Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1

Zeitenwende


Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019 3 *·························································································································································································································································································

D


reißigJahrenachdemdie
Grenzeverschwunden
ist, die sie bewachen
sollten, sind sie noch
einmalzusammengekommen.Sol-
datenundihreKommandeure,Offi-
ziersschüler und ihreAusbilder,ein
Veteran der erstenStunde ist dabei,
ein KommandochefvomBranden-
burger Tor, einstellvertretenderVer-
teidigungsminister.
In Brandenburgscheint die
Sonne,vor der Landkost-Arena in
BestenseefülltsichderParkplatzmit
VWPolosund Nissans,einWartburg
ist auch dabei. Männer steigen aus,
sie tragen Anzüge und Aktenta-
schen,einigesogarihrealtenUnifor-
men, und begrüßen sich wie
Freunde,die sich lange nicht gese-
henhaben:„Wiegeht’s,Genosse?“
DieArbeitsgruppe Grenzelädt
zum 34. Grenzer-Treffen ein. Es ist
wie eine Szene aus einem dieser
Filme,die jetzt zur Erinnerung an
das Mauerfalljubiläumim Fernse-
hen laufen, eine Welt, die unterge-
gangenist.
AnderTürkontrollierenMitglie-
derder„GruppeEinlass“dieAnwe-
senheit.In der Halle,inder sonst
Sportwettkämpfestattfinden,sind
langeTischeaufgebautwieaufeiner
Konferenz. Vorden Sprossenwän-
denstehtdieTribüne,vordenKlet-
terstangenwerden Souvenirs ver-
kauft, NVA-Souvenirs.Eine original
Schützenschnurkostet sechs Euro,
ein„ÄrmelemblemFähnrich“ acht.
Um 9.30 Uhrsoll es losgehen,um
9.31 Uhrruft es vonder Bühne:
„Bitte setzen Siesich! Wirfangen
pünktlichan.“
DieMännerlaufenzuihrenPlät-
zen, es geht nicht mehr so schnell.
DerJüngsteistAnfang60,derälteste
fast100.ZumAnfangwirddenKran-
keneinGrußausgerichtetundandie
Verstorbenen erinnert. Dann er-
klingt die Nationalhymneder DDR:
„Auferstandenaus Ruinen und der
Zukunftzugewandt,lassunsdirzum
Gutendienen,DeutschlandeinigVa-
terland“.Eine wunderbareHymne.
Ab1972durftesienichtmehrgesun-
gen werden, ab 1990 wieder.Die
Männerstehen vorihren Stühlen
und singen mit, alle drei Strophen.
Es ist einer dieser seltsamenMo-
mentediesesseltsamenTreffens,das
manchmalan einen SED-Parteitag
erinnert, manchmalan ein Vertrie-
benen-Treffen und manchmal an
eineTherapiegruppe.


Mankönntesichleichtdarüberlustig
machen, über diesesTreffen, über
die Männer mit ihren alten Orden
am Revers,die für eines der
schlimmstenKapitel der DDR-Ge-
schichtestehen,eineGrenze,ander
auf Menschen geschossen wurde,
dieihrLandverlassenwollten.
Aber zu derGeschichte gehört
auch ihrEnde.Und da geschah et-
was,wasbisheuteeigentlichunvor-
stellbarist:DiegleichenMänner,die
jahrzehntelang mit Stacheldraht,
Selbstschussanlagen und Schießbe-
fehl eine 1400 Kilometer lange
Grenzeverteidigt hatten, traten zur
Seite,ließen die Leute durch.Kein
Schussfiel,niemandwurdeverletzt.
Für einen kurzenMoment lang
schienen sie sich nahe zu sein, auf
der gleichenSeite zu stehen,Men-
schen, dieraus wollten, undMen-
schen, die sie daran gehinderthat-
ten, Staatsfeinde und ihrePeiniger,
ungeduldigeDDR-Bürgerundüber-
rumpelteDDR-Grenzer.


