Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1

Zeitenwende


2oJ Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019 ·························································································································································································································································································


W


ir treffen uns schon
um achtUhrind en
Räumen desBerliner
Verlags,denn Philipp
Rubach, der eigens für diesesGe-
sprächausAthengekommenist,hat
um kur znach 12 Uhrseinen Rück-
flug.UndOttilieKleinmussanihren
Arbeitsplatz imAbgeordnetenhaus,
wosiefürdieCDU-Fraktionarbeitet.
DiebeidensindgleichbeimDu.


HerrRubach,esgibtdieseGeschichte,
dieSieind erVergangenheithäufiger
erzählt haben.DieGeschichte mit
dem Kaffeetisch.Wollen Siesie noch
einmalerzählen?
PHILIPPRUBACH:InmeinerFa-
milie ist dieTreuhand ein großes
Thema. Also die Abwicklungvon
6500BetriebennachderWende,in-
folgedererüberdreiMillionenMen-
schen imOsten ihrenJobverloren
haben. AmKaffeetisch erzählt mein
Opaimmer wiedervonden west-
deutschenMännern,diedamalsmit
denschwarzenAktenkoffernkamen
unddie Betriebegeschlossenhaben.


IhrGroßvaterwarGeneraldirektorin
einemVEB-Kombinat.
RUBACH:Ichwill das gar nicht
aufseinePersonreduzieren,esgeht
eher darum, was damals systema-
tisch stattgefunden hat.Dashat bis
heute einenEinfluss auf die politi-
sche Entwicklung imOsten.Weil es
beivielendasGefühlgibt,nochim-
mer Menschen zweiter Klasse zu
sein. Daslässt sich auch an Löhnen
und Renten festmachen, die inOst-
deutschland immer noch niedriger
sind als imWesten. Genauso ist die
Nicht-Repräsentanz vonOstdeut-
schen in Führungspositionen ein
großesThemabeiunszuHause.


GibtessoeineinschneidendesThema
bei Ihnen in derFamilie auch,Frau
Klein?
OTTILIE KLEIN:Ja.Meine Eltern
sindals Russlanddeutsche1982unter
großen Schwierigkeiten aus derSo-


wjetunion in die DDR ausgereist.
Dortangekommen musste meinVa-
ter har tdafür kämpfen, dass er mit
meiner Mutter und meinemBruder
nach Westdeutschland übersiedeln
durfte .Trotzaller Repressaliendurch
dieStasikonntemeineFamiliedann
1983 ausreisen.Wenige Monate spä-
terkamichimSchwarzwaldzurWelt.

Wiebewerten Sie, Frau Klein, die
Treuhand und die wirtschaftlichen
Vorgängeab1990?
KLEIN:Ichfinde auch,dass über
die Rolle der Treuhand gesprochen
werden muss .Die Menschen haben
1990, mitten in einer großen gesell-
schaftlichen Aufbruchsstimmung,
gehofft, dass es zu einem zweiten
deutschen Wirtschaftswunder
kommt.Manhatihnenjahrelanger-
zählt,dassdieDDRdiezehntgrößte
IndustrienationderWeltist,wasPro-
paganda war.Natürlich waren sie
dann enttäuscht, als sich heraus-
stellte,dass die DDR pleite war und
lange nicht so entwickelt wie ange-
nommen.DieFrage ist aber auch:

Washätte man anders machen sol-
len?
RUBACH:Esgabjadamalsernst-
haft diskutierte wirtschaftliche Alter-
nativen.DieTreuhand,sowiesieur-
sprünglich mal amrundenTisch ge-
gründet wurde,beruhte eigentlich
aufder Idee,dassmanfüralleDDR-
BürgerAnteilsscheineandenvolksei-
genenBetriebenausstellt.Dassdann
allesgekipptist,hängtvielmitSprin-
gerund HelmutKohlzusammen,mit
denVersprechungenvonblühenden
Landschaften,derD-Mark.
KLEIN: Aber die Betriebe hätten
ja nicht einfach soweitergeführt
werden können.DieDDR hat vor-
wiegend für denOstmarkt produ-
ziert, der größteAbnehmer war die
Sowjetunion.AlsdieimJahr1990zu-
sammenbrach, brach auch ein gan-
zerMarkt weg. DieDDR-Betriebe
warenteilweiseineinemschlimmen
Zustand,sowohlwasdieAusstattung
als auch was denSanierungsbedarf
anging.Welche Produkte hätte man
da herstellen sollen.Undwer wäre
derAbnehmergewesen?

war ja zum erstenMaline iner sol-
chen Situation. Es ging aber nicht
nurum Privatisierung...
RUBACH:Sanieren,privatisieren,
stilllegen.
KLEIN: ...sondernauch darum,
wiemanDDR-Betriebeweiterführen
kann. Es gab auch einenFokus auf
Sanieren, nicht nur aufAbwickeln.
Undesw urdenjanichtalleBetriebe
abgewickelt.Weiterführen war aber
oftkeineAlternative,dennvielePro-
duktehattenkeineAbnehmermehr.
RUBACH:Beschäftige dich mal mit
dem ehemaligen Kali-Bergwerkin
Bischofferode.Wir waren als Auf-
bruch Ostselberdort,habenunsdie
Absatzzahlenangeschaut.Bischoffe-
rode hätte noch über Jahrzehnte
Kali-Salz eexportierenkönnen.Aber
dieKali-Westwolltedasnicht.Dasist
radikaler Kapitalismus aus west-
deutschem Interesse heraus,hat
abernichtsmitGerechtigkeitzutun.
Unddeshalb ist es wichtig, dass wir
als junge,ostdeutscheGeneration
nachfragen:Wiekonnte das passie-
ren?

