untergruppen, die Arbeitsgruppe
Grenzegehörtdazu, Leo ist ihrVor-
sitzender.Erh at das 34.Treffen der
GrenztruppeninBestenseemitorga-
nisiert. AufdiesemTreffenEndeOk-
tober ist er zu einemInterview be-
reit,setztsichaneinenTischander
Seite und beantwortetFragen. Zum
Anfang muss er dabei fast schreien,
gegen die Arbeiterkampflieder an-
schreien,dieausdenBoxenklingen:
„IchtrageeineFahne“,„DieInterna-
tionale“,„Venceremos“.


WiehabenSiedenMauerfallerlebt?
Am 9. November war ZK-Tagung
gewesen, und abends saßen wir
beimKommandeurErichWöllnerin
unserer Zentrale in Karlshorstzu-
sammenundwolltenAbendbrotes-
sen,alsimFernsehendiePressekon-
ferenzmitGünterSchabowskilief.


Wasgabeszuessen?
Normal.


Fleisch,Kartoffeln?
Nee,kaltePlatte,warjaabends.


Haben Siedie Pressekonferenz gese-
hen, weil Siewussten, dass da eine
neueReiseregelungverkündetwird?
Nein,wirdachten,dawirddieZK-
Tagung ausgewertet. Voneiner Rei-
seregelungwusstenwir nichts.Bis
Schabowskidarübersprach.


HabenSieindiesemMomentgeahnt,
dasseseineunruhigeNachtwird?
Nein,ersprachjavondenGrenz-
übergangsstellen,die haben wir als
Grenzergarnichtkontrolliert.


DasmachtedieStaatssicherheit?
Ja,die Passkontrolleinheit war
Staatssicherheit.Dietrugenzwardie
Grenzer-Uniformen, gehörten aber
nichtzuuns.WirwarenfürdieSiche-
rungderFlankenandenGrenzüber-
gangsstellenzuständigund dachten,
da kann nichts passieren. Ichfuhr
also nach Hause.Bis der Anruf von
OberstGeschkekam:Kommrein,da
tut sich was am CheckpointCharlie
und in der Bornholmer Straße.So
undsovieleLeutehier,soundsoviele
dort.WirhabendanneineFührungs-
gruppeamBrandenburgerToreinge-
setztundeinenunsererStellvertreter
hingeschickt,OberstHaase.


Siesindin Karlshorstgeblieben?
Einer musste führen, kamen
ständig neueMeldungenrein:Was
istlos? Wassollenwirmachen?Wir
wusstennichtsundhabenvonnie-
mandem Antworten bekommen.
Wirhaben unsereChefs bei den
Grenztruppen angerufen. Die
wussten auch nichts.Um0 .30 Uhr
wurde dann erhöhteGefechtsbe-
reitschaftausgelöst.


Warumgeradeum0.30Uhr?
An der Bornholmer kamen um
dieseZeitdochschonalledurch.Und
am BrandenburgerTorwar die Pan-
zermauertotalmitMenschenbesetzt.
Wirhaben versucht, das zu stoppen,
mit Durchsagen und einerWasser-
spritz e,aberkeinerhatreagiert.


Wasistdie Panzermauer?


Daswar die Stelle,wod ie Mauer
auspanzerfestemBetonbestandund
drei Meter breit war.Dak onnte ein
Trabi rüberfahren. Unseregrößte
Sorgewar:WaspassiertamB randen-
burger Tor?DawarenOffiziersschüler
im Einsatz, die das ersteMaland er
Grenzestanden,diewarendemdoch
gar nicht gewachsen. Wirhatten
Angst, dass sie dieNerven verlieren.
Undhaben beschlossen:Wirtreten
zurSeite.WirlassendieLeuterennen.
UndkeinSchusswaffengebrauch.

WiewarIhnendazumute?
Ichdachtenur:Esd arfnichtspas-
sieren. Kein Schuss darffallen. Wir
haben gesagt,wenn jetzt ein Schuss
fällt, kommt es zumBlutvergießen.
Daswar die richtige Taktik, es hat
funktioniert.