DieBilder diesesMomentes gin-
gen um dieWelt, aber in dieGe-
schichtsschreibung schafften es nur
die Ungeduldigen, nicht die Über-
rumpelten.DieverlorenihreDienst-
grade und ihreArbeit, wurdenvor
Gericht gestellt und zurVerantwor-
tung ge zogen. DieMauerschützen
kamen meist mitBewährungsstra-
fendavon,ihreKommandeurewur-
denzudreibisfünfJahren Haftver-
urteilt.
In dieser Zeit, Mitte der Neunzi-
gerjahre,fandendieerstenGrenzer-
Treffenstatt.Anfangsgingesvoral-
lem um juristischeUnterstützung,
späterumdasGefühl,ungerechtbe-
handelt zuwerden –verteufelt,ver-
gessen, verstoßen.Sietrafen sich in
Potsdam, Königs Wusterhausen,
Schwerin,Stendal,Perleberg, Erfurt,
Plauen, luden ehemalige Grenzer
aus Tschechien undPolen ein und
DDR-Politiker,die ihr eVersion der
Geschichte teilten.Hans Modrow,
Werner Eberlein, Egon Krenz.Ihre
Gruppe,ihreTreffen gaben ihnen
Halt,hiergingdasLebenweiterwie
untereinerZeitglocke.
„Meine Heimat“, singt dieSinge-
gruppe RotfuchsinBestensee.Dann
kommen dieReden, und auch die
scheint man bereits zu kennen.Der
Mauerbau ist wieder die„Sicherung
derStaatsgrenze“,dieinnerdeutsche
Grenzeder „antifaschistische
Schutzwall“,dieBundesrepublikdas
Land,indem1956dieKPDverboten
wurde ,„eineFortsetzungdesDritten
Reiches“, die Wiedervereinigung
eine „Konterrevolution“. DieGe-
schichtewirdgedrehtundgewendet,
bissieindasWeltbildderaltenMän-
ner passt.Manchmal tun sie einem

leid, diese Männer,manchmal ist
man froh, dass sie unter sich sind,
manchmal fragt man sich, was ge-
worden wäre, wenn man ihnen da-
mals,vor 30 Jahren, die Chance zur
Veränderunggegebenhätte.
Manmag es kaum glauben, aber
esgabdieseChance,esg abAnsätze
vonReformen, auch in denGrenz-
truppen.DerMann, der davon be-
richten kann, öffnet fünfTage vor
dem Grenzer-T reffen dieTür zu sei-
nem Haus in Schöneiche,einer an-
deren Brandenburger Kleinstadt,
und nimmt in seinemWintergarten
Platz, „dem einzigen hellenRaum
umdieseJahreszeit“,wieersagt.
Artur PechwuchsinFrankfurtan
derOderaufundgingalsKindoftin
dasKinoder Grenzeinheit.DieFilme
gefielen ihm, die Soldaten waren
seine Freunde,seine Vorbilder.Er
diente an derGrenzewie sie ,stu-
dierte Philosophie,wurde Ausbilder
in der Militärakademie Dresden.
SeineAufgabewares,Offiziersschü-
lernzue rklären, warum ihrEinsatz
an der Grenzenotwendig ist.Das
Problem war nur,dass er irgend-
wann selbst nicht mehr daran
glaubte.Erk onntedieGeschichteer-
läutern,dasEndedes ZweitenWelt-
kriegs ,die Besatzungszonen, die
Währungsreform,dieGründungder
beiden deutschenStaaten, dieMas-
senfluchtausdemOstenindenWes-
ten,den Mauerbau,dieKriegsgefahr.
Aber nicht, warum 25Jahrespäter
immernochMenschen,dieihrLand
verlassen wollten, wie Kriegsgegner
behandelt wurden, obwohl gar kein
Kriegherrschte.
1986fingeran,seineZweifelinei-
ner Forschungsarbeit aufzuschrei-

ben. Vier Jahrezuvor ,am2 5. März
1982,warinderDDReinGesetzver-
abschiedet worden, in dem „die
Schusswaffefür Maßnahmen ge-
rechtfertigt wurde,diesich demäu-
ßerenAnscheinnachalsVerbrechen
darstellen“.
Auch das verstand er nicht.Was
hieß überhaupt Verbrechen? Und
wie solltenGrenzer imBruchteil ei-
ner Sekunde beurteilen, ob ein
Flüchtling eineStraftat begeht oder
nicht,wennsiegarnichtdieGründe
fürdie Fluchtkennenkonnten?
DreiJahrelangstudiertePechdie
Unterschiede zwischenVölker-und
Kriegsrecht, beschäftigte sich mit
UN-KonventionenundFluchtstatis-
tiken. AmEnde kam er zu derEr-
kenntnis,die DDR-Staatsgrenze
sollenichtmehrvonderArmee,son-
dernder Polizei bewachtwerden.
Ohne Maschinenpistolen, ohne
Schießbefehl,wieeinganznormaler
Staatin Friedenszeiten.