RUBACH: Es stimmt, es gab etli-
che Betriebe imOsten, die marode
waren, aber es gab auch etliche,die
ohneweitereszutransformierenge-
wesenwären.DieMenschenimOs-
tenhabeneinRechtdarauf,zuerfah-
ren,warumsiedamalsihrenJobver-
loren haben. Ähnlich wie bei den
Stasi-Akten, müsste jederOstdeut-
sche seineTreuhandakte einsehen
können.
KLEIN: DieSperrfrist für die Ak-
ten beträgt 30Jahre. Diehistorische
Aufarbeitungbeginntjaerst.
RUBACH:Mirgehtes ,andersals
Ihnen, nicht darum, dassvonGe-
schichtswissenschaftlernein biss-
chenGeschichteaufgearbeitetwird.
Ichmöchte,dass sich diewestdeut-
sche Öffentlichkeit für die Um-
bruchserfahrungenunddieBelange
desOstensinteressiert.DieKameras,
die vorden Landtagswahlen imOs-
tenwaren,müssenbleiben.
KLEIN:Ichdenkewirkönnenuns
darauf einigen, dass in dieserUm-
bruchphase auch Fehler gemacht
wurden.Auch die Bundesrepublik

Sieerwähntengerade„AufbruchOst“.
KönntenSiedasbitteerklären.
RUBACH: „Aufbruch Ost“ hat
sich imSeptember 2018 in Leipzig
gegründet.Heute sind wir etwa 50
junge ost- und westsozialisierte
Menschen, die sich zusammenge-
fundenhabenundsichmitostdeut-
scher Geschichte auseinanderset-
zen. Wirkritisieren, dass deutsche
Geschichte in derRegel westdeut-
scheGeschichteist.DieseSprachlo-
sigkeit wollen wir überwinden und
Wortedafürfinden,wasindenletz-
ten 30 Jahren in Ostdeutschland
stattgefunden hat.Denn meineGe-
neration oderMenschen, dierund
zehn Jahreälter sind, hatten eigent-
lichkeineOrientierung.Esgabkeine
Eltern,Lehrerodersonstwen,dieei-
nemerklärenkonnten,washierpas-
siertist. Als junge Ostdeutsche
mussten wir uns dieWelt selbst er-
schließen.
KLEIN: Dasverstehe ich jetzt
nicht. Ja,unsereElterngeneration
hatdengroßenUmbrucherlebt.Al-
les hat sich innerhalbweniger Wo-
chen geändert, dasBildungssystem,
die Jobs,einfach alles.Aber unsere
Generation hat doch alle Möglich-
keiten.
RUBACH: Ichspreche davon,
dassdieElterngenerationkeineOri-
entierung geben konnte,weil sie
diese Umbruchsituation ja erst ein-
mal selbst meisternund in einem
komplett neuenSystem ankommen
musste.
KLEIN:AuchmeineElternhaben
ineinemanderenSystemgelebtund
musstenUmbrüchebewältigen.Die
JungensindaberinderBundesrepu-
blikgeborenundaufgewachsen.

Aber wirkt es nicht auf einen jungen
Menschen ein, wenn man zutiefst
verunsicherteEltern undGroßeltern
hat?WieeineArtFamilien-Trauma?
RUBACH:Dasistsogareingesell-
schaftlichesTrauma.
KLEIN: Daswill ich nicht inAb-
redestellen.

BERLINER ZEITUNG/PAULUS PONIZAK (2)

„chwillnicht


gesamtdeutschdenken“


erktivist+hilippRubachunddie
U-+olitikerinOttilieKlein


diskutierenüberorientierungslose
ltern,dieMachtder0reuhand


unddieLehrenausderwriedlichenRevolution


OTTILIE KLEIN

...wird 1984 inVillingen-Schwen-
ningengeboren.

...studiertinBonnundanden
US-CollegesOxfordundMount
HolyokeNeuereGeschichte,
Politikwissenschaftund
Nordamerikastudien und promo-
viertschließlich 2016 binational
an den Universitäten von Gießen
und Helsinki in Literaturwissen-
schaften.

...ist die Mitgliederbeauftragte
der Berliner CDU und leitet das
Büro desFraktionsvorsitzenden
im Berliner Abgeordnetenhaus.

PHILIPP RUBACH

...wird 1996 inWeimar geboren,
er wächst in Dresden auf und stu-
diertSonderpädagogik in Leip-
zig.Derzeit lebt er als Erasmus-
Student in Athen.

...2018 gründet er mit anderen
jungen Ost- undWestdeutschen
die Bewegung „Aufbruch Ost“.
Ihr Ziel ist es, den Osten stärker
auf die Agenda zu setzen.

...und seine Initiative wünschen
sich für Ostdeutschland einen
Aufbruch jenseits vonPegida und
AfD,der an die Stimmung von
1989 anknüpft.
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