Wannsind Sieschlafengegangen?
Garnicht. Ichbin kur znach
Hause gefahren, hab mich umgezo-
gen, um fünfUhrmorgens wieder
rein, um denKommandeur abzulö-
sen. Aber im Laufe desVormittags
hatsichdieLageamBrandenburger
Torberuhigt. DieWest-BerlinerPoli-
zeihat es geschafft, dieMenschen
vonderMauerherunterzuholen.

DieWest-Berlinerhabengeholfen?
Diehatten ja auch Interesse
daran, dass es friedlich bleibt.Um
zehn Uhrkam der AnrufvomChef
der Grenztruppen, dass sich unser
Kommandeur um 14Uhrmit dem
West-Berliner Polizeipräsidenten
GeorgSchertztreffensoll.Dashatte
Egon Krenz vereinbart. Aber der
Kommandeur,Wöllner,hat sich
dazunichtinderLagegefühlt.

Warumnicht?
Derwar mental einfach kaputt
gewesen.DerChef derGrenztrup-
pen hat mich dann gefragt, kannst
du das machen.Ichhab Ja gesagt –
und dann Schertz um 14Uhram
CheckpointCharliegetroffen.

AufOst-oder West-BerlinerSeite?
AufDDR-SeiteinsoeinemBereit-
schaftsraum,Zimmerstraße.

Wiewardas Treffen?
Ichkannte den Schertz ja gar
nichtundhabmirvonunseren Auf-
klärer nerstmal Fotoszeigenlassen,
damit ichweiß, mit wemich es zu
tun habe.Schertz kam mit seinem
großen Panzer-Mercedes,ich mit
meinemDienst-Wartburg.Ichhatte
KaffeeundeinenKastenBierbereit-
stellenlassen.

WashabenSiegetrunken?
Bier.Wernesgrüner.Als Erstes
sagte Schertz, aber ich war doch mit
HerrnWöllner verabredet. Ichsagte,
Wöllnerkannnicht.Dannsindwirin
den Raum gegangen und ich habe
dem Polizeipräsidenten gedankt,

mich sehrruhig und dachte,jetzt
wirdallesbesser.

WiegingesweiterfürSie?
Wöllner ist in denRuhestand ge-
gangen, und am 1.5.1990 wurde ich
KommandeurdesGrenzkommandos
Mitte.Dann hieß es,ich werdevom
Bundesgrenzschutz übernommen
und soll alsStellvertreter denGrenz-
schutz Ostübernehmen. Peter-Mi-
chael Diestel warInnenminister,der
wollte michhaben.Aberdann stand
inder Zeitung,dassehemaligeAnge-
hörigederGrenztruppenmaßgeblich
verantwortlich sind für den Schieß-
befehl,daruntereinStabschef.

DamitwarenSiegemeint?
Ja.AbS eptember1990warichar-
beitslos.Das war ein Schock.Ich
dachte,ich brauchte mich gar nicht
bewerben.Wernimmt denn einen
ehemaligenDDR-Oberst!

SiehabeninderaltenWerner-Seelen-
binder-Halle einen Lebensmittel-
Marktaufgebaut,habeichgelesen.
Auftraggeber war ein Dortmun-
der,derwollteeinenehemaligenMi-
litär haben.Dasging nur ein halbes
Jahr,die Halle wurde abgerissen, ich
musstedenArbeiternsagen,dasssie
kein Geld mehr bekommen, dabei
gingesmirgenauwieihnen.Ichsollte
ein neues Objekt in derStorko wer
Straße suchen.Dann kam dieVorla-
dungvorGericht,erstwarennurSol-
daten angeklagt.Später wurde auch
gegenmicheinVerfahreneingeleitet.
Anfang 1997 habe ich die Anklage-
schrift bekommen.DerProze ss ging
im August los .Ich wurde angeklagt
wegenvierfachenTotschlags.

dassmitseinerHilfeam Brandenbur-
gerTorfür Sicherheit gesorgt wurde.
WissenSie, waserdagesagthat?„Wir
sind davon ausgegangen, dass die
DDRniemalsihrwichtigstesSymbol
friedlich übergibt.“Deshalb hätten
sie versucht, keineKonfrontationen
entstehenzulassen.Dannhaterge-
fragt, ob wir nicht eineDirektschal-
tungzwischenPolizei OstundPolizei
Westermöglichenkönnen.Ichsagte,

das ist nicht in meinemVerantwor-
tungsbereich, aber ich kümmere
mich.WirhabeneineStundegeredet
undeinsehrnettesGesprächgeführt.