Als seinVorgesetzterseineArbeitlas,
imFrühjahr1989,schlugerPechvor,
weiterzuforschen,eineDoktorarbeit
daraus zu machen.Aber das Leben
warschnelleralsdieForschung.Im-
mermehrMenschenflüchtetenüber
UngarnunddieCSSRindenWesten,
derDruckaufdieRegierungwuchs.
ImJanuar1989verpflichtetesich
die DDR auf der KSZE-Tagung in
Wien, „dasRecht eines jeden auf
Ausreise (...) uneingeschränkt zu
achten“.Am3.April1989wurdeder
Schießbefehl abgeschafft. Als Artur
Pech mit seiner Doktorarbeit be-
gann,imSommer1989,zogenKom-
mandeuredurchs Land, um ihren

Soldaten zu erklären, was das be-
deutete.
HerbertPrauß, der dritteRedner
beim Grenzer-T reffen in Bestensee,
war damals einer dieserKomman-
deure. Er trägt ein kariertesHemd,
ein Cordsakko und eine Lesebrille
aufder Nasenspitze,abermankann
ihnsichnochgutalsjungenMannin
Uniformvorstellen.Ersagt,esseigar
nicht so einfach gewesen, dieBot-
schaftzuüberbringen.DieSoldaten
mussten jaweiter die Grenzebewa-
chen, trugen immer noch ihreKa-
laschnikows,sollten immer noch
Flüchtlingeaufhalten.
Einer der Soldaten fragtePrauß:
„Aber was mache ich, wenn der
Grenzverletzer schneller ist als ich?
Ichkann ihn doch nicht laufen las-
sen!“EswareinFähnrich,dasglaubt
Prauß noch genau zu wissen, und
auch, was er dem Fähnrich antwor-
tete:„Ja“,sagteer,„dannmüssenSie
ihnlaufenlassen.“
Seine Stimme zittertein wenig,
man merkt ihm dieAufregung an,
heutenoch.Mankannsichplötzlich
vorstellen,wasesfürdenKomman-
deurbedeutethabenmuss,allesin-
fragezustellen,wasihmjahrzehnte-
lang eingetrichtertworden war:
Feindbilder,Überzeugungen, Be-
fehle.Prauß er zählt voneiner De-
monstration in Sonneberg, wie
wichtig es ihm war,dieWaffenkam-
mer zu beschützen, damit es fried-
lichbleibt,undwiespäterMenschen
zumGrenzzaunliefen,hinundwie-
der zurück, einfach so.„Manmuss
sichmal vorstellen,wieunszumute
war! Waswärepassiert, wenn einer
dieNervenverlorenhätte?“DerSaal
klatscht, derRedner ist rotimG e-

sicht. Er ruft: „Alle ,die heute groß-
spurig vonder friedlichenRevolu-
tion sprechen,vergessen, dass auch
wirunserenAnteildaranhaben.“
Wieder gibt esApplaus, wüten-
denApplaus.Die Rolle der Grenzer
im November 1989 ist der wunde
Punkt, derGrundfür di eVerbitte-
rung, auch noch 30Jahredanach.
DieMänner hier sind nicht auf die
Straße gegangen, haben keine
Mahnwachen gehalten und die
Grenzegestürmt.Abersiehabenan
jenem 9. November 1989, als die
Mauerfiel, nicht geschossen, nie-
mandwurdeverletzt,niemandgetö-
tet. Manchmal habe er den Ein-
druck, sich dafür entschuldigen zu
müssen,sagtHerbertPrauß.

Artur Pech sagt,er habe immer nur
gedacht:„Hoffentlich dreht keiner
durch.“NichtnurimNovember’89,
auch in den Wochen undMonaten
danach.„Die Truppe war ja immer
noch bewaffnet. Eine Falschmel-
dung hätte gereicht, und der einge-
spielte Mechanismus wäreinGang
gesetzt worden.“ Es waren unge-
wisse Zeiten zwischenSorgeund
Aufbruch. Rainer Eppelmann, ein
ehemaligerPfarrer,wurde Verteidi-
gungsminister,Artur Pech wurde
Mitglied in einem Reformkomitee
der Streitkräfte.ImMai 1990 vertei-
digte er noch seine Doktorarbeit.
Kurz danach wurde die NVAaufge-
löst. Pech gabseine Waffe ab,zog
seineUniformaus,fingnocheinmal
vonvorne an,wurde Unterneh-
mensberater,versuchte,DDR-Be-
triebezuretten.Manchmalgelanges
ihm,manchmalnicht,sagter.
Er wirktnicht verbittert.Das un-
terscheidetihnvondenMännernin
Bestensee. Seine Doktorarbeit ist
2011alsStudienhefterschienenund
kanninderSächsischenLandesbib-
liothek ausgeliehenwerden. Seine
ForschungenüberdieGrenze,findet
er,sind immer noch aktuell, viel-
leichtsoaktuellwienie.Vorallemdie
Erkenntnis,dassman dieProbleme
einerGesellschaftnicht an Grenzen
lösenkann.SogarausdenDDR-Sta-
tistiken könne man heute noch et-
was lernen, sagt er.Die Flüchtlings-
zahlen stiegennicht,wenndie
Grenzsicherung verschärft wurde,
sondernimmernurdann,wennsich
die Lage der Bevölkerung ver-
schlechterte.WurdedieLagebesser,
sankendieZahlen.
Pech, heute Rentner,ist Mitglied
der Linken. Gerade ist er voneiner
Friedenskonferenz in Brüssel zu-
rückgekommen.EsgingumdieEU-
Außengre nzen, um neue Kriegsge-
fahren und darum, wie sichFrie-
densorganisa tionen zusammen-
schließen können. Über die DDR
wurde auch kurzgered et.Einer der
Teilnehmer sagte,ihr wichtigstes
Erbe sei, dass dasganze ehemalige
DDR-Gebiet heute kernwaffenfreie
Zoneist.
ZumGrenzer-T reffen in Besten-
see ist ArturPech nicht gefahren.
Beim letztenMal warernoch da,
diesmalhateresnichtgeschafft.Die
Wahlen in Thüringenstanden vor
derTür,underwarzueinemTreffen
derLinken eingeladen –seinen
neuenKampfgefährten.

Anja Reich
hat die Arbeiterlieder aus
der Schule wiedererkannt.

Berlin, 9. November 1989: DDR-Bürger spazieren durch den offenen Grenzübergang am Checkpoint Charlie. CHRISTIAN SCHULZ

SICH ÄHNELN


Was30Jahre nach 1989


mehr denn je fehlt, ist einVer-


ständniswechselseitiger Durch-


dringung,schreibt HarryNutt.


Seiten 15


VORANSCHREITEN


Die Digitalisierungverändertdie


Arbeitswelt massiv.InF rankfurt


(Oder) können Gründer ihre Zu-


kunft gestalten.Seite 16


KAUFEN


Modemacher Michael Michalsky
debattiertmit zwei Slow-Fashion-
Aktivistinnen über nachhaltigen
Konsum.Seiten 18–

SICH ERINNERN


Wiewar das damals?


Michael Gorbatschowund sein


ehemaliger BeraterAndrej Grat-
schowerzählenvomHerbst 1989.
Seite 22

SIEGEN


Olympiasieger RobertHarting über
Ungerechtigkeit als Motivation und
eine neue Haltung zum Leistungs-

sport.Seite 23


SEHEN


Der RegisseurPeter Kahane


(„DieArchitekten“) über das Ende
der DDR und die Schwierigkeit,
vonder Diktatur zu erzählen.
Seiten 24–

LERNEN


DerAktivist Philipp Rubach und
die CDU-Politikerin Ottilie Klein

diskutieren über Lehren aus der
friedlichen Revolution.

Seiten 28 und 29


BAUEN


Senatsbaudirektorin Regula Lü-
scher und derArchitekt Martin Ma-
leschka über die Bedeutung der
Ost-Architektur.Seiten 30–

SICH VERTRAGEN


Russen und Deutsche
30 Jahre nach demFall der
Mauerfall–die Geschichte ei-
nerAnnäherung.Seite 33

ÜBERLEBEN


Der ForscherJoachim


Schellnhuber über die


Klimakrise und die Bequem-
lichkeit der Menschen.
Seiten 34 und 35

AUSBLICK
Essays, Reportagen, Interviews –
was Sie in denkommenden
Wochen in der Berliner Zeitung
erwartet.Seite 36

VonAnja Reich


Alle Gespräche
und Reportagen

auf
berliner-zeitung.de

Kurzvordem30.JahrestagdesMauerfallstreffensichinBestenseeehemalige


DDR-GrenzerunderzählensichihreVersio nderGeschichte


DieÜberrumpelten

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