Unddann?
Binich zur Dienststelle zurück
und habe den Polizeipräsidenten
angerufen,umdieDirektleitungzwi-
schenderPolizeizuklären.Daswar
um16 Uhr.Um17Uhrhatteichnoch
keine Antwort.Ichhabe wieder an-
gerufen,undumnullUhrtrafensich
ander Heinrich-Heine-StraßeNach-
richtentechnikervonuns und der
West-BerlinerSeite.Kurze Ze it spä-
ter stand dieVerbindung.Daswar
ein schöner Moment. Ichfühlte

Warumgeradevierfach?
Daswurde so zusammenge-
rechnet, ich war zweiJahrelang
Kommandeur eines Grenzregi-
ments gewesen, inRummelsburg
und Treptow, und als stellvertre-
tender Chef desGrenzkomman-
dos Mitte mitverantwortlich für
den Jahresbefehl.Dabei stand da
garnichtsvonderAnwendungder
Schusswaffedrin.

Hätten Sieverhindern können, dass
FlüchtlingeanderGrenzeerschossen
wurden?
Es gab einGesetz, das besagte,
dass ein unberechtigterGrenzüber-
gangals Straftatzubewertenist.Un-
sereAufgabe war es,Grenzdurch-
brüche zu verhindern. Unddas
letzte Mittel war die Schusswaffen-
gebrauchsanwendung.So sind un-
sereSoldateneingewiesenworden.
WaswarnochmaldieFrage?

Ob Siehätten verhindern können,
dassaufFlüchtlingegeschossenwird.
Diewollten doch nur das Land ver-
lassenundwarenkeineGefahr.
Siebegingeneine Straftat. Sie
müssenauchmalunsverstehen.Na-
türlich habe ich alles dran gesetzt,
dass kein Grenzverletzer in den
Grenzraum kam. Aber in Berlin war
der Grenzstreifen manchmal nur
zehnMeterbreit.Dasgingallessehr
schnell.Beieiner Verhandlunghat
der Richter einen Grenzer gefragt:
Washaben Siesich denn dabei ge-
dacht? DerGrenzer hat gesagt: Was
sollichdenndenken!Ichhabesoge-
handelt,wie ich ausgebildetwurde.
Anruf, Warnschuss,Schuss,mög-
lichstaufdieunterenExtremitäten.

WielauteteIhrUrteilvorGericht?
KommandeurWöllner hat fünf
Jahrebekommen,ich als Stabschef
drei Jahreund drei Monate,die an-
deren Stellvertreter drei Jahre. Wir
haben Widerspruch eingereicht bis
zum Europäischen Gerichtshof.
ÜberallsofortAblehnung.Am8.Fe-
bruar2000mussteichdieHaftstrafe
antreten,inBerlin-Hakenfelde.

Wiewardas?
Ichhatte eine sehr gute Sozialar-
beiterin, die hat mich sehr unter-
stützt.

HattenSieeineEinzelzelle?
Zuerst war es eine Vier-Mann-
Zelle.Die anderen Insassen sagten:
Tach,HerrGeneral,machenSiesich
keineSorgen,wirpassenaufSieauf.
InderNachbarzellesaßSchabowski.

HattenSiemitihm Kontakt?
Ja,fast jedenAbend haben wir
über die politische Lage diskutiert.
Schabowski ist dann aber schon im
Septemberwiederentlassenworden,
ichein Jahrspäter ,aufBewährung.

Washaben Sienach derHaftentlas-
sunggemacht?
Als Fenster-und Türenverkäufer
in Friedrichsfelde gearbeitet. Ich
hattekeineAhnungvonFensternund
Türen, ich wusste,wie man sie zu-
macht,aberichhattegelerntzuorga-
nisierenundmitMenschenzuarbei-
ten. Dashat mir Spaß gemacht.Ich
habewenigverdient,1100Euro,das
fehlt mir natürlich heute bei der
Rente.

WievielRentebekommenSie?
1800Euro.

DasGesprächführteAnjaReich.

Berlin, 9. November 1989: Ost- undWest-Berliner feierngemeinsam die Grenzöffnung. CHRISTIAN SCHULZ (2)

WÄHLEN


Wirmüssen mehr experimentie-
ren, um die Demokratie mit Leben
zu füllen, schreibt der Soziologe
Steffen Mau.Seiten4und 5

AUFBRECHEN


Die Intendantin Shermin


Langhoff und der Dichter Durs
Grünbein fragen sich, ob 1989 ein
Aufbruch in die Freiheit war.
Seiten6und 7

VERMIETEN


Vorfast 30 Jahren ersteigerten


zwei Hamburger Künstler eine
Immobilie in Prenzlauer Berg.Gute
Vermieter wollten sie werden.
Seite 8

WOHNEN I


Berlins Stadtentwicklungs-


senatorin Katrin Lompscher über
die demonstrativeWende in der
Wohnungspolitik.Seite 10

WOHNEN II


Michael Zahn, der Chef der


DeutscheWohnen, überPopulis-
mus nicht nur in der BerlinerPolitik

und seine ersteWohnung.


Seite 11


SICH TREU BLEIBEN


Sabine Rennefanz blickt zurück
und dann nachvornund fragt:Was
kann ich meinen Kindernheute für
die Zukunft mitgeben?Seite 12

BESCHLEUNIGEN


Politische Prozessewerden immer
schneller.Mehr Rückkopplung zwi-
schenWählernund Politiker nfordert
Claudius Gros.Seite 13

ANALYSIEREN


Die Ostdeutschen nehmen


Angela Merkel nicht alsAnwältin
ihrer Interessen wahr.Warum?

Die exklusiveDatenanalyse.
Seite 14

Inhalt


LiebeLeserinnen,liebeLeser,


SielesendiezweitevonzweiSonderausgabenderBerlinerZeitung.30Jahre
nachdemMauerfallmöchtenwirunsmitIhnenerinnernundgleichzeitig
nachvorneblicken.Vorallemnachvorne.MitGesprächen,Gedankenund
Herausforderungen.WirwollenunsmitIhnenfragen,wiewiralldieneuen
Mauerneinreißenkönnen,dieunsimJahr2019denWegind ieZukunft
verstellen.UndwirwollenIhnenAntwortengebenindiesenbesonderen
AusgabenIhrerBerlinerZeitung.DieNachrichtendesTagessowiedas
Fernseh-undKinoprogrammfindenSieaufden Seiten37–44.


VielFreudebeimLesenwünschtIhnen
IhreRedaktionderBerlinerZeitung


„Ichdachtenur:


Esdarfkein


Schussfallen“


GünterLeo,ehemaligerNVA-Oberst


undStabschefvomGrenzkommandoMitte,behieltam


9.November1989dieNerven


„Unser egrößte Sorgewar:Was passiert


am BrandenburgerTor? Da waren


OffiziersschülerimEinsatz,diedaserste


Maland er Grenzestanden.“


GÜNTER LEO

...wird 1941 in Emstal,
Brandenburg,geboren,
macht nach der 8. Klasse ei-
ne Lehre zum Dreher und ar-
beitet im Stahl- undWalz-
werk Brandenburg.

.... geht 1959 zur NVA. Ab
Oktober 1961 holt er die
Mittlere Reife nach, später
die Hochschulreife, besucht
die Offiziersschule und die
Militärakademie der DDR.

...wird Adjutant des Stadt-
kommandanten von Berlin,
dannKommandeur eines
Grenzregiments und ab
1989 ErsterStellvertreter
undChefdesStabesdes
GrenzkommandosMitte.Am


  1. September 1990 wirder
    entlassen.


...wird 1997wegen vierfa-
chenTotschlags angeklagt
und zu drei Jahren und drei
Monaten Haft verurteilt.

...ist heute Rentner und
wohnt in Berlin-Karlshorst.